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Prüfungssimulation
Fallschilderung
Livio1 ist ein 18 Monate alter Junge, der bisher weder frei gelaufen noch gekrabbelt ist. Er zeigt seit bald 6 Monaten eine eigenartige Fortbewegungsart. So sitzt er mit nach vorne gerichteten Beinen und rutscht oder hüpft auf dem Gesäß. Er macht keine Anstalten, zu kriechen oder sich an einem Möbelstück hochzuziehen.
Die Mutter berichtet, dass sie in der frühen Kindheit selbst ebenfalls ein eigenartiges Bewegungsmuster gezeigt hätte. Sie erzählt, dass Livio gern Kästen, Schubladen und Taschen ein- und ausräume sowie mit allen möglichen Gegenständen Türme baue. Auch spreche er bereits recht gut. So bilde er z. B. schon Zweiwortsätze und stelle erste Fragen.
In der neurologischen Untersuchung findet sich einzig eine leichte Hypotonie.
Prüfungsfragen
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Woran denken Sie bei dieser besonderen Fortbewegungsart?
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Welche anamnestischen Angaben des Fallberichts sind für Ihre Beurteilung relevant?
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Was wissen Sie über diese besondere Entwicklungsvariante?
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Welche Differenzialdiagnosen kommen hauptsächlich in Betracht?
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Beschreiben Sie die motorische Entwicklung bis zum freien Gehen.
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Wie kann der Variantenreichtum der frühkindlichen Motorik erklärt werden?
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Nennen Sie die wichtigsten Meilen- und Grenzsteine der grobmotorischen Entwicklung bis zum Alter von 18 Monaten.
Antworten
Woran denken Sie bei dieser besonderen Fortbewegungsart?
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Das Sitzrutschen (im Englischen auch „shuffling“ oder im Amerikanischen „scooting“ genannt) ist eine besonders häufig auftretende Variante der frühen Bewegungsentwicklung [1,2,3,4].
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Bei dieser speziellen Art der Fortbewegung sitzen die Kinder auf dem Boden und rutschen auf dem Gesäß. Dabei rudern sie symmetrisch oder einseitig mit den Beinen (Abb. 1). Es gibt Kinder, die sich auf diese Weise sehr schnell von einem Ort zum anderen fortbewegen können.
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Im Durchschnitt gehen Sitzrutscher erst mit 17 bis 20 Monaten die ersten Schritte frei [3, 4].
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Die meisten dieser Kinder zeigen eine leichte muskuläre Hypotonie besonders der unteren Extremitäten ohne Krankheitswert. Man nennt diese Kinder auch idiopathische Sitzrutscher.
Welche anamnestischen Angaben des Fallberichts sind für Ihre Beurteilung relevant?
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Idiopathische Sitzrutscher krabbeln meist nie und gehen leicht verzögert die ersten freien Schritte.
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Tatsächlich beschrieben verschiedene Autoren eine zeitliche Verzögerung in der frühen motorischen Entwicklung von Sitzrutschern. Beispielsweise erwähnt Robson in seiner Untersuchung, dass Sitzrutscher im Durchschnitt mit 13 Monaten zu shuffeln beginnen und erst mit 20 Monaten freies Gehen zeigen [4].
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Auch berichten die Eltern in der Hälfte der Fälle über eine positive Familienanamnese – d. h., dass auch sie selbst oder ein Geschwisterkind diese besondere Fortbewegungsart genutzt haben. In der Mehrzahl der Fälle sind die Meilensteine in der kognitiven, sprachlichen und sozialen Entwicklung bei diesen Kindern in der Norm [5].
Der Fall.
Livio zeigt ein altersgemäßes Raumspiel und eine normale Sprachentwicklung.
Was wissen Sie über diese besondere Entwicklungsvariante?
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Es gibt verschiedene Formen des Sitzrutschens, z. T. sind die Beine gegen vorn gerichtet, teils nach hinten, und das Rutschen erfolgt beid- oder einseitig. Wenn man das Kind aufnimmt, werden die Beine typischerweise nach ventral gebeugt [7].
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Manche Kinder sitzrutschen nur für wenige Wochen, andere länger als ein halbes Jahr.
