Falldarstellung

Anamnese

Über den Rettungsdienst wurde ein 42-jähriger Patient in der zentralen Notaufnahme (ZNA) einer Klinik der Maximalversorgung vorstellig. Der Patient gab an, bei vorbestehendem Opiatabusus am Morgen des Aufnahmetages ein Fentanylpflaster gekaut zu haben; danach habe er sich benommen gefühlt und sei in seiner Küche zu Sturz gekommen, der genaue Mechanismus war nicht mehr erinnerlich (ca. 06 Uhr). Nach einer Liegezeit von ca. 2 h sei er wieder zu sich gekommen. Zunächst habe er keine Schmerzen verspürt; am Nachmittag seien stärkste Schmerzen im linken Gesäß mit Ausstrahlung in das gesamte linke Bein und schmerzbedingter Bewegungseinschränkung aufgetreten, sodass der Rettungsdienst ca. 10 h nach dem initialen Ereignis alarmiert wurde. Der Patient nahm neben Pregabalin bei chronischen Schmerzen keine weitere Dauermedikation ein. Als einzige Vorerkrankung wurde eine nichttherapierte Hepatitis C angegeben.

Befund

Um 16:59 Uhr erreichte der Patient die ZNA und wurde hier von der aufnehmenden Pflegekraft in die Sichtungskategorie ESI 4 (max. 90 Minuten bis zum ersten Arztkontakt) triagiert. Erstmalig ärztlich beurteilt wurde der Patient um 17:43 Uhr; hier präsentierte er sich wach, vierfach orientiert und kardiorespiratorisch stabil. Bis auf stärkste Schmerzen in linkem Gesäß und Bein wurden keine weiteren Beschwerden angegeben. In der körperlichen Untersuchung zeigte sich die Glutealmuskulatur linksseitig prall elastisch, mit deutlicher Schwellung, massivem Druckschmerz sowie ausgeprägtem passiven Dehnungsschmerz, die periphere Durchblutung sowie die Rekapillarisierungszeit der linken unteren Extremität intakt. In der neurologischen Untersuchung zeigte sich eine Affektion des linksseitigen N. ischiadicus mit einem Ausfall auf Höhe der Kennmuskeln für Segment L4/5, der Großzehenheber mit einem Kraftgrad (KG) nach Janda von 0/5, die Plantarflexion und Dorsalextension des Fußes mit KG 1/5, die Knieflexion und Extension mit KG 3/5, die Hüftflexion und Extension mit KG 4/5. Auch die Sensorik war beeinträchtigt, mit abnehmender Warm-Kalt- sowie Zwei-Punkt-Diskrimination, beginnend auf Höhe des Dermatoms L2 mit Zunahme bis zum Vorfuß; hier zeigte sich eine komplett aufgehobene Diskrimination.

Bei Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom der linksseitigen Glutealmuskulatur wurde unverzüglich eine Computertomographie des Beckens sowie der unteren Extremität mit Gefäßdarstellung durchgeführt. Hier zeigte sich linksseitig ein ausgedehntes gluteales Hämatom mit umgebender Muskelschwellung, welches sich entlang der dorsalen Oberschenkelmuskulatur bis proximal des Kniegelenks erstreckte; eine aktive Blutungsfahne konnte nicht nachgewiesen werden (Abb. 1 und 2). Im Aufnahmelabor konnten erhöhte Retentionsparameter (Kreatinin 2,1 mg/dl, GFR 37 ml/min) sowie Zeichen der Rhabdomyolyse (Myoglobin 19.909 ng/ml, Kreatinkinase >22.000 U/l) festgestellt werden.

Abb. 1
figure 1

Computertomographie der unteren Extremität nach Kontrastmittelapplikation, Frontalebene. Pfeil gluteale Schwellung; Asterisk Hämatom

Abb. 2
figure 2

Computertomographie der unteren Extremität nach Kontrastmittelapplikation, Axialebene. Pfeil gluteale Schwellung; Asterisk Hämatom

Diagnose

Gluteales Kompartmentsyndrom mit Affektion des N. ischiadicus sowie beginnendes akutes Nierenversagen nach traumatischer Rhabdomyolyse.

