Zusammenfassung
Das Spektrum der Entwicklungsstörungen gehört zum Alltag des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin. Durch den zunehmenden Einsatz von „Next-generation sequencing“-Methoden in den letzten 10 Jahren werden die genetischen Hintergründe besser verstanden. Hiermit eröffnen sich Möglichkeiten in der Routinediagnostik und auch für pathomechanismusbasierte individuelle Therapieansätze („personalized precision medicine“). Dieser Beitrag beschreibt die patientenzentrierte Einbettung einer multidisziplinären Tagesklinik („Murmeltiersprechstunde“) zu zeit- und ressourcensparender Diagnostik und Behandlung von Entwicklungsstörungen. Bei 43 an der Murmeltiersprechstunde teilnehmenden Kindern (Durchschnittsalter 4,9 Jahre) mit einer Entwicklungsstörung konnte in 24 Fällen (56 %) eine pathogene Variante in einem bereits bekannten Krankheitsgen, in 4 weiteren Fällen (12 %) in einem Kandidatengen gefunden werden und somit eine Diagnose gestellt werden. Hierdurch konnte in 6 Fällen (14 %) eine pathomechanismusbasierte Therapie erfolgreich eingeleitet werden. Die durchschnittliche Dauer zwischen der Aufnahme in der Tagesklinik und der Befundmitteilung betrug 6 Monate. Die Murmeltiersprechstunde zeigt, wie „personalized precision medicine“ in den Alltag einer Kinderklinik eingebaut werden kann und direkten Einfluss auf die Behandlung hat.
Abstract
Pediatricians are regularly involved in the daily care of patients with neurodevelopmental disorders. Due to the increasing use of next generation sequencing techniques in the last 10 years there is a better understanding of the genetic background of these disorders. This opens up possibilities in routine diagnostics and also for pathomechanism-based individual treatment approaches (personalized precision medicine). This article describes the implementation of a patient-centered multidisciplinary day care clinic (“groundhog consultation”) for time and resource sparing diagnostics and treatment of neurodevelopmental disorders. A total of 43 children (mean age 4.9 years) with a neurodevelopmental disorder were included in the study and in 24 cases (56%) a pathogenic variant was found in a previously known disease gene and in a candidate gene in another 4 cases (12%). In 6 cases (14%) a pathomechanism-based treatment could be successfully implemented. The mean turnaround time between admission to the day clinic and communication of the results was 6 months. The groundhog consultation demonstrates how personalized precision medicine can be incorporated into the daily routine of a pediatric clinic and has a direct influence on the treatment.
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Hinführung zum Thema
Das Spektrum der kindlichen Entwicklungsstörungen betrifft ca. 1 % aller Kinder; die Ursache ist überwiegend genetisch. Die Einführung der „Next-generation sequencing“-Methoden (NGS) eröffnet ungeahnte Möglichkeiten zur zeitsparenden und v. a. zur wenig belastenden Diagnostik. Für einen Überblick über die Methoden der genetischen Diagnostik in der Pädiatrie wird auf den Übersichtsbeitrag von Wortmann und Duba in einer früheren Ausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde verwiesen [12].
Mithilfe der Exom-Sequenzierung („whole exome sequencing“, WES) kann eine diagnostische Ausbeute bis zu 50 % erreicht werden kann. Basis sind ein gute klinische Charakterisierung („phenotyping“) des betroffenen Kindes sowie ein enger Austausch zwischen dem behandelnden Team (niedergelassener Kinderfacharzt, sozialpädiatrische Zentren/Ambulatorien der Lebenshilfe, Kinderneurologen) und dem genetischen Labor („genotyping“). Nur im engen Austausch aller Beteiligten können eine hohe diagnostische Ausbeute erzielt sowie in konkrete Angebote zu genetischer Beratung, individueller Betreuung und Behandlung („personalized precision medicine“) umgesetzt werden. In der Universitätskinderklinik Salzburg wurde hierzu die „Murmeltiersprechstunde“ gegründet (Abb. 1 zeigt das Maskottchen „Dr. Murmel“), in der bisher 48 Kinder mit Entwicklungsstörungen betreut werden.
