Einleitung

Die gemeinsame Betreuung alterstraumatologischer Patienten durch Unfallchirurgen und konservativ altersmedizinisch qualifizierte Ärzte kann die Sterblichkeit dieser Patienten in der Akutphase verringern und das langfristige Behandlungsergebnis verbessern. In einer kürzlich erschienenen Originalarbeit stellten die Kollegen der Medizinischen Hochschule Hannover eindrucksvoll ihre Ergebnisse dar [3]. An der dortigen interdisziplinären alterstraumatologischen Visite (ATV) nahmen neben den behandelnden Unfallchirurgen „eine Pflegekraft, eine Assistenzärztin aus der Inneren Medizin, ein Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie, eine Fachärztin des Antibiotic-Stewardship(ABS)-Teams, ein Assistenzarzt aus der Klinischen Pharmakologie sowie eine Case Managerin teil“ [3]. Als eine Limitation ihrer Untersuchung nannten die Kollegen, „dass für kleinere bzw. nichtuniversitäre Kliniken eine interdisziplinäre alterstraumatologische Visite aufgrund des hohen Zeit- und Personalaufwands schwierig umsetzbar ist“ [3]. Mit dem folgenden Bericht wollen wir veranschaulichen, dass auch unter den Bedingungen der Regelversorgung eine patientengerechte interdisziplinäre Betreuung unserer multimorbiden Patienten erreichbar ist.

Rahmenbedingungen

Die interdisziplinäre ATV fanden seit 2019 2‑mal wöchentlich statt und dauerten in Abhängigkeit von der Zahl der betreuten Patienten 1,5–3 h (Tab. 1). In diesem Zeitkorridor wurden 12 bis 20 Patienten visitiert. Immer nahmen sowohl ein Oberarzt der Unfallchirurgie als auch ein Oberarzt der Geriatrie (Neurologe oder Internist mit abgeschlossener Weiterbildung Geriatrie) teil. Ein Neurologe war zusätzlich Infektiologe (Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie). Wenn möglich, war auch der den Patienten betreuende Assistenzarzt anwesend. Der Assistenzarzt war bei ca. 60 % der visitierten Patienten anwesend. Weitere Personen wurden persönlich oder telefonisch bei Bedarf hinzugezogen (insbesondere betreuende Pflegekräfte, pflegerische Wundmanager, behandelnde Krankengymnasten, Ergotherapeuten und Logopäden, Nephrologe, Endokrinologe, Kardiologe, Gastroenterologe, Onkologe, Mikrobiologe, Pharmakologe und Sozialdienst).

Tab. 1 Änderungen in der Betreuung der alterstraumatologischen Patienten durch die Einführung der alterstraumatologischen Visite (ATV)

Die ATV begannen pünktlich montags und donnerstags um 8:30 Uhr mit einer Verzögerung von maximal 15 min, bei Personalmangel fand nur eine Visite/Woche statt. Die Dokumentation übernahm der Assistenzarzt bzw. in seiner Abwesenheit ein Oberarzt; die Änderungen der Medikation übernahm ein Oberarzt. Die für die ATV verbrauchten Ressourcen wurden nicht im Stellenschlüssel des Krankenhauses berücksichtigt. Die ATV wurden in unserer Klinik zu Beginn des Jahres 2019 (d. h. vor dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 22.11.2019) eingeführt aufgrund des Wunsches der beteiligten Fachabteilungen, enger zu kooperieren. Die ATV erfreut sich großer Beliebtheit bei Blockpraktikanten und PJ-Studenten. Die Teilnahme der den Patienten betreuenden Pflegekraft konnte bisher nicht umgesetzt werden.

Ziele

Die Visite dient sowohl der Vervollständigung der Diagnostik als auch der Optimierung der medikamentösen und nichtmedikamentösen Therapie (Infobox). Folgende Themen werden bearbeitet:

  1. 1.

    Ist der Sturzmechanismus klar? Wenn der Sturzmechanismus unklar ist oder dem Sturz ein Bewusstseinsverlust zugrunde liegt:

    • Hat der Patient ein Herzgeräusch? Wenn ja, wird ein Echokardiogramm zur Abklärung angemeldet.

