Verlängerungen des Oberarms stellen in der Deformitätenkorrektur eine seltene Operationsindikation dar. In den meisten Fällen werden Längenunterschiede im Alltag durch die gesunde obere Extremität problemlos kompensiert.

Ätiologisch werden angeborene und posttraumatische Oberarmverkürzungen beschrieben. Weitere Ursachen sind septische Folgezustände im Bereich der Wachstumsfugen sowie Wachstumsschädigungen durch Knochenzysten und Enchondromatose [1,2,3,4,5]. Beim achondroplastischen Zwergenwuchs werden Oberarmverlängerungen nach der Verlängerung der unteren Extremitäten durchgeführt [6]. Einerseits bestehen hier schwerwiegende funktionelle Störungen im Alltag, andererseits sind auch die Körperproportionen zu beachten [7].

Längenunterschiede an der oberen Extremität, die mehr als 4 bis 5 cm betragen, stellen heute eine eindeutige Operationsindikation dar ([8]; Abb. 1a,b).

Abb. 1
figure 1

Patient mit 12 cm Armlängenunterschied, der auf eine angeborene Oberarmverkürzung zurückgeht, sowie Bewegungseinschränkung und Schmerzen in der linken Schulter. a Ansicht von vorne, b Ansicht von hinten bei 90° gebeugtem Ellbogen

Eine eindeutige Operationsindikation sind Längenunterschiede >4–5 cm an der oberen Extremität

Die erste publizierte Oberarmverlängerung erfolgte 1978 durch Dick und Tietjen [9]. Bis zur Entwicklung der intramedullären verlängerbaren Implantate wurden Oberarmverlängerungen mithilfe externer Fixateure durchgeführt. Dabei stehen unilaterale Fixateure, Hybridfixateure [10], Ringfixateure [11] oder multiaxiale Systeme [12] zur Verfügung. Komplikationen wie Pin-Infektion, Bruch des Regeneratgewebes, passagäre oder permanente Nervenverletzungen und Pseudarthrosen wurden in der Literatur beschrieben [13]; die angeführten Zahlen bezüglich der Häufigkeit variieren [14, 15].

Implantate

Derzeit stehen zwei Implantate zur Verfügung: Der PRECICE®-Nagel (Fa. Nuvasive Inc., San Diego, Kalifornien) ist als antegrader Tibianagel mit 10°-Biegung und im Durchmesser von 8,5 mm bzw. 10,7 mm verwendbar. In den meisten Fällen wird aufgrund der anatomischen Gegebenheiten des Humerus ein 8,5 mm im Durchmesser haltender Nagel gewählt. Die Längen 195 mm, 215 mm und 230 mm ermöglichen eine maximale Verlängerung von 50 mm. Mit den 245 mm und 275 mm langen Nägeln kann eine Distraktion bis zu 80 mm erzielt werden. Der PRECICE®-Nagel bietet die Option, zu verlängern und zu verkürzen. Des Weiteren handelt es sich um einen Titannagel, der auch eine magnetresonanztomographische Untersuchung erlaubt. Für die Behandlung der Humeruspseudarthrose wurde ein neuer gerader magnetbetriebener Verriegelungsnagel entwickelt. Der vordistrahierte Nagel (PRECICE-UNYTE™-Humerusnagel; Fa. Nuvasive Inc., San Diego, Kalifornien) kann je nach Nagellänge 15 mm bzw. 20 mm initial verkürzt und anschließend bis zu 80 mm verlängert werden.

Als zweites Implantat steht der FITBONE®-Nagel (Fa. Wittenstein Intens GmbH, Igersheim) zur Auswahl. Der kleinste Durchmesser beträgt jedoch 11 mm in den Längen von 163 mm bis 245 mm. Die maximale Distraktion beträgt 80 mm. Dieses Implantat wird nur aus Stahl gefertigt und kann nur verlängert werden.

Planung

Gerade am Oberarm ist die exakte präoperative Planung aufgrund der begrenzten Auswahl von Implantatlängen und -durchmessern entscheidend. Außerdem sind die Distraktionsformel und die Sehneninsertion zu beachten, um die geeignete Positionierung der Osteotomie zu bestimmen (Abb. 2). Zu beachten ist der Sicherheitsabstand zur Osteotomie. Die Spitze des Nagels und die Pufferzone (zusammen die Schwachstelle des Nagels) sollen auch nach Distraktion im distalen Schaftanteil liegen, um einen Nagelbruch zu vermeiden.

