Der Nachwuchsmangel der Ärzteschaft, insbesondere der Chirurgie, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Eine Zeitlang wurde festgehalten, dass dieser Trend formal zu verzeichnen ist. Dann fing man panisch an, das Thema immer wieder zu beleuchten, die Probleme hervorzuheben und gleichzeitig jedoch weiter auf der Stelle zu treten. Nun gilt es, der aktuellen Situation Rechnung zu tragen und sich mit der nächsten Generation auseinanderzusetzen. Im Jungen Forum O und U (JFOU) beschäftigt sich die Sektion BerufsLEBEN mit dem immer größer werdenden Wunsch nach Vereinbarkeit der beruflichen Tätigkeit und eines Privatlebens, sowie möglichen Lösungsansätzen.

Entwicklung der letzten Jahre

In den letzten 3 Jahrzehnten ist es zu einem Umdenken, auch im Hinblick auf das Arbeitsleben, gekommen. Der Beruf stellt weder den Lebensmittelpunkt dar noch identifizieren sich die jungen Mitarbeiter vorwiegend über ihren Beruf [1]. Obwohl medial oft negativ assoziiert, decken sich die Wünsche und Ansprüche der Generation Y und auch Z erstaunlich gut mit dem ärztlichen Berufsethos, denn für sinnvolle Aufgaben sind die jungen Kolleginnen und Kollegen bereit, mehr zu leisten. „Sie fordern außerdem aktiv einen Sinn für ihre Tätigkeit ein, was ihnen den Namen ‚Generation Why‘ verschafft hat. Insbesondere an diesem Aspekt kann der medizinische Bereich ansetzen und attraktive Anreize bieten“ [2].

Ausgleich durch Arbeiten in Teilzeit

Die Generationen Y und Z wünschen sich eher einen Freizeitausgleich für geleistete Mehrarbeit als die Priorisierung einer steilen Karriereleiter. Die aktuelle Jahresumfrage des Jungen Forum O und U zeigt eine überraschende Zahl in Bezug auf den Wunsch nach Teilzeitarbeit. Nur 24 % der Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung in Orthopädie (O) und Unfallchirurgie (U) schließen das Arbeiten in Teilzeit für sich aus. Der Rest arbeitet schon in Teilzeit, wünscht es sich oder könnte es sich vorstellen (Abb. 1).

Abb. 1
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Statistik zu „Arbeiten in Teilzeit“ aus der Jahresumfrage des Jungen Forum O und U 2022. (Mit freundlicher Genehmigung des JFOU)

Es ist an der Zeit, umzudenken und bei „Vereinbarkeit“ nicht nur von einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sprechen –, sondern den Alltag und das Privatleben als Ganzes neben dem Beruf einzuschließen. Dazu passt, dass die Anzahl Teilzeitbeschäftigter Jahr für Jahr zunimmt und sich trotz häufigem Gegenwind aus der Führungsetage auch modere Arbeitszeitkonzepte durchsetzen.

„Vereinbarkeit“ sollte den Alltag und das Privatleben als Ganzes neben dem Beruf einschließen

„Wir verzeichnen zwar ein leichtes Wachstum bei der Zahl der Ärztinnen und Ärzte, leider reicht dieser Zuwachs aber bei weitem nicht aus, um den Behandlungsbedarf einer Gesellschaft des langen Lebens auf Dauer zu decken. Dieser besorgniserregenden Entwicklung dürfen Bund und Länder nicht länger tatenlos zusehen. Was wir jetzt brauchen, sind eine konsequente Nachwuchsförderung und bessere Ausbildungsbedingungen im ärztlichen Bereich.“ So kommentiert Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), die Ergebnisse der aktuellen Ärztestatistik [3].

Der überwältigende Druck zur Wirtschaftlichkeit aufgrund des Diagnosis-Related-Groups(DRG)-Systems hat verheerenden Einfluss auf das Berufsbild und stellt eine entscheidende Burn-out-Gefahr für die Ärzteschaft dar [4]. Beispielsweise ist nicht allein der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin an der Entscheidung zur Operation oder für die Entlassung beteiligt – sondern man unterliegt Einflüssen von beispielsweise dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung. Rechtfertigungen zu Behandlungszahlen und Effizienz verlangen auch stets die Geschäftsführung, weshalb der Posten als Chefarzt oder Chefärztin zunehmend unattraktiv wird [5]. Um diesem Trend entgegenzuwirken, ist es wichtig, die Wünsche in unserem Fach, die spätestens durch unsere Jahresumfrage deutlich werden, ernst zu nehmen.

Ausgleich durch Arbeiten im Homeoffice

Auch die Möglichkeit, einzelne Stunden oder Tage im Homeoffice arbeiten zu können, sehen 85 % der Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung als Möglichkeit zur Verbesserung ihrer Work-Life-Balance (Abb. 2).