Entwicklungsstörungen
Einen guten Überblick bietet [4].
Spektrum
Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) werden Entwicklungsstörungen als eine Gruppe von Krankheiten mit Beginn in der Reifungsperiode des Gehirns definiert; diese führen zu einer Funktionseinschränkung. Einer Entwicklungsstörung geht üblicherweise keine Periode normaler Reifung der betroffenen Funktion voraus, sondern die Entwicklung der jeweiligen Funktion ist von Anfang an gestört oder dauerhaft unterbrochen. Entwicklungsstörungen umfassen Entwicklungsverzögerung („developmental delay“, DD), Intelligenzminderung („intellectual disability“, ID), Störungen der Kommunikation, Autismus-Spektrum-Erkrankungen (ASD), Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHD), umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF; „developmental coordination disorder“, DCD) und umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Diese Klassifikation findet sich auch in der 11. Ausgabe der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11), wobei eine weitere Spezifizierung der zugrunde liegenden Ursache, „assoziiert mit einer bekannten (genetischen) Erkrankung oder Umweltfaktoren“, berücksichtigt wird. Häufig treten zusätzliche neurologische Symptome wie Epilepsie oder Bewegungsstörungen auf.
Hierbei wird das Modell des „neurodevelopmental continuum“ angewendet (Abb. 2), worin die verschiedenen Krankheitsbilder, einschließlich der Schizophrenie, als Ausdruck oder Endpunkt der gestörten oder unterbrochenen Entwicklung des Gehirns abgebildet werden. Folglich können die kindlichen Entwicklungsstörungen (DD, ID, ASD, ADHD) ebenso wie psychiatrische Erkrankungen im Erwachsenenalter (einschließlich bipolarer Störung und Schizophrenie) am besten innerhalb des ätiologischen Neurodevelopmental continuum statt als gesonderte Entitäten gesehen zu werden.
Dieses Modell basiert auf der sich zunehmend abzeichnenden Evidenz für gemeinsame zugrunde liegende genetische Krankheitsfaktoren sowie umweltbedingte Risikofaktoren, bedingt durch sich überlappende Krankheitsmechanismen. Die Validität dieses Ansatzes wird durch die hohe Komorbidität der verschiedenen Erkrankungen untermauert. Beispielweise erfüllen 22–83 % aller Kinder mit ASD die DSM-Kriterien für ADHD, und umgekehrt zeigen 30–65 % der Kinder mit ADHD klinisch signifikante Symptome eines ASD [10]. Ebenso sind hinzukommende intellektuelle Einschränkungen oder Sprachstörungen im Rahmen der ASD häufig und müssen beachtet und beschrieben werden. Generell werden Entwicklungsstörungen häufiger beim männlichen als beim weiblichen Geschlecht diagnostiziert (laut DSM‑5 beträgt das Verhältnis männlich zu weiblich 4:1 für ASD und 1,6:1 bzw. 1,2:1 für milde bzw. schwere ID).
Genetische Architektur
„Neu und selten“
Entwicklungsstörungen gehen mit einer erniedrigten Fruchtbarkeit bzw. Reproduktion einher [6]. Aufgrund des negativen Selektionsdrucks ist davon auszugehen, dass genetische Varianten, die ein hohes Risiko für das Auftreten einer Entwicklungsstörung beinhalten, in der Allgemeinbevölkerung selten sind. Die hohe Rate von seltenen de novo, also neu auftretenden, nichtvererbten genetischen Varianten im Zusammenhang mit Entwicklungsstörungen unterstützt diese Theorie.