Abb. 2
figure 2

Distraktionsformel für die intramedulläre Humerusverlängerung am Beispiel des PRECICE®-Nagels: minimaler Sicherheitsabstand zur Osteotomie = 3 cm Nagelende + 4 cm Puffer + geplante Verlängerung

Grundsätzlich werden Röntgenaufnahmen des Oberarms in 2 Ebenen mit Seitenvergleich angefertigt. Ein seitlich angelegtes Lineal in Höhe des Knochens ermöglicht sehr exakt die Längenbestimmung des zu wählenden Nagels. Zusätzlich kann jedoch die Oberarmverlängerung auch mithilfe einer Referenzkugel sowie einer Planungs-Software und Planungsschablonen konzipiert werden (Abb. 34). In fast allen Fällen kommt ein Nageldurchmesser von 8,5 mm infrage.

Abb. 3
figure 3

Schablonen für den PRECICE®-Nagel unter Anwendung der Software TraumaCAD® (Firma Brainlab, München, Deutschland) zur Planung einer Oberarmverlängerung mithilfe intramedullärer Humerusnägel, Nagellängen 230 und 245 mm

Abb. 4
figure 4

Präoperatives Topogramm mit 6,5 cm umfassender Verkürzung des rechten Oberarms. Zustand nach Rotatorenmanschettenrekonstruktion vor vielen Jahren

Der Zugang wird überwiegend antegrad gewählt; in einzelnen Fällen erfolgt die Operation über einen retrograden, suprakondylären Zugang.

Operation

Der Patient wird in einer „Beach-chair“-Position gelagert, wobei ein gesamter Überblick mit dem Röntgenbildwandler gegeben sein muss, v. a. für das Besetzen der distalen Verriegelungsschrauben. Nach sterilem Waschen und Abdecken des Operationsgebietes erfolgt der standardisierte Zugang zum Setzen eines antegraden Oberarmmarknagels. Die Eintrittsstelle wird mittig am Oberarmkopf gewählt, um eine Verletzung der Rotatorenmanschette im Ansatzbereich zu minimieren.

Nach Einbringen des Pfriems und Längenmessung über einen Führungsdraht wird der Schaft auf 1,5–2 mm über dem geplanten Nageldurchmesser aufgebohrt (Abb. 5). Es sollten dabei mindestens 3–4 mm der Knochenrinde belassen werden. Beim Zurückziehen der Bohrer wird die ausgebohrte Spongiosa gesammelt.

Abb. 5
figure 5

Intraoperatives Bildwandlerröntgen: a zentrales Setzen des Pfriems, b Einführen des Bohrdorns, c Aufbohren des Markraums

Der gewählte Nagel wird bis knapp proximal der Osteotomie eingeführt. Das Durchtrennen des Knochens führen die Autoren immer in einer „Mini-open“-Technik durch, zum Schutz des Speichennervs. Dieser befindet sich unterhalb des Ansatzes des M. deltoideus und des M. latissimus dorsi. Der Schaft wird mit 2 Hohmann-Haken dargestellt und unter Sicht zunächst mit einem 2,5-mm-Bohrer mehrfach fächerförmig durchbohrt. Die Knochendurchtrennung wird mithilfe eines Meißels vervollständigt. Anschließend wird der Nagel über die Osteotomie nach distal vorgeschoben.

Proximal erfolgt die Verriegelung mit dem Zielgerät und distal mit der Freihand-Technik. Intraoperativ findet immer eine Distraktion von 1 mm bis 2 mm statt, um die Funktionsfähigkeit des Teleskopnagels zu prüfen. Die im Rahmen der Aufbohrung gewonnene intramedulläre Spongiosa wird vor dem Hautverschluss in den Osteotomiespalt eingepresst. Die exakte Position des externen Steuergeräts wird zuletzt auf der Haut markiert.