Abb. 2
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Statistik zu „Homeoffice“ aus der Jahresumfrage des Jungen Forum O und U 2022. (Mit freundlicher Genehmigung des JFOU)

Formulierte Wünsche müssen realistisch im Arbeitsalltag umgesetzt werden

Das Thema Homeoffice wird spätestens seit der Coronapandemie heiß diskutiert. Egal, ob man persönlich dafür oder dagegen ist, zeigt die Statistik ganz eindeutig, dass die Mehrheit aller Befragten die Möglichkeit des Homeoffice als Entlastung einschätzt. Das Wichtigste ist, dass Homeoffice nicht als Möglichkeit gesehen wird, zusätzlich zu 100 % Arbeitszeit immer erreichbar zu sein und liegengebliebene Arbeit zu Hause zu erledigen, sondern als echter Ersatz zur Präsenz für definierte Aufgaben, die auch in der Zeiterfassung berücksichtigt werden sollen. Nur, wenn das garantiert ist, würde die Möglichkeit des Homeoffice auch wirklich zu einer Entlastung führen. Es ist eine große Aufgabe, auch verbunden mit rechtlichen Hintergründen und viel Organisation, aber laut der Umfrage auf jeden Fall lohnenswert, wenn man den Wunsch des Nachwuchses respektiert.

Vor allem durch fehlende Anreize im DRG-System fehlt es an Zeit und Geld für eine adäquate Weiterbildung. Es wird ein immenser Druck aufgebaut, auf die Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung, ihre Weiterbildung, aber auch Forschungsvorhaben, im Privaten, in der Freizeit und außerhalb der Klinik selbstständig zu organisieren. Verstärkt durch die COVID-19-Pandemie gab es eine Explosion an digitalen Weiterbildungsseminaren, -Webinaren und -veranstaltungen, die eher abschrecken, als wirklich eine strukturierte Weiterbildung zu unterstützen. Weiterbildung und Forschung ist zur Privatangelegenheit für die Kolleginnen und Kollegen geworden. Es besteht der Wunsch, die operativen Eingriffe pro Monat zu erhöhen, aber auch Weiterbildungsformate an Kunstknochen, Humanpräparaten oder Arthroskopiesimulatoren endlich auch während der Arbeitszeit fest zu etablieren. Wenn sich die Weiterbildungsbedingungen nicht rasch verbessern, werden wir Probleme haben, die aktuell in der Weiterbildung befindlichen Ärztinnen und Ärzte im Beruf zu halten. Die Wünsche sind da, jetzt gilt es, sie ernst zu nehmen und eine Möglichkeit zu finden, sie realistisch in unseren Arbeitsalltag einzubetten.

Ausgleich durch Reisen

Ähnlich wie bei der Teilzeit kann sich überraschenderweise nur gut ein Drittel der befragten Ärztinnen und Ärzte in O und U grundsätzlich nicht vorstellen, ihre Facharztausbildung voll oder teilweise im Ausland zu absolvieren. Der Großteil war schon im Ausland, hat einen konkreten Wunsch oder einen Wunsch, der sich nicht umsetzen lässt (Abb. 3). Das bedeutet nicht, dass zwei Drittel der Kolleginnen und Kollegen in O und U auswandern werden, es zeigt aber sehr deutlich die Bereitschaft, seinen Horizont zu erweitern sowie den Wunsch nach Abwechslung im Laufe der Weiterbildung.

Die geplante Einbettung eines Auslandsaufenthalts in die Weiterbildung ist eine Win-Win-Situation

Es zeigt auch, dass man hierzulande offensichtlich glaubt, dass die Bedingungen im Ausland möglicherweise besser sind und man davon profitieren kann, im Ausland zu arbeiten. Wenn man die Möglichkeit hat, einen Auslandsaufenthalt geplant in die Weiterbildung einzubetten (idealerweise in Kooperation mit dem eigenen Arbeitgeber), wird aus der Idee zu reisen eine Win-Win-Situation. Die Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung haben die Möglichkeit, ihren Horizont zu erweitern und sich weiterzuentwickeln, vielleicht sogar in ihrer Subspezialisierung umzuorientieren und dann die gesammelte Erfahrung zum ursprünglichen Arbeitgeber zurückzubringen. Es wäre naiv zu glauben, dass erhöhter Druck vonseiten des Arbeitgebers dazu führt, dass die Belegschaft ihren Wünschen nicht nachgeht. Wenn permanent nur Druck ausgeübt wird, dass die Kolleginnen und Kollegen auf keinen Fall wegfallen dürfen, weil sonst Dienste nicht besetzt werden, resultiert der große Wunsch nach einem Auslandsaufenthalt in der Kündigung der Stelle und dem Neustart bei einem anderen Arbeitgeber, der dann von der inzwischen erworbenen Auslandserfahrung profitiert.