Therapie

Aufgrund des bereits vorliegenden Ausfalls des N. peroneus links sowie der deutlichen Affektion der restlichen vom N. ischiadicus innervierten Muskulatur stellten wir die notfallmäßige Indikation zur glutealen Kompartmentspaltung sowie zur Neurolyse des N. ischiadicus links. Der Patient wurde mit Dringlichkeitsstufe N1 (nächster frei werdender Saal) für den OP nachgemeldet. Insgesamt sind also zwischen Sturz und operativer Entlastung ca. 13 h vergangen, davon aber mindestens 10 h durch das Liegetrauma bedingt. Noch in der ZNA wurden eine perioperative Volumentherapie begonnen sowie ein Blasendauerkatheter angelegt (Urin rotbraun gefärbt).

Die Operation erfolgte in Allgemeinanästhesie und Rechtsseitenlage. Im Sinne eines Kocher-Langenbeck-Zugangs zur Hüfte wurde zunächst ein bogenförmiger lateraler Hautschnitt über der Glutealmuskulatur durchgeführt und dann in die Tiefe vorgegangen. Es wurden die Faszien der Mm. gluteus maximus, medius und minimus inzidiert. Nach Spalten der Faszien zeigte sich die Muskulatur deutlich hervorquellend und leicht gräulich, erholte sich aber rasch und nahm eine vitale Farbe an. Darauf wurde weiter in die Tiefe präpariert, der N. ischiadicus am Austrittspunkt der Mm. gemelli dargestellt und über eine Strecke von ca. 10 cm neurolysiert; ein Defekt lag nicht vor. Das radiologisch als ausgedehnt beschriebene Hämatom zeigte sich intraoperativ als großteils diffuse Einblutung in die Muskulatur, sodass insgesamt ca. 200 ml ausgeräumt werden konnten. Der vorübergehende Wundverschluss erfolgte über ein Vakuumsystem. Postoperativ wurde der Patient auf eine „Intermediate-care“-Station aufgenommen. Hier wurde bei akutem Nierenversagen, aber noch erhaltener Eigendiurese, eine forcierte Diurese begonnen.

Verlauf

Um einen konstant hohen Volumendurchsatz zu gewährleisten, wurden ein Furosemid- und ein Kaliumperfusor installiert, die Harnproduktion stündlich über den einliegenden Dauerkatheter überwacht. Die Höchstdosierung des Furosemids war zwischenzeitlich 40 mg/h, sodass ein Harnvolumen bis zu 13 l/Tag erreicht werden konnte. Mit Beginn der Volumentherapie wurde auf eine Alkalisierung des Harns durch kontrollierte Zufuhr von Natriumbikarbonat geachtet (Urin-pH >6,5), da hierdurch ein Ausfallen des Myoglobins in den Tubuli und eine strukturelle Schädigung der Niere verhindert werden kann. Zusätzlich erfolgte bei erhaltener Eigendiurese die kontrollierte Gabe von Mannitol über 24 h (Mannitol 20 %, 50 ml/l verabreichtes Volumen).