In ungefähr der Hälfte aller schweren Entwicklungsstörungen sind de novo Varianten ursächlich
Die Deciphering Developmental Disorders Study (DDDS, [1]) zeigte, dass in Individuen mit schwerer, ungeklärter Entwicklungsstörung „damaging“ Varianten in entwicklungsrelevanten Genen gehäuft auftreten. In dieser großen DDDS-WES-Studie wurden die Daten von > 4000 Individuen mit Entwicklungsstörungen mit den Daten aus einer Metaanalyse einer vergleichbaren Zahl von Individuen ohne derartige Erkrankungen kombiniert. Hierbei identifizierte die DDDS 94 Gene, in denen „damaging“de novo Varianten gehäuft auftreten und die sich somit als Kandidatengene für Entwicklungsstörungen qualifizieren. (Von Krankheitsgenen spricht man erst, sobald der Zusammenhang zwischen einem Gen und einer Krankheit in mindestens zwei unabhängigen Studien bzw. in einer ausreichend großen Kohorte erbracht wird.) Die Autoren schätzen, dass ungefähr 42 % der Teilnehmer krankheitsverursachende „damaging“ De-novo-Varianten in kodierenden Genabschnitten aufweisen. Von diesen Varianten wird angenommen, dass ungefähr die Hälfte die Genfunktion vollständig zerstört und die restlichen die Genfunktion nachhaltig verändern. Hieraus schlussfolgern die Autoren, dass de novo Varianten in ungefähr der Hälfte aller schweren Entwicklungsstörungen ursächlich sind. Gleiches konnte in einer Studie zu ASD gezeigt werden, bei der sich bei 5,2 % aller Patienten eine Anreicherung seltener De-novo-Varianten fand, im Vergleich zu 1,6 % der nichtbetroffenen Geschwister [8].
„Neurodevelopmental continuum hypothesis“ und „gradient hypothesis“
Diese Zahlen unterstützen auch die Hypothese eines Kontinuums der Entwicklungsstörungen, beginnend mit sehr hohen Raten seltener „damaging“ De-novo-Varianten in den schweren frühkindlich beginnenden Entwicklungsstörungen, abflachend zu den psychiatrischen Erkrankungen mit niedrigeren Raten und dabei einem erhöhten Einfluss von Umweltfaktoren („gradient hypothesis“), Abb. 2.
SCN2A: von benigner familiärer Säuglingsepilepsie zur Autismus-Spektrum-Störung
Dieses Phänomen und seine praktische Bedeutung lässt sich am Beispiel pathogener Varianten des SCN2A-Gens illustrieren. Das SCN2A-Gen kodiert eine Untereinheit des „neuronal voltage-gated sodium channel NaV1.2“. Pathogene Varianten des SCN2A-Gens sind als Ursache eines weiten Spektrums von Entwicklungsstörungen bekannt, einschließlich der benignen familiären neonatal/infantilen epileptischen Anfälle, verschiedener Formen der frühen infantilen epileptischen Enzephalopathie („early infantile epileptic encephalopathy“, EIEE) und ASD/ID mit oder ohne epileptische Anfälle. Varianten mit einem Funktionsgewinn („gain of function“, GoF) resultieren in einer gesteigerten Aktivität des Natriumkanals und sind mit dem infantilen Beginn einer Epilepsie assoziiert, wohingegen Varianten mit einem Funktionsverlust („loss of function“, LoF) zu einer verminderten Funktion des Natriumkanals führen und sich als ASD oder DD/ID (mit/ohne Epilepsie) präsentieren. Der Vollständigkeit halber soll erwähnt sein, dass auch eine periodische Ataxie zum Spektrum der SCN2A-Erkrankungen gehört. Diese Genotyp-Phänotyp-Assoziationen können bei der Vorhersage der Art und Schwere des resultierenden klinischen Verlaufs helfen.
Die durch SCN2A kodierte Untereinheit des Natriumkanals ist an der Initiierung und Weiterleitung von Aktionspotenzialen beteiligt. Die genaue Kenntnis dieses zugrunde liegenden Pathomechanismus ist für die Wahl der Antiepileptika wichtig; so können Natriumkanalblocker erfolgreich bei GoF-Varianten eingesetzt werden, verschlimmern aber – erwartungsgemäß – die Epilepsie bei Kindern mit ID/ASD und Epilepsie als Folge von LoF.