Abb. 3
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Statistik zu „Weiterbildung im Ausland“ aus der Jahresumfrage des Jungen Forum O und U 2022. (Mit freundlicher Genehmigung des JFOU)

Ausgleich durch Sabbatical

Ein Sabbatical (eine bis zu einjährige, unbezahlte Auszeit von der Arbeit) gilt in vielen Bereichen als Burn-out-Prävention und gängige Methode, sich zu regenerieren und im wahrsten Sinne des Wortes „innezuhalten“. Während ein Sabbatical Verbeamteten und Angestellten des öffentlichen Dienstes rechtlich zusteht, gibt es für Ärztinnen und Ärzte keinen rechtlichen Anspruch darauf [6]. Dennoch ist ein Sabbatjahr oder eine kürzere berufliche Auszeit für Ärztinnen und Ärzte nicht ausgeschlossen. Weil es sich immer um eine unbezahlte Auszeit handelt, besteht zumindest finanziell für den Arbeitgeber kein Nachteil. Da kein rechtlicher Anspruch besteht, muss das genaue Modell im Detail besprochen werden (Sonderurlaub, Lohnverzicht im Voraus, Teilzeitmodell mit aktiv aufgebauten Überstunden, die „abgefeiert“ werden können), und es muss zwingend zu einer Vertragsunterzeichnung kommen, damit es für beide Seiten eine Sicherheit gibt.

Ein Sabbatical gilt in vielen Bereichen als Burn-out-Prävention

Für weiterführende Informationen verweisen wir auf den in Deutsches Ärzteblatt publizierten Artikel von Mirza („Sabbatjahr als Arzt oder Ärztin – Tipps und Modelle“ [6]). Tiefere Einblicke vermittelt der Blog diagnosefernweh.de, der von einem Ärztepaar und Autoren des Buches Vom 24-Stunden-Dienst zum Leben aus dem Rucksack: 2 Ärzte auf Weltreise geschrieben wird [7].

Ein Umdenken ist notwendig

Es ist an der Zeit, unsere tiefsitzende Angst loszulassen:

  • „Was, wenn einer mit dem Teilzeitmodell glücklich wird und dann alle in Teilzeit arbeiten wollen? Dann haben wir irgendwann gar keinen mehr, der die Dienste besetzen kann.“

  • „Was, wenn wir jemandem unbezahlten Sonderurlaub genehmigen und dann alle anderen nachziehen? Dann kommen zu der zunehmenden Elternzeit auch noch die Kolleginnen und Kollegen ohne Kinder mit ihrem Wunsch nach Freizeit durch, und dann arbeitet bald gar keiner mehr.“

  • „Was, wenn wir unsere Kolleginnen und Kollegen darüber informieren, welche Möglichkeiten sie haben, in Teilzeit zu arbeiten, auch wenn sie keine Kinder haben und keine Elternzeit nehmen? Dann können wir das Krankenhaus direkt schließen, weil wir mit dem Personal nicht mehr hinkommen.“

Wenn wir die Ängste und Sorgen durch Optimismus und die Suche nach Chancen ersetzen, sieht die Zukunft schon ein bisschen besser aus. Nur, um ein paar Beispiele zu nennen:

  • Wenn wir den starken Wunsch der Belegschaft nach Teilzeitmodellen ernst nehmen, können wir proaktiv an Lösungen arbeiten, die zum Dienstmodell passen und sie anbieten.

  • Auch wenn einzelne Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeitszeit lediglich um 10 % reduzieren, haben wir in der Summe glücklichere, ausgeglichenere Ärztinnen und Ärzte, und potenziell addiert sich die eingesparte Summe zu einer neuen Vollzeitstelle, die allemal die Belegschaft entlastet. Es reicht, wenn 3 Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeitszeit zwischen 30 und 40 % reduzieren, um wieder eine volle Stelle besetzen zu können – vielleicht sollten wir Ärztinnen und Ärzte ermutigen, ihrem Wunsch nachzugehen und damit das ganze Team zu entlasten.

  • Wenn jede und jeder von uns die eigene Situation ehrlich reflektiert und ein Modell findet, das die eigenen Wünsche am besten erfüllt, werden wir insgesamt eine glücklichere, produktivere und vor allem gesündere Ärzteschaft.

Dabei ist es egal, ob man in Vollzeit arbeitet und als Ausgleich aktiv einem Hobby nachgeht, schöne Reisen unternimmt, die Stelle reduziert oder ein Sabbatjahr nimmt.

Fazit für die Praxis

  • Es gibt viele Möglichkeiten des Ausgleichs in unserem Beruf, die alle sehr unterschiedlich und individuell gestaltet werden können.

  • Wenn man die Zahlen der aktuellen Jahresumfrage ernst nimmt, gibt es keine Alternative, als aktiv daran zu arbeiten, zukunftsträchtige Arbeitsmodelle zu ermöglichen.

  • Jede und jeder Einzelne kann sich Gedanken über die eigene Situation machen. Dieser Beitrag dient als Anstoß. Mitten im Alltagsstress kann man auch kurz den Kopf heben und sich umschauen, nach Möglichkeiten, die der eigenen Vorstellung von einer erfolgreichen Karriere und einem glücklichen Leben entsprechen.