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Sitzrutscher ohne weitere körperliche Auffälligkeiten holen den leichten motorischen Entwicklungsrückstand der ersten Lebensjahre im Verlauf der Entwicklung auf [2]. Wenn die muskuläre Hypotonie leicht ist und ausschließlich mit einem motorischen Entwicklungsrückstand einhergeht, sind keine weiteren diagnostischen Untersuchungen nötig [7]. Auch braucht es keine therapeutischen Interventionen. Tatsächlich hatte Physiotherapie bei Sitzrutschern ohne weitere neurologische Auffälligkeiten in einer holländischen Studie keinen Einfluss auf die motorische Entwicklung der Kinder zwischen dem 4. und 8. Lebensjahr [8].
Welche Differenzialdiagnosen kommen hauptsächlich in Betracht?
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Sitzrutschen als Variante der Lokomotion kommt bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen gehäuft vor, z. B. bei einer Muskelerkrankung oder einer Zerebralparese. Die muskuläre Hypotonie ist bei diesen symptomatischen Sitzrutschern stärker.
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Außerdem ist die motorische Entwicklungsverzögerung ausgeprägter und beschränkt sich nicht nur auf die Lokomotion, sondern betrifft oft auch andere motorische Fähigkeiten wie beispielsweise das Greifen.
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Diese Kinder weisen meist zusätzliche Auffälligkeiten wie beispielsweise eine verminderte oder gesteigerte Reflexantwort und abnorme Gelenkbeweglichkeit auf.
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Auch sind bei symptomatischen Sitzrutschern oft andere Entwicklungsbereiche verzögert, so z. B. die kognitive Entwicklung oder die Sprache, was weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen notwendig macht.
Beschreiben Sie die motorische Entwicklung bis zum freien Gehen.
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Es gibt eine Reihe von Varianten der motorischen Entwicklung bis zum freien Gehen (Abb. 2; [2, 3, 6]).
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Zuerst dreht sich das Kind durchschnittlich etwa im Alter von 5 Monaten vom Rücken auf den Bauch. Die umgekehrte Drehbewegung vom Bauch auf den Rücken gelingt ihm etwas später, im Mittel mit 6 Monaten. Ebenfalls beginnt es in diesem Alter, mit Kreisbewegungen auf dem Bauch oder Rücken zu rutschen.
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Mit durchschnittlich 7 Monaten starten die Säuglinge mit dem Kriechen und sind dann in der Lage, die Umgebung selbstständig zu erkunden. Dabei bewegen sie sich mit dem Bauch am Boden fort. Diese Fortbewegungsform des Kriechens wird auch als Robben bezeichnet. Es gibt verschiedene Formen des Kriechens und Robbens. Gewisse Kinder zeigen sogar Schlangenbewegungen oder ein Rollen vorwärts.
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Die meisten Kinder wechseln im Alter von 9 Monaten vom Kriechen zum Krabbeln auf den Händen und Knien, weil diese Fortbewegungsform weniger anstrengend und schneller ist. Auch unterschiedliche Varianten des Krabbelns wurden beschrieben (z. B. auf allen Vieren). Krabbeln tritt nicht zwingend nach dem Kriechen auf: Es gibt Kinder, die sich vom Kriechen zuerst zum Stehen hochziehen und erst dann mit dem Krabbeln beginnen. Fast 15 % der Kinder krabbeln nie, sondern nutzen besondere Formen der Bewegungsentwicklung wie beispielsweise das Sitzrutschen [3, 6]. Krabbeln ist darum kein zuverlässiger Meilenstein für die motorische Entwicklung eines Säuglings.
Wie kann der Variantenreichtum der frühkindlichen Motorik erklärt werden?
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Der Variantenreichtum in der frühkindlichen Motorik entsteht nicht ausschließlich durch die genetische Variabilität [9].
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Die verschiedenen motorischen Formen können auch mit der dynamischen Systemtheorie erklärt werden: Motorische Varianten entstehen durch ein dynamisches Zusammenspiel zwischen der sich entwickelnden Kraft, Muskulatur, Körperform und Wahrnehmungsfähigkeit des Kindes [9].
Nennen Sie die wichtigsten Meilen- und Grenzsteine der grobmotorischen Entwicklung bis zum Alter von 18 Monaten.
Meilensteine.
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In Abb. 3 sind die grobmotorischen Meilensteine im Alter zwischen 4 und 18 Monaten dargestellt – also diejenigen Zeitpunkte, an denen gewisse Entwicklungsschritte zum ersten Mal bei einem Kind auftreten.