1 % Risiko der Vererbung einer autosomal-rezessiven Erkrankung
Neben diesem Neuauftreten als häufigstem „Vererbungsmodus“ spielen auch andere Vererbungsmodi eine wichtige Rolle beim Auftreten von Entwicklungsstörungen. Kürzlich konnte in einer Studie gezeigt werden, dass ca. 1 % aller europäischen Paare das genetische Risiko haben, ein Kind mit einer autosomal-rezessiv (AR) vererbten genetischen Erkrankung zu bekommen. Dieses Risiko steigt auf 16,5 % in konsanguinen Partnerschaften [3]. Die Daten beruhen auf der Auswertung von > 6400 WES-Analysen, bei der festgestellt wurde, dass jeder Teilnehmer mindestens 2 pathogene Varianten in bekannten Krankheitsgenen trägt. Diese Daten sind insbesondere in der präkonzeptionellen Beratung von konsanguinen Paaren wichtig. Eine weitere Studie derselben Autoren [7] konnte diese theoretischen Annahmen bestätigen. In den präkonzeptionellen WES-Analysen von 100 konsanguinen Paaren wurden in 28 Paaren bei beiden Partnern AR-Varianten nachgewiesen, die folglich ein 25 %-Risiko beinhalten, ein Kind mit dieser Krankheit zu bekommen.
„Treatable intellectual disability“: vom Gen zur maßgeschneiderten Behandlung
Aufgrund der Behandlungsmöglichkeiten sind angeborene Stoffwechselerkrankungen („inborn metabolic diseases“, IMD) als Beispiel für AR vererbte Entwicklungsstörungen zu nennen. Im Rahmen des Treatable-Intellectual-Disability(Treat-ID)-Projekts wurden 116 IMD identifiziert, für die eine evidenzbasierte Behandlung beschrieben ist. Diese Interventionen sind häufig ebenso überraschend günstig, nebenwirkungsarm wie effektiv und umfassen neben spezielle Diäten Vitamingaben oder die Anwendung anderer Nahrungsergänzungsmittel. Die website www.treatable-id.org (ebenso die gleichnamige kostenlose App, erhältlich für Apple und Android) listet alle Erkrankungen, die zugrunde liegenden Krankheitsgene, diagnostische Tests und Behandlungsmöglichkeiten auf.
„Mind the gap!“
Die Suche in der Datenbank Online Mendelian Inheritance in Man (OMIM) mit dem Begriff „(neuro)developmental disorder“ liefert aktuell (April 2021) > 546 Einträge für Krankheitsbilder, in deren phänotypischer Beschreibung der Begriff Entwicklungsstörung vorkommt und für die der zugrunde liegende genetische Defekt bekannt ist. Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass Entwicklungsstörungen auch aufgrund anderer (mono)genetischer Varianten z. B. der mitochondrialen DNA oder aufgrund von intragenischen Expansionen von Basentripletts (z. B. Fragiles-X-Syndrom) entstehen können, und dass epigenetische Phänomene („Imprinting“-Erkrankungen wie das Prader-Willi‑/Angelman-Syndrom) ein Rolle spielen. Diesen Beispielen für monogenetische Erkrankungen liegen meist „single nucleotide variants“ (SNV, Substitution, Deletion oder Duplikation eines einzelnen Basenpaars) zugrunde. Daneben ist zu beachten, dass auch „copy number variants“ (CNV, z. B. Mikrodeletionssyndrome, detektierbar mithilfe des WES oder chromosomaler Microarrays) oder Chromosomenaberrationen (z. B. Trisomie 21, detektierbar mithilfe der Karyotypisierung) Entwicklungsstörungen verursachen können. Dies ist wichtig bei der Auswahl der diagnostischen Methoden (auch im WES lassen sich nicht alle Krankheiten „sehen“), soll aber hier nicht weiter vertieft werden (einen Überblick bietet [12]).
