Die Oktoberausgabe des Unfallchirurgen erscheint zum Jahreskongress der DGOU und wird daher mehr als sonst wahrgenommen. Wir vom Editorial Board nutzen deshalb gerne diese Gelegenheit, um Themen zu platzieren, an denen uns besonders gelegen ist. Seien es Themen von hoher wissenschaftlicher Aktualität oder aus Bereichen, die in unserer täglichen Wahrnehmung eher ein Schattendasein führen, gleichwohl für unsere Leser interessant sein dürften.

Für den DKOU 2017 haben wir als Leitthema „Unfallchirurgie in Ländern der Dritten Welt“ gewählt, um zum einen wieder einmal auf die globale Bedeutung von Unfällen und ihren Folgen hinzuweisen und zum anderen an vier Beispielen zu zeigen, wie deutsche und Schweizer Unfallchirurgen im Rahmen von Hilfsorganisationen und/oder in individuellen Einsätzen diese Bürde etwas lindern helfen.

Die „global burden of injury“ wurde vor kurzem aktualisiert [2]. Im Jahr 2013 erlitten demnach 973 Mio. Menschen einen Unfall, 4,8 Mio. dieser Unfälle verliefen tödlich. Das entspricht 10 % der globalen Krankheitslast. Die Gewichtung ist dabei über die Welt sehr ungleich verteilt. In den Industrieländern („high income countries“) ist seit 1990 eine Abnahme der Unfallzahlen um bis zu 50 % zu verzeichnen, wohingegen in den „lower und middle income countries“ dieser Trend nicht zu beobachten war.

Die Weltbank hat 1993 erstmals ein Maß zur Bemessung der individuellen, sozioökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Krankheiten und Verletzungen, die so genannten „DALYs – disability adjusted life years“, eingeführt. Ausgehend von einer globalen Standardlebenserwartung setzen sich DALYs aus „years of life lost“ (YLL) im Fall eines vorzeitigen Todes und „years lived with disability“ (YLD) im Fall einer bleibenden Behinderung zusammen. Sie werden für ein Land, eine Weltregion oder global hochgerechnet. Mortalität und Morbidität können damit vergleichbar quantitativ modelliert werden [6].

In den „high income countries“ zeigte sich ein Rückgang der Verkehrsunfälle von Rang 6 (2000) auf Rang 12 (2015) innerhalb der TOP 20 der DALY-Liste. Demgegenüber haben Verkehrsunfälle in den „lower“ und „middle income countries“ einen weit höheren Stellenwert und lagen im Jahre 2015 zwischen Rang 3 und 8. Zählt man die Opfer von Gewalt jedweder Art hinzu, sind Verletzungen in großen Teilen der Welt den TOP 3 der DALYs zuzurechnen [6].

Dass Unfälle und ihre Folgen in den Ländern der Dritten Welt eine so große Rolle spielen, hat mit der Zunahme der Bevölkerungszahl, des Verkehrs, der Gewaltauseinandersetzungen und der Naturkatastrophen, aber auch mit mangelnder Prävention, fehlendem Schutz am Arbeitsplatz, einer ungenügenden präklinischen und klinischen Versorgung und insgesamt mit unterfinanzierten Gesundheitssystemen zu tun,die den großen Anforderungen nicht gewachsen sind. Aus eigener Kraft können „low income countries“ diese Herausforderungen nicht bewältigen.

Hier setzt Entwicklungszusammenarbeit ein, entweder in Form von langfristigen supranationalen, bilateralen, nationalen oder NGO-Programmen oder/und in Form von kurzfristiger humanitärer Hilfeleistung in humanitären Notlagen und bei Katastrophen. Wenn es dabei um Nachhaltigkeit geht, stand die (Unfall‑)Chirurgie lange im Schatten der Präventivmedizin. Das hat sich geändert. Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung ergänzte die UN-Vollversammlung einstimmig die bis 2015 geltenden Milleniumsentwicklungsziele um 17 weitere Ziele und hat für das neue Ziel 3 – Gesundheitsversorgung – eine Halbierung der Zahl von Todesfällen und Verletzungen infolge von Verkehrsunfällen bis zum Jahr 2020 beschlossen (Ziel 3.6.).