Es konnten eine rasche Stabilisierung der Retentionsparameter erzielt (Abb. 3) und das angefallene Myoglobin konstant ausgeschwemmt werden (Abb. 4). Am Tag 4 nach Aufnahme erfolgte eine Wundrevision; hier zeigte sich die Muskulatur weiterhin vital und nur noch diskret geschwollen, sodass die Wundfläche mit adaptierenden Nähten verkleinert werden konnte und bis zum definitiven Wundverschluss wieder mit einem Vakuumsystem gedeckt wurde. Die Sensomotorik besserte sich bereits am ersten Tag nach Aufnahme (Großzehenheber mit KG 3/5, Plantarflexion und Dorsalextension des Fußes mit KG 3/5, die Knieflexion und Extension mit KG 5/5, die Hüftflexion und Extension mit KG 5/5, keinerlei sensorische Defizite) und erholte sich bis zum Folgeeingriff vollends (Kraftgrade allseits 5/5). Am 6. Tag nach Aufnahme wurde der Patient auf die unfallchirurgische Normalstation übernommen, die Perfusorentherapie beendet und die Diuretikagabe auf regelmäßige Boli umgestellt. Acht Tage nach der initialen Kompartmentspaltung konnte der problemlose sekundäre Wundverschluss erfolgen; die hierbei eingebrachte Redon-Drainage konnte nach 2 weiteren Tagen entfernt werden. Nach einem Gesamtaufenthalt von 11 Tagen konnte der Patient mit vollständig wiederhergestellter Sensomotorik der linken unteren Extremität, unauffälligen Wundverhältnissen und normwertigen Retentionsparametern in die ambulante Weiterbehandlung entlassen werden; eine Anbindung an eine Substitutionspraxis war bereits vor dem Klinikaufenthalt bestehend, diese wollte der Patient nach Entlassung erneut in Anspruch nehmen.

Abb. 3
figure 3

Verlauf der Retentionsparameter während des stationären Aufenthalts. GFR glomeruläre Filtrationsrate

Abb. 4
figure 4

Verlauf der Rhabdomyolyseparameter während des stationären Aufenthalts

Diskussion

Im Gegensatz zum Kompartmentsyndrom des Unterarms oder des Unterschenkels stellt das gluteale Kompartment eine seltene Entität dar, ist aber ebenfalls als chirurgischer Notfall zu versorgen. Ein gehäuftes Auftreten wird in Fallberichten/Fallserien von Patienten mit Alkohol- oder Opiatabusus nach längerer Immobilisation beschrieben (Tab. 1; [1,2,3,4,5,6]). Weiterhin sind ein Auftreten nach traumatischer Ruptur einer Glutealarterie [7], nach Knochenmarkbiopsie [8] oder auch nach Epiduralanästhesie erwähnt [9, 10]. Trotz der Seltenheit sollte bei passender Anamnese und Klinik differenzialdiagnostisch immer an ein Kompartmentsyndrom gedacht werden, da dessen schnelle Diagnostik und v. a. operative Entlastung zwingend für eine erfolgreiche Therapie des Patienten sind.

Tab. 1 Übersichtsdarstellung Abusus-bedingter Fälle

Da es durch die Minderperfusion der Muskulatur zur Rhabdomyolyse mit Freisetzen von Myoglobin, erhöhten Serumwerten von Kreatinkinase (CK) und nachfolgendem akuten Nierenversagen (Crush-Syndrom) kommt, ist neben der chirurgischen Therapie auch hier eine adäquate Behandlung essenziell [11]. Erstmals beschrieben wurde das Crush-Syndrom 1923 bei Verschüttungsopfern des Ersten Weltkriegs und stellt bis heute eine gefürchtete Komplikation in der Chirurgie und Katastrophenmedizin dar [12]. Der Pathomechanismus der Nierenschädigung ist dabei von zahlreichen Faktoren abhängig, wobei drei Hauptschädigungsmechanismen zugrunde gelegt werden.

Die massive Erhöhung von CK und Myoglobin im Serum hat vermutlich eine direkt toxische Wirkung auf die Tubuluszellen bis hin zur Ausfällung des Myoglobins und zur Ausbildung einer tubulären Obstruktion. Der Zerfall der Skelettmuskulatur bewirkt außerdem eine Hyperkalziämie mit nachfolgender Vasokonstriktion in den afferenten Nierengefäßen und Verminderung der renalen Durchblutung. Durch die freigesetzten Abbaustoffe wird weiterhin eine systemische Acidose begünstigt, welche die beiden vorgenannten Mechanismen unterhält [13].

Konsensleitlinien zur Therapie des Crush-Syndroms existieren nicht. Ziele sind eine Ausscheidung der toxischen Abbauprodukte und die Vermeidung von Sekundärschäden.