Murmeltiersprechstunde
Einschlusskriterien und Ablauf
Das einzige Einschlusskriterium zur Teilnahme an der Murmeltiersprechstunde stellt eine bisher ungeklärte Entwicklungsstörung dar. Bis auf einzelne Ausnahmen sind die Kinder mit Entwicklungsstörungen bereits im Kinderzentrum Salzburg bekannt; Anmeldungen werden von der Koordinatorin (S.B.W.) beurteilt; die ggf. notwendige Anforderung zusätzlicher (externer) Befunde sowie die Terminabstimmung und Zusendung schriftlicher Informationen zum Ablauf mit den Eltern erfolgen durch das Sekretariat. Zweimal monatlich ist ein Einzelzimmer in der Tagesklinik von 8.30 Uhr–ca. 14.00 Uhr für die Murmeltiersprechstunde reserviert; die Anwesenheit beider Elternteile wird vorausgesetzt. Alle Daten der Murmeltierstudie werden im Rahmen einer hypothesengenerierenden Registerstudie erhoben (Votum der Ethikkommission Salzburg, 415-E/2552/10-2019).
Diagnostik
„Deep phenotyping“
Nach Erhebung der anthropometrischen Daten (und Ausschluss einer Infektion) in der allgemeinen Ambulanz erfolgt die Aufnahme in die Tagesklinik. Nacheinander (8.30–11.00 Uhr) finden die ausführliche Erhebung der Vorgeschichte/die Sichtung der Vorbefunde, die Anamnese sowie die körperliche Untersuchung durch jeweils einen Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde (KJH) mit Spezialisierung auf angeborene Stoffwechselerkrankungen (S.B.W., J.S.) und Neuropädiatrie (M.P., K.S., J.K., C.R.) statt, ebenfalls erfolgt ein Konsil durch einen Facharzt für Humangenetik (E.F.). Jeder Facharzt legt den Nachdruck auf sein Fachgebiet, z. B. durch die neurologische Untersuchung (Neuropädiatrie) bzw. das Anfertigen des ausführlichen Stammbaums über 3 Generationen, das Beschreiben und Festlegen von (fazialen) Dysmorphien (Humangenetik) etc.
Um 11.30 Uhr treffen sich die genannten Kollegen mit dem Laborleiter (J.A.M.), um gemeinsam die weiteren diagnostischen Schritte festzulegen. Im Anschluss bespricht die Koordinatorin (S.B.W.) die erhobenen Daten und das weitere Vorgehen mit den Eltern, holt die Einverständnisse für die genetischen Untersuchungen ein und führt die Blutabnahmen bei Kind und Eltern durch. Sobald die WES-Daten ausgewertet und befundet (R.G.F, J.A.M, S.B.W) sind, werden die Eltern zur Befundbesprechung (M.P,. S.B.W.) eingeladen.
Genetische Stufendiagnostik
Die Karyotypisierung (Auflösung 5–15 Mb), ein niedrig auflösender „whole genome approach“, wird genutzt, um Mono‑, Trisomien oder andere große chromosomale Imbalancen zu diagnostizieren. Zur Entdeckung kleinerer CNV eignet sich die Methode der genomischen Microarrays (Auflösung ca. 50–100 kb). Hiermit lassen sich CNVs an jeder Position im Genom entdecken, einschließlich rekurrenter Varianten, assoziiert mit Mikrodeletions‑/Mikroduplikationssyndromen (z. B. Williams-Beuren‑, Smith-Magenis-Syndrom). Eine Metaanalyse von 30 Studien zur Diagnostik von Entwicklungsstörungen konnte jedoch zeigen, dass die diagnostische Ausbeute („diagnostic yield“) der genomischen Microarrays mit 15–20 % gering ist [11]. Die Studie zeigte des Weiteren, dass die diagnostische Ausbeute mithilfe des WES mit 36 % (31 % für isolierte Entwicklungsstörung und 53 % für Entwicklungsstörung mit assoziierten Symptomen, wie z. B. Epilepsie) deutlich höher ist. (Außerdem ist die CNV-Analyse heutzutage auch aus WES-Daten möglich [5] und in vielen genetischen Laboren in den Auswertungsalgorithmus („diagnostic pipeline“) der WES integriert.)