    • Gibt das EKG einen Hinweis auf die Sturzursache (z. B. atrioventrikulärer Block)? Wenn nein, wird ein 24-h-EKG veranlasst.

    • Ist der Blutdruck des Patienten zu straff eingestellt bzw. spontan sehr niedrig (Diagnose durch wiederholte Blutdruckmessungen, ggf. 24-h-Blutdruckmessung)?

    • Ist durch seitengetrennte Messung des Blutdrucks ein Subclavian-Steal-Syndrom ausgeschlossen? Bei einer Blutdruckdifferenz zwischen dem rechten und linken Arm ≥ 20 mm Hg systolisch oder diastolisch wird eine Duplexsonographie der hirnversorgenden Gefäße veranlasst.

    • Kann dem Sturz eine orthostatische Dysregulation zugrunde liegen? Wenn ja, führt der Stationsarzt einen Schellong-Test durch.

    • Gibt der Patient Schwindel als mögliche Sturzursache an? Wenn ja, wird das Dix-Hallpike-Manöver zur Sicherung/zum Ausschluss eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels durchgeführt.

    • Ist eine gründlichere neurologische Abklärung nötig? Wenn ja, wird ein neurologisches Konsil veranlasst.

  2. 2.

    Erhält jeder Patient nach einem Knochenbruch Vitamin D? Besteht die Indikation für eine darüber hinausgehende spezifische antiosteoporotische Therapie (v. a. Bisphosphonat, Denosumab)? Ist die antiosteoporotische Therapie bereits ohne Knochendichtemessung indiziert? Laut S3-Leitlinie kann bei einem Niedrigenergietrauma und Vorliegen einer proximalen Femurfraktur oder einer singulären Wirbelkörperfraktur 2. oder 3. Grades nach Genant (25–40 % bzw. > 40 % Höhenminderung) oder multiplen Wirbelkörperfrakturen 1. bis 3. Grades nach Genant „in Abhängigkeit von der jeweiligen klinischen Gesamtsituation auf eine Knochendichtemessung verzichtet werden“ [6]. Erlaubt der Zahnstatus bereits einen Beginn der antiosteoporotischen Therapie unter stationären Bedingungen? Wenn ja, raten wir, nach Frakturen, die die oben angegebenen Kriterien erfüllen, bereits stationär mit der spezifischen Therapie zu beginnen.

  3. 3.

    Erhält der Patient eine adäquate Schmerztherapie? Aufgrund der Verminderung der Nierendurchblutung (kritisch insbesondere bei eingeschränkter Nierenfunktion, gleichzeitiger Gabe von Angiotensin Converting Enzyme(ACE)-Hemmern/Sartanen und Diuretika) und der Erhöhung des Risikos gastrointestinaler Blutungen sollen nichtsteroidale Antiphlogistika und Cyclooxygenase(COX)-2-Inhibitoren im Alter möglichst vermieden werden [9].

  4. 4.

    Erhält jeder Patient nach höhergradigem Blutverlust Eisen? Eine Metaanalyse bei proximalen Femurfrakturen zeigte, dass eine Eisensubstitution sowohl die Häufigkeit als auch das Volumen von Bluttransfusionen zu reduzieren half [1]. Sind andere Anämie-Ursachen ausgeschlossen? Bei geriatrischen Patienten sind ein Vitamin‑B12- oder/und Folsäuremangel häufig. Diese Vitamine müssen bei Mangel substituiert werden. Die Aufnahme von Vitamin B12 wird durch die Gabe von Metformin oder Protonenpumpenhemmern verringert [7].

  5. 5.

    War der Patient vor dem Trauma antikoaguliert (Vorhofflimmern, künstliche Herzklappe, tiefe Venenthrombose u. Ä.)? Wie dringlich ist die Fortsetzung der Antikoagulation? Oder muss eine Antikoagulation neu begonnen werden (z. B. neu detektiertes Vorhofflimmern)? Wann soll die orale Antikoagulation (wieder)aufgenommen werden? Wie intensiv soll sie erfolgen? Ist die Dosis korrekt (insbesondere bei Gabe von direkten oralen Antikoagulanzien)?

  6. 6.