Basis der Therapie bildet dabei das „Spülen“ der Niere mit einem hohen Volumenumsatz. Grundvoraussetzungen sind die Installation eines Blasendauerkatheters zum genauen Monitoring der Ausscheidung sowie eine ausreichende Anzahl von i.v.-Zugängen, um dem Patienten Volumen und ggf. Diuretika bzw. weiter notwendige Medikation zuführen zu können. Ziel ist, die Ausscheidung bei mindestens 200–300 ml/h zu halten, wobei gezeigt werden konnte, dass in einem ausgewählten Patientenkollektiv (z. B. ohne vorbestehende Herzinsuffizienz) auch eine Volumenzufuhr bis zu 20 l/Tag möglich ist, um eine Dialyse abzuwenden [14]. Der Einsatz von Schleifendiuretika muss dabei kritisch hinterfragt werden (Ototoxizität, kein Einfluss auf das Outcome bei akutem Nierenversagen [15]), kann im Einzelfall, wie bei oben beschriebenem Patienten, aber für einen hohen Volumenumsatz sehr hilfreich sein.

Positive Effekte scheint eine Alkalisierung des Harns zu haben. Dabei wird der Harn mittels Verabreichung von Natriumbikarbonat alkalisch gehalten (Urin-pH >6,5), um einem Ausfallen des gelösten Myoglobins in den Nierentubuli vorzubeugen. Der arteriell gemessene pH-Wert sollte hierbei 7,5 nicht übersteigen, um Komplikationen wie eine Hypokalziämie durch Auswirkungen auf die Zellmembran zu vermeiden (wichtige Kontrollparameter während der Anwendung von Natriumbikarbonat: Serumbikarbonat, Kalzium, Kalium sowie Urin-pH). Bei adäquater Ausscheidung (>20 ml/h) kann außerdem der Einsatz von Mannitol erwogen werden (1–2 g/kgKG und Tag), das die Diurese zusätzlich steigern kann, ein antioxidatives Potenzial bietet und den intrakompartimentellen Druck reduzieren kann [16]. Hierzu sollte initial eine Testdosis verabreicht werden, bei deren Erfolg die Mannitolgabe fortgesetzt werden kann [17]. Ein suffizientes Monitoring ist hier ebenfalls äußerst wichtig, da sonst Komplikationen wie Hypernatriämie (Flüssigkeit-Shift nach intravasal) und Hyperosmolalität drohen.

Auch wenn im beschriebenen Fall ein Kaliumperfusor (bedingt durch den zeitgleich eingesetzten Furosemidperfusor und somit erhöhte renale Kaliumsekretion) zum Einsatz kam, tritt bei der Mehrzahl der Patienten mit Rhabdomyolyse eine Hyperkaliämie auf [18], die lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen bedingen kann und daher genau kontrolliert (EKG-Monitoring) und adäquat behandelt werden sollte.

Bei Ausbleiben einer adäquaten Urinproduktion, therapierefraktärer Hyperkaliämie oder einem hämodynamisch wirksamen Volumenüberschuss sollte frühzeitig eine Hämofiltration erwogen werden. Hierbei ist zu beachten, dass durch eine konventionelle Hämofiltration keine Elimination von Myoglobin gelingt und spezielle Filtersysteme wie beispielsweise CytoSorb® (CytoSorbents Europe GmbH, Berlin, Deutschland) benötigt werden [19]. Der Einsatz solcher Filtersysteme ist aktuell wenigen spezialisierten Zentren vorbehalten, die Evidenz folglich noch gering.

Fazit für die Praxis

  • Auch wenn das gluteale Kompartmentsyndrom eine seltene Entität darstellt, sollte es bei passender Anamnese und Klinik unbedingt differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden.

  • Die unverzügliche Kompartmentspaltung ist der Schlüssel für ein positives Outcome des Patienten.

  • Eine engmaschige Kontrolle der Diurese, Retentionsparameter und Serumelektrolyte ist unerlässlich; eine Hämofiltration sollte für den Fall einer ausbleibenden Diurese verfügbar sein.