FormalPara Originalpublikationen

Parker W, Anderson LG, Jones JP, Anderson R, Williamson L, Bono-Lunn D, Konsoula Z. (2023) The Dangers of Acetaminophen for Neurodevelopment Outweigh Scant Evidence for Long-Term Benefits. Children (Basel). Dec 29;11(1):44. https://doi.org/10.3390/children11010044. PMID: 38255358; PMCID: PMC10814214.

Zhao L, Jones JP, Anderson LG, Konsoula Z, Nevison CD, Reissner KJ, Parker W. (2024) Acetaminophen causes neurodevelopmental injury in susceptible babies and children: no valid rationale for controversy. Clin Exp Pediatr. 2024 Mar;67(3):126–139. https://doi.org/10.3345/cep.2022.01319. Epub 2023 Jun 14. PMID: 37321575; PMCID: PMC10915458.

Die Frage, ob die präpartale oder aber auch die postnatale Gabe von Paracetamol (Acetaminophen) zu teils schwerwiegenden neurologischen Beeinträchtigungen bei Kindern führen könnte, wurde zuletzt kontroversiell und auch in den Medien diskutiert. Vor allem Merkmale aus dem Bereich des Autismus-Spektrums (ASD) oder aus dem ADHS-Formenkreis wurden in Publikationen auch auf die Gabe von Paracetamol zurückgeführt.

Paracetamol ist ein weit verbreitetes Nichtopioidanalgetikum und Antipyretikum, das wegen der guten Wirksamkeit und Verträglichkeit gerade in der Pädiatrie sehr häufig in zahlreichen Indikationen Verwendung findet. Allerdings wird Paracetamol in der Regel nur selten als Dauertherapie über einen längeren Zeitraum eingesetzt, sondern oftmals nur für kurze Zeit oder überhaupt bei Bedarf.

Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes- und Jugendalter bezeichnen einen grundlegend veränderten Entwicklungsverlauf mit einer ausgeprägten Beeinträchtigung in der Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit. Es handelt sich dabei um eine tiefgreifende Entwicklungsveränderung mit gravierender Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und dem Vorhandensein von Stereotypien mit sich wiederholenden Aktivitäten und Interessen. Die Ursachen von Autismus sind bisher nicht eindeutig geklärt, es wurden allerdings verschiedene Risikofaktoren identifiziert.

Das Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bezeichnet ein Verhalten, das sich durch notorische Unaufmerksamkeit, Konzentrationsstörungen, Impulsivität und Aktivitätssteigerung mit gesteigerter motorischer Unruhe ausdrückt. Dies erfolgt in einem für den Entwicklungsstand des Kindes abnormen Ausmaß sowie situationsübergreifend. Auch ein Aufmerksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität ist bekannt. Recht unterschiedlich und oft heftig von Vertretern der einzelnen Standpunkte diskutiert geht man mittlerweile von einem Geschehen aus, das von organischen, psychologischen und sozialen Einflüssen gemeinsam geprägt ist. Eine rein biochemische Erklärung bei der Entstehung von ADHS scheint auf allen Ebenen zu kurz gegriffen.

Eine Verknüpfung dieser neurologischen Beeinträchtigungen mit verschiedenen – meist häufig verwendeten – Substanzen oder Impfungen wurde auch in der Vergangenheit auf der Suche nach einfachen Antworten immer wieder postuliert, aber noch in keinem Fall bestätigt.

FormalPara Zusammenfassung der Publikationen.

Die beiden Publikationen derselben Arbeitsgruppe sind sehr direkt formuliert und lassen wenig Diskussion über die Ergebnisse zu. Basierend auf 20 Argumentationsketten aus Daten von Studien an Labortiermodellen und Beobachtungen am Menschen wird „ohne begründeten Zweifel und ohne gegenteiligen Beweis“ geschlussfolgert, dass die Einnahme von Paracetamol bei dafür empfindlichen Kindern unter 5 Jahren viele, wenn nicht die meisten Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) auslöst. Die Autoren stellen fest, dass die sehr frühe Zeit nach der Geburt das größte Risiko darstellt, und dass der nahezu allgegenwärtige Einsatz von Paracetamol während dieser frühen Entwicklung möglicherweise für die Entstehung in der überwiegenden Mehrheit – vermutlich 90 % aller Fälle – von ASD verantwortlich sein könnte. Darüber hinaus konnten dieser Publikation gemäß in Studien keine langfristigen Vorteile von Paracetamol für die pädiatrische Bevölkerung nachgewiesen werden, sodass angesichts der Risiken für die neurologische Entwicklung kein stichhaltiger Grund für die fortgesetzte Anwendung des Arzneimittels in dieser Altersklasse besteht.