    Ist eine Herzinsuffizienz adäquat therapiert? Bei der Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion besteht die leitliniengerechte Therapie aus a) ACE-Hemmer, Sartan oder Sacubitril/Valsartan, b) adrenergem β‑Blocker, c) Spironolacton oder Eplerenon und d) einem Gliflozin („Sodium-glucose-linked-transporter[SGLT]-2“-Hemmer). Gliflozine sind mittlerweile zur Behandlung der symptomatischen chronischen Herzinsuffizienz unabhängig von der Auswurffraktion zugelassen. Ist ein Diuretikum zur symptomatischen Therapie nötig?

  7. 7.

    Besteht eine Hyponatriämie? Ist sie abgeklärt, wird sie ausreichend behandelt [2]? Ist eine Nebennierenrindeninsuffizienz oder eine Hypophysenunterfunktion ausgeschlossen? Da Thiaziddiuretika häufiger eine Hyponatriämie verursachen als Schleifendiuretika [5], sollen Thiazide Patienten nach einer medikamenteninduzierten Hyponatriämie nicht weitergegeben werden. Ist eine evtl. Hypokaliämie adäquat therapiert? Sie kann lebensbedrohliche tachykarde Herzrhythmusstörungen auslösen. Eine Hyperkaliämie kann bradykarde Herzrhythmusstörungen verursachen. Sie wird oft durch die gemeinsame Gabe von ACE-Hemmer oder Sartan plus Spironolacton oder Eplerenon verursacht. Bei der selteneren Hyperkalzämie muss an einen primären Hyperparathyreoidismus oder eine Tumorerkrankung gedacht werden! Hypokalzämien sind dagegen meist Folge der bei vielen Patienten bestehenden Hypalbuminämie.

  8. 8.

    Sind die Pharmaka bei Niereninsuffizienz korrekt dosiert [10]? In einer Untersuchung in deutschen Altersheimen erhielten 19,7 % der Patienten mindestens ein Medikament, welches inadäquat dosiert oder welches wegen der eingeschränkten Nierenfunktion kontraindiziert war [4].

  9. 9.

    Erhalten Lungenkranke eine korrekte inhalative Medikation? Ist der Patient in der Lage, die verordneten Inhalatoren zu bedienen, benötigt er hierfür Hilfe oder benötigt er z. B. aufgrund seiner geringen Kraft der Atemmuskulatur einen anderen Inhalator [11]?

  10. 10.

    Sind häufige internistische und neurologische Erkrankungen (Polyneuropathien, demenzielle Syndrome, M. Parkinson, epileptische Anfälle und Epilepsie) ausreichend diagnostiziert und therapiert? Besteht während des jetzigen stationären Aufenthalts Handlungsbedarf?

  11. 11.

    Ist der Einsatz von Psychopharmaka angemessen? Gibt es eine Indikation für ggf. verabreichte Neuroleptika? Ist die Gabe eines Antidementivums indiziert?

  12. 12.

    Nimmt der Patient weitere potenziell inadäquate Medikamente ein (Überprüfung anhand der PRISCUS- und FORTA-Liste) [8]?

  13. 13.

    Ist die nichtmedikamentöse Therapie (Physio- und Ergotherapie, Logopädie, Psychologie, Seelsorge) für den Patienten angemessen und ausreichend?

  14. 14.

    Ist die rehabilitative Behandlung eingeleitet und die Weiterversorgung des Patienten nach Entlassung geklärt?

In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit können oft nicht alle diese Fragen geklärt werden, sondern müssen ggf. dem den Patienten betreuenden Stationsarzt übertragen werden. Nötige Telefonate mit dem Hausarzt bzw. mit Angehörigen werden ebenfalls vom Stationsarzt übernommen. Die gemeinsame Visite durch einen Unfallchirurgen und einen Geriater stellt somit die Minimalvariante der ATV dar.