(Unfall‑)Chirurgie ist unverzichtbarer Bestandteil jedes Gesundheitssystems auf der Welt

Dies gelingt nicht ohne kurative Medizin. Aus dem sehr lesenswerten und aufrüttelnden Artikel der Lancet-Kommission für Globale Chirurgie [3] wird deutlich, welche Rolle der Chirurgie dabei zukommen muss: 9 von 10 Einwohner in „low income countries“ haben keinen Zugang zu irgendeiner Form der Basischirurgie. Das führte, um nur eine Zahl zu nennen, in 2010 zu 16,9 Mio. eigentlich vermeidbaren Todesfällen – mehr als für HIV, Tuberkulose und Malaria zusammen. Insgesamt werden ca. 30 % der „global burden of disease“ chirurgisch behandelbaren Erkrankungen und Verletzungen zugerechnet [3]. Die Autoren schlussfolgern daher zu Recht, dass Chirurgie und Anästhesie ein unverzichtbarer Bestandteil jedes Gesundheitssystems sein müssen.

Ihr Nutzen lässt sich berechnen. Mit dem Konzept der Kostenermittlung pro „disability adjusted life year“ können präventive und kurative Medizin hinsichtlich ihrer Effektivität und Effizienz verglichen werden. Dabei schneidet die Chirurgie gut ab. Denn ein schwer verunglückter Handwerker oder Bauer kann, unzureichend versorgt, sich und seine Familie nicht mehr ernähren. Ein Unfall führt so in Ländern ohne Krankenversicherung und soziales Netz oft in eine unumkehrbare Armut. Schon mit rund 400 US-Dollar können solche Schicksale gemildert werden. So viel Geld wird benötigt, um – global betrachtet –ein „DALY“ im Bereich der Unfallchirurgie/Orthopädie in diesen Ländern zu verhindern. Dies ist deutlich weniger als die Kosten, die für ein DALY durch eine antivirale Therapie bei einer HIV-Infektion oder eine medikamentöse Therapie bei ischämischen Herzerkrankungen anfallen [3]. Gosselin et al. [1] haben für zwei Traumazentren von Ärzten ohne Grenzen in Nigeria und Haiti ermittelt, dass 172 bzw. 223 US-Dollar ausreichten, um ein DALY zu vermeiden. Hochgerechnet auf ein Jahr konnten diese beiden Zentren die Traumalast für die Bevölkerung um 50.000 DALYs reduzieren.

Die Effizienz einer Traumaversorgung in Ländern der Dritten Welt lässt sich also gut belegen. Die Chirurgie ist nicht zu teuer und zu kompliziert, um sie auch in weniger entwickelten Ländern zu praktizieren. Der Umkehrschluss ist richtig: Patienten nicht (unfall)chirurgisch zu behandeln, ist für eine Volkswirtschaft teuer, denn der Ausfall von Arbeitskraft wirkt sich direkt negativ auf das Bruttoinlandsprodukt aus [4].

Vor diesem Hintergrund haben wir in der Entwicklungszusammenarbeit ausgewiesene unfallchirurgische Kollegen gewonnen, die über ihre Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen Szenarien und Ländern berichten. Das Spektrum reicht von der Hilfe im Katastrophenfall (I. Osmers) über eine wiederholte Tätigkeit in einem herausragend aufgestellten universitären Krankenhaus in Nepal (H. Winker) bis zu einem jahrzehntelangen Einsatz in Ozeanien (H. Oberli) und zu einem Neuaufbau einer unfallchirurgischen Abteilung in Peru (T. Boeker). Alle Autoren schildern dabei nicht nur ihre persönliche Motivation und die notwendigen Voraussetzungen, sondern nehmen auch Bezug auf die allgemeine Lage vor Ort und den vorhandenen Bedarf an unfallchirurgischer Versorgung. Wie unter schwierigsten Bedingungen am besten die Hilfe zur Selbsthilfe organisiert werden und Nachhaltigkeit gelingen kann, darauf wird umfassend und auch kritisch eingegangen. Zusammen betrachtet wird m. E. deutlich, dass die Autoren mit ihren Beiträgen den oft zitierten Satz „das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein“ gut widerlegen können.

Abschließend möchten wir nicht nur den Autoren, sondern allen in den Ländern der Dritten Welt tätigen Unfallchirurgen für ihr nutzbringendes Engagement danken und unsere Leser ermutigen, selbst aktiv oder passiv unterstützend tätig zu werden. Es lohnt sich für alle Seiten [3, 5].

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Ihr Wolf Mutschler