Kommentar

Die Daten zur Diskussion über die möglichen Folgen einer Gabe von Paracetamol stammen v. a. aus der pränatalen Verabreichung; so hat insbesondere eine Studie aus dem Jahr 2021 ein erhöhtes Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen beim Ungeborenen nach der Gabe in der Schwangerschaft gezeigt [1]. Diese Daten wurden vom Europäischen Netzwerk für Informationen zu Teratogenität ENTIS [2] sowie von Embryotox, der Datenbank der Berliner Charité zu Arzneimitteln in der Schwangerschaft, im Oktober 2021 sehr deutlich kritisiert [3]. Dieses Europäische Netzwerk für Informationen zu Teratogenität hat festgestellt, dass die Belege für ein erhöhtes Risiko unerwünschter Wirkungen auf den Fetus nach einer intrauterinen Exposition gegenüber Paracetamol schwach, inkonsistent und größtenteils grundlegend fehlerhaft sind. Nach Einschätzung von ENTIS waren die Autoren dieser Studie generell gegenüber der Anwendung von Paracetamol in der Schwangerschaft voreingenommen.

Embryotox weist zudem darauf hin, dass einigen Studien zufolge auch nach Paracetamoleinnahme des Vaters (zeitlich vor oder nach einer Schwangerschaft) ähnlich erhöhte Risiken für Verhaltensauffälligkeiten beim Kind wie nach Paracetamoleinnahme der Mutter während der Schwangerschaft bestehen. Dies spricht gegen einen kausalen Zusammenhang und deutet eher auf einen Einfluss familiärer Faktoren hin [3].

Dennoch ist das Bild nicht ganz eindeutig. Eine weitere große dänische Kohortenstudie hat die Daten von 64.322 Kindern ausgewertet und festgestellt, dass die mütterliche Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft mit hyperaktiven Symptomen des Kindes verbunden war, was darauf hindeutet, dass die Exposition gegenüber Paracetamol in der Schwangerschaft dieses spezielle Verhaltensmuster beeinflussen könnte [4].

Eine Publikation in Pediatrics [5] aus 2017 differenziert zwischen der kurzzeitigen Verwendung und dem Langzeitgebrauch von Paracetamol in der Schwangerschaft und stellt fest, dass die kurzfristige Einnahme von Paracetamol durch die Schwangere keine Korrelation mit ADHS aufweist. Die langfristige Einnahme von Paracetamol war jedoch selbst nach Berücksichtigung anderer Faktoren wie des familiären Risikos positiv mit ADHS assoziiert.

Es finden sich kaum belastbare Daten über eine mögliche kausale Korrelation einer Gabe bei Säuglingen oder Kleinkindern und neurologischen Folgeerkrankungen, auch nicht im Literaturverzeichnis der kommentierten Publikationen. Eine Analogie der Risikoeinschätzungen zwischen der pränatalen Gabe und der Verabreichung von Paracetamol post partum scheint dennoch gerechtfertigt zu sein. Anhand der derzeitigen Datenlage kann eine ursächliche Wirkung auf das Verhalten bei einem Kurzzeitgebrauch nicht belegt werden, bei einem Langzeitgebrauch können Alternativen wie Ibuprofen angedacht werden.

Die AWMF-Leitlinie zu Autismus-Spektrum-Störungen [6] stellt dazu fest, dass folgende Risikofaktoren für Autismus-Spektrum-Störungen gut belegt und mehrfach repliziert sind:

  • Genetik: z. B. (Spontan‑)Mutationen, Mikrodeletionen und -duplikationen, chromosomale Störungen, häufige genetische Varianten. Gemeinsame genetische Mechanismen liegen wahrscheinlich auch weiteren Risikofaktoren, wie z. B. manchen psychischen und somatischen Erkrankungen der Eltern sowie manchen Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen zugrunde

  • Höheres Alter von Mutter und Vater (vermittelnder Mechanismus vermutlich genetischer oder epigenetischer Art)

  • Medikamentenexposition in der Schwangerschaft (Valproat, Antiepileptika, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, möglicherweise auch andere psychoaktive Substanzen)

  • Röteln-Infektion der Mutter in der Schwangerschaft

  • Migrationsstatus der Eltern

Paracetamol wird nicht als Risikofaktor angeführt. Es darf aber nicht übersehen werden, dass diese AWMF-Leitlinie vom 23.02.2016 datiert und somit neuere Literatur noch nicht berücksichtigt werden konnte.

Es gibt derzeit noch kein einheitliches Bild über die genauen Ursachen dieser neurologischen Beeinträchtigungen. Die Forschung auf diesem Gebiet ist noch im Gange, aber es ist davon auszugehen, dass es keine einfache und monokausale Erklärung über die zugrunde liegenden Mechanismen geben wird. Zum gegebenen Zeitpunkt sind jedenfalls keine ausreichenden Belege dafür erkennbar, von einer Verwendung von Paracetamol in der Schwangerschaft oder im Kleinkindalter generell abzuraten. Paracetamol sollte – wie jedes andere Medikament – bei eindeutiger Indikation in der jeweils empfohlenen Dosis und für die kürzest mögliche Dauer angewendet werden; im Falle der Indikation für eine Dauertherapie können Alternativen in Erwägung gezogen werden.