Typischerweise beginnt die Verlängerung 5 bis 7 Tage nach Einbringen des Nagels mit einer Geschwindigkeit von 0,25 mm 3‑mal täglich. Radiologische Kontrollen werden im Abstand von 10 bis 14 Tagen durchgeführt. Die Patienten werden auf ein mögliches Missempfinden und Taubheitsgefühl im Bereich des Speichennervs hingewiesen. In den meisten Fällen reicht jedoch die temporäre Unterbrechung der Verlängerung von wenigen Tagen aus, um diese Symptome zu beseitigen. Beim 8,5 mm im Durchmesser haltenden Teleskopnagel ist nur eine begrenzte Verlängerung bis zu 50 mm möglich. In Fällen größerer Knochendehnung wurde daher eine innovative Operationstechnik angewendet.

Ein 8,5 mm durchmessender Teleskopnagel ermöglicht eine Verlängerung bis zu 50 mm

Hierzu wird zunächst ein einfacher externer Rahmen zur Sicherung der bestehenden Verlängerung am Oberarm montiert. Nach der Entriegelung der distalen Bolzen wird der Teleskopnagel mit dem Steuergerät verkürzt und neu verriegelt. Anschließend werden die Bolzen im verkürzten Nagel neu gesetzt und der Fixateur abgebaut. Idealerweise soll die Verkürzung genau dem Abstand der 2 distalen Verriegelungslöcher entsprechen, da in diesem Fall nur ein einziges neues Bohrloch zu setzen ist (Abb. 6a,b). Die Verlängerung wird anschließend in typischer Weise fortgesetzt (Abb. 7). Diese Technik wird bis dato von Firmenseite noch nicht propagiert.

Abb. 6
figure 6

Röntgenbild nach „rewinding“ des Nagels mit Fixateur in situ (a) und postoperativ (b)

Abb. 7
figure 7

Röntgenbild nach Konsolidierung 10 Monate postoperativ

Abb. 8
figure 8

„Fast distractor“ (NuVasive, San Diego, CA, USA) intraoperativ am Oberarm in Höhe des Magnets angelegt während der Verkürzung des Teleskopnagels

Nachsorge

In der Nachsorge erfolgt die Analgesie nach dem World-Health-Organization(WHO)-Stufenschema, jedoch wird auf nichtsteroidale Antiphlogistika verzichtet, da diese unter dem Verdacht stehen, die Knochenheilung negativ zu beeinflussen [16]. Außerdem werden den Patienten bei allen Knochenverlängerungen routinemäßig Maxi-Kalz®-Vitamin-D3-Kautabletten (Fa. Hermes Arzneimittel GmbH, Wolfratshausen) verabreicht.

Die regelmäßige aktive und passive Bewegung der oberen Extremität unter physiotherapeutischer Anleitung ist wesentlich, um Verkürzungen der Muskulatur, Kontrakturen der Gelenke und somit Einschränkungen der Beweglichkeit zu vermeiden. Dies ist v. a. während der Distraktionsphase wichtig und beginnt ab dem 2. bis 5. postoperativen Tag. Je nach Bewegungseinschränkung von Schulter bzw. Ellbogen und Schmerzen, die durch die Muskel-Weichteil-Dehnung bedingt sind, kann die Geschwindigkeit der Verlängerung individuell angepasst werden.

Das Auflegen des Handstücks an markierter Stelle am abduzierten Oberarm erfolgt in meist sitzender, aber auch liegender Position auf einer festen Unterlage.

Diskussion

Mit der Entwicklung der magnetgetriebenen Teleskopnägel hat sich das von Ilizarov entwickelte Prinzip der Kallusdistraktion revolutioniert. Bis dato wurden aufgrund fehlender Implantate intramedulläre Knochenverlängerungen vorwiegend an der unteren Extremität durchgeführt. Außerdem werden in vielen Fällen Armlängendifferenzen klinisch gut kompensiert. Das Verfahren findet nur bei adoleszenten Patienten nach Verschluss der Wachstumsfugen Anwendung, wenn diese Beschwerden im Alltag entwickeln, kosmetisch nicht mehr damit leben möchten und die Verlängerung mit einem äußeren Rahmen ablehnen. Derzeit sind lediglich Fallberichte sowie Kleinserien in der Literatur verfügbar [17,18,19,20,21].