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Die ersten freien Schritte sind für Bezugspersonen ebenso wie für Fachpersonen der offensichtlichste Meilenstein der frühkindlichen Entwicklung. Kinder gehen ohne Unterstützung im Mittel mit 13 Monaten [2, 5].
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Diese Durchschnittswerte sagen allerdings nichts über die große Variabilität in der Entwicklung des freien Gehens aus. So gehen die ersten Kinder bereits im Alter von 9 Monaten (10. Perzentile), andere erst mit 18 Monaten (90. Perzentile; Abb. 3).
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Ein typisches Merkmal von Meilensteinen ist also, dass die Entwicklungsschritte beim individuellen Kind zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten erreicht werden [2, 3].
Grenzsteine.
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Von einem individuellen Meilenstein abzugrenzen ist der Grenzstein – also derjenige Zeitpunkt, an dem fast alle Kinder einen bestimmten Entwicklungsschritt erreicht haben [3, 5].
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Grenzsteine stellen – ebenso wie Meilensteine – keine qualitativen Aspekte der Entwicklung dar; sie beschreiben nicht die individuellen Entwicklungswege und Entwicklungsvarianten der Kinder, sondern definieren ein bestimmtes Alter, in dem die Mehrheit der Kinder ein vorgegebenes Entwicklungsziel erreicht hat [3].
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Grenzsteine sind eine Art Frühwarnsystem [3]. Diese vermögen, auf einen Rückstand eines Kindes in bestimmten Entwicklungsbereichen hinzuweisen. Sie führen nicht zu einer klinischen Diagnose, sondern geben gewisse Hinweise, dass eine weitere diagnostische Abklärung von entsprechend ausgebildeten und erfahrenen Fachpersonen erfolgen sollte.
Merke.
Ebenso wichtig wie Grenzsteine sind bei der Beurteilung eines Kindes die qualitativen Aspekte der Entwicklung – z. B., auf welche Weise und mit welcher motorischen Strategie ein Kind ein Hindernis überwindet oder auf einen Stuhl steigt.
Literatur
Bottos M, dalla Barba B, Stefani D, Pettenà G et al (1989) Locomotor strategies preceding independent walking: Prospective study of neurological and language development in 424 cases. Dev Med Child Neurol 31(1):25–34
Jenni O (2021) Die kindliche Entwicklung verstehen: Praxiswissen über Phasen und Störungen. Springer, Berlin, Heidelberg
Jenni O (2022) Meilen- und Grenzsteine der Entwicklung: Was Kinderärztinnen und Kinderärzte wissen müssen. Monatsschr Kinderheilkd 170:651–662
Robson P (1970) Shuffling, hitching, scooting or sliding: some observations in 30 otherwise normal children. Dev Med Child Neurol 12:608–617
Largo RH, Molinari L, Weber M, Pinto LC, Duc G (1985) Early development of locomotion—significance of prematurity, cerebral-palsy and sex. Dev Med Child Neurol 27(2):183–191
Martorell R, de Onis M, Martines J, Black M, Onyango A, Dewey KG, Reference WHOMG (2006) WHO Motor Development Study: Windows of achievement for six gross motor development milestones. Acta Paediatr 95:86–95
Shuper A, Weitz R, Varsano I, Momouni M (1987) Benign congenital hypotonia. A clinical study in 43 children. Eur J Pediatr 146:360–362
Eijsermans MJC, van Haastert IC, Gulmans VAM, Helders PJM (2000) Motor performance after bottom-shuffling in early childhood. Physiotherapy 86:81–84
Adolph KE, Robinson SR (2013) The road to walking: what learning to walk tells us about development. In: Zelazo PD (Hrsg) Body and mind: Oxford handbook of developmental psychology, 1. Aufl. Oxford University Press, New York, S 403–446
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Open access funding provided by University of Zurich
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O. Jenni gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Additional information
Redaktion
Dominik Schneider, Dortmund
Lutz Weber, Köln
Fred Zepp, Mainz
1 Livio ist ein fiktiver Patient.
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Jenni, O. 1 ½/m – Sitzrutschen mit grobmotorischer Entwicklungsverzögerung. Monatsschr Kinderheilkd 171 (Suppl 2), 185–189 (2023). https://doi.org/10.1007/s00112-023-01720-y
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00112-023-01720-y