Erste Ergebnisse anhand von Routinedaten der Qualitätssicherung

Anhand von für externe Qualitätssicherungsmaßnahmen erhobenen Routinedaten (QS-Monitor, Fa. Dedalus®, Bonn, Deutschland; Landesarbeitsgemeinschaft Niedersachsen zur Qualitätssicherung in der Medizinischen Versorgung) von den in unserem Haus operativ behandelten Patienten ≥ 65 Jahre mit hüftnahen Frakturen (Osteosynthesen und Endoprothetik) verglichen wir die Häufigkeit von kardialen Komplikationen (insbesondere Dekompensation einer Herzinsuffizienz) und die Pneumonierate während der Akutbehandlung in den Jahren 2017 und 2018 (vor Einführung der ATV, n = 484, mediane Liegedauer in Unfallchirurgie plus Akutgeriatrie 21 Tage) mit den entsprechenden Daten der Jahre 2019 bis 2021 (nach Einführung der ATV, n = 646, mediane Liegedauer 16 Tage) (Abb. 1). Die ATV führte zu einer Halbierung der vorwiegend medikamentös bzw. durch Flüssigkeitsmanagement verhinderbaren kardialen Komplikationen. Für andere erfasste Komplikationen (Pneumonie, tiefe Bein‑/Beckenvenenthrombose, Lungenembolie, katheterassoziierte Harnwegsinfektion, Schlaganfall, akute gastrointestinale Blutung und akute Niereninsuffizienz) fanden sich keine signifikanten Differenzen. Die Gesamtsterblichkeit während der Akutbehandlung sank.

Abb. 1
figure 1

Analyse der Komplikationen von Patienten mit hüftgelenknahen Frakturen ≥ 65 Jahre während der Akutbehandlung anhand von zur externen Qualitätssicherung erhobenen Routinedaten. Die regelmäßige Durchführung alterstraumatologischer Visiten führte zu einer Halbierung der vorwiegend medikamentös bzw. durch Flüssigkeitsmanagement verhinderbaren kardialen Komplikationen von 8,5 auf 3,7 % (p = 0,001, zweiseitiger Fisher’s Exact Test). Demgegenüber stieg die Pneumonierate geringgradig an (von 3,7 auf 4,5 %, p = 0,55, zweiseitiger Fisher’s Exact Test). Dies führen wir auf eine erschwerte Mobilisierung und geringere Intensität krankengymnastischer Behandlungen während der COVID-19-Pandemie zurück. Die Letalität bis zur Entlassung sank von 9,5 auf 5,6 % (p = 0,015, zweiseitiger Fisher’s Exact Test). Bei einem p-Wert < 0,05 wurde von einer statistisch signifikanten Differenz ausgegangen

Infobox Checkliste alterstraumatologische Visite (ATV)

  1. 1.

    Sturzmechanismus abgeklärt?

  2. 2.

    Vitamin-D-Substitution begonnen? Besteht Indikation für eine spezifische antiosteoporotische Therapie?

  3. 3.

    Schmerztherapie adäquat?

  4. 4.

    Eisen‑, Vitamin‑B12- oder Folsäuresubstitution nötig?

  5. 5.

    Indikation für Antikoagulation? Wann wiederaufnehmen/neu beginnen? Dosis korrekt?

  6. 6.

    Herzinsuffizienz? Adäquat therapiert?

  7. 7.

    Elektrolytstörungen? Abgeklärt, adäquat behandelt?

  8. 8.

    Pharmakadosierung an Nierenfunktion angepasst?

  9. 9.

    Inhalative Medikation bei Lungenkranken korrekt? Kann der Patient die Inhalatoren bedienen?

  10. 10.

    Häufige internistische und neurologische Erkrankungen ausreichend diagnostiziert und therapiert?

  11. 11.

    Einsatz von Psychopharmaka angemessen?

  12. 12.

    Weitere potenziell inadäquate Medikamente in der aktuellen Medikation?

  13. 13.

    Nichtmedikamentöse Therapie angemessen und ausreichend?

  14. 14.

    Weitere Versorgung/Rehabilitation geklärt?

Fazit für die Praxis

Auch unter den Bedingungen eines Krankenhauses der Regelversorgung mit begrenzten personellen Ressourcen erscheint eine auf differenzialdiagnostische Abklärung der Sturzursache und Optimierung der medikamentösen Therapie fokussierte gemeinsame alterstraumatologische Visite eines Unfallchirurgen mit einem Geriater von Nutzen für den Patienten.