Der Nageleintrittspunkt ist abhängig vom Nageldesign. Aufgrund der 10°-Biegung des PRECICE®-Tibianagels ist der Ansatzbereich der Rotatorenmanschette gefährdet. Hierbei wäre ein Verlängerungsnagel mit geradem proximalen Nagelende zielführend. Dies wurde beim PRECICE-UNYTE™-Humerusnagels bereits verwirklicht. Auch FITBONE® bietet einen geraden Nagel als Spezialanfertigung an, jedoch nur mit dem kleinsten Durchmesser von 11 mm. In vielen Fällen von hypoplastischen Oberarmen ist jedoch der Markraum für diesen Durchmesser zu klein.

Der retrograde Zugang im suprakondylären Bereich des Oberarms wäre eine Alternative, um eine Verletzung der Rotatorenmanschette zu verhindern. Aufgrund der eigenen umfangreichen Erfahrungen in der retrograden frakturbedingten Oberarmnagelung besteht doch ein beachtliches Risiko für iatrogene Komplikationen im Einbringungsbereich des Implantats. Es wurden daher nur wenige Fälle mit retrograder Insertion beschrieben.

Magnetgetriebene Teleskopnägel haben das Prinzip der Kallusdistraktion revolutioniert

Die Osteotomie hat unterhalb des Ansatzes des M. deltoideus und des M. latissimus dorsi zu erfolgen. Ansonsten besteht die Gefahr einer deutlichen Bewegungseinschränkung im Bereich der Schulter und einer möglichen flügelfellartigen Erscheinung im Bereich der Axilla, bedingt durch den Versatz der Insertion der Muskelansätze.

Bei der Wahl des Implantats sind die entsprechenden anatomischen Gegebenheiten des Oberarmmarkraums zu beachten. Eine radiologische anatomische Studie zeigte, dass der Isthmus bei Arabern durchschnittlich 9,1 mm und bei Asiaten sogar nur 7,2 mm beträgt. Dies erklärt, dass in fast allen Fällen nur ein 8,5 mm im Durchmesser haltendes Implantat verwendet werden kann. Außerdem ist der betroffene Oberarmknochen meistens hypoplastisch und verkürzt.

Im Vergleich zu externen Verfahren der Oberarmverlängerung wurde durch die intramedullären Implantate die Pin-Infektion eliminiert, und die Gefahr der Fraktur des Regeneratgewebes konnte deutlich reduziert werden. Einzig das Risiko einer Nerven- oder Gefäßverletzung durch die Osteotomie oder die Verriegelung ist präsent, jedoch ist dies durch ein vorsichtiges Vorgehen mit Darstellung des Knochens weitestgehend vermeidbar. Sensibilitätsstörungen oder starke Schmerzen während der Distraktion können durch Reduktion der Distraktionsrate vermieden werden.

Implantatassoziierte Komplikationen sind durch Weiterentwicklungen seltener geworden. Ein plötzlicher Verlängerungsstopp, v. a. in den ersten Wochen, kann durch einen Anwendungsfehler des Patienten, aber auch durch einen Schaden des Nagels verursacht werden. Eine akute Verlängerung von 1 mm im klinischen Setting kann Aufschluss darüber geben. Meist bringt die neuerliche Aufklärung des Patienten über die Anwendung und Positionierung des Magneten Aufschluss [19].

Als neueste Entwicklung wird noch in diesem Jahr ein „fast distractor“ (NuVasive, San Diego, CA, USA) zur Verfügung stehen, der die schnellere Verlängerung bzw. Verkürzung des Teleskopnagels ermöglichen wird. Dies wird bei der erweiterten Verlängerung am Oberarm die intraoperative Nagelverkürzung deutlich beschleunigen.

Fazit für die Praxis

  • Das Verfahren der intramedullären Oberarmverlängerung stellt eine sichere und vereinfachte Therapiemöglichkeit bei funktionell wirksamen Oberarmverkürzungen bzw. Längenunterschieden an der oberen Extremität dar.

  • Die exakte präoperative Ausmessung des Markraums und der Oberarmlänge ist erforderlich.

  • Die Osteotomie erfolgt unterhalb des Ansatzes des M. deltoideus und des M. latissimus dorsi.

  • Die Gefahr einer Nervenschädigung ist mit der „Mini-open“-Technik minimal.

  • Umfangreiche klinische Erfahrungen in der Oberarmmarknagelung sind jedoch Voraussetzung für die intramedulläre Humerusverlängerung.