Zur Erlangung einer hohen diagnostischen Ausbeute wird ein „WES-first“-Ansatz verfolgt
Daher wird, entsprechend dem publizierten „consensus statement“ [11], im Rahmen der Murmeltiersprechstunde ein „WES-first“-Ansatz verfolgt. Da eine Karyotypisierung schnell und kostengünstig verfügbar ist, wird diese vorab durchgeführt, um mithilfe der WES nicht entdeckte Chromosomenaberrationen auszuschließen.
Die Methode des WES wurde ausführlich in der Monatsschrift Kinderheilkunde beschrieben [12]. Hierzu werden ca. 3–5 ml mit Ethylendiamintetraessigsäure (EDTA) versetztes Blut benötigt (bei Säuglingen genügen 2 ml). Die generierten WES-Daten zeigen alle Abweichungen von der Referenzsequenz; diese werden als Varianten bezeichnet. Im Mittel finden sich bei jedem Menschen ca. 30.000 Varianten in den proteinkodierenden DNA-Abschnitten (Exonen) bzw. an den Exon-Intron-Grenzen. Die Mehrzahl dieser Varianten ist nicht krankheitsrelevant, es bedarf daher verschiedener Filterschritte. Zunächst wird geprüft, ob sich Varianten in bekannten OMIM-gelisteten Krankheitsgenen finden; häufig wird diese Suche als „klinisches WES“ bezeichnet. Abhängig von der Einschätzung der Variante kann diese direkt als pathogen berichtet werden. Bei einer „Variante unklarer Signifikanz (VUS)“ sind ergänzende funktionelle Untersuchungen z. B. in Fibroblasten und/oder eine erneute/erweiterte Phänotypisierung des Patienten notwendig, um diese als krankheitsverursachend einzustufen. Oben genannte Schritte werden sowohl unter den Annahmen eines autosomal-dominanten (AD), eines AR, eines X‑gebundenen und mtDNA-bezogenen Vererbungsmodus durchgeführt. Zusätzlich wird aus den WES-Daten eine CNV-Analyse durchgeführt.
Generell ist ein Eltern-Kind(Trio)-WES leichter auszuwerten, da sofort ersichtlich ist, ob z. B. 2 Varianten beim Kind biallelisch vorliegen oder eine Variante de novo entstanden ist. Prinzipiell ist es aber auch möglich, einzelne Varianten im „single WES“ zu priorisieren und diese bei den Eltern gezielt mithilfe der Sanger-Sequenzierung zu untersuchen.
Finden sich in den bekannten krankheitsrelevanten Genen keine Varianten, die ursächlich mit dem Phänotyp des Patienten in Zusammenhang gebracht werden können, folgt die Suche nach potenziell pathogenen Varianten in allen Genen.
Ergebnisse
Bisher wurden 48 Patienten im Rahmen der Murmeltiersprechstunde gesehen (37 Jungen, 77 %). In Tab. 1 sind alle klinischen Phänotypen sowie vorhandene zusätzliche Befunde der gelösten Patienten aufgelistet; die entsprechenden Daten für die ungelösten bzw. exkludierten Patienten sind in Tab. 2 zu finden. Neben der Entwicklungsstörung (in 8/48 = 17 % lag ebenfalls ASD vor) wurden die folgenden klinischen Phänotypen am häufigsten gefunden: Bewegungsstörung, Tonusdysregulation (muskuläre Hypo‑/Hypertonie, z. T. kombiniert), Epilepsie und (faziale) Dysmorphien, Makrozephalie (Abb. 3).
Das Alter der Patienten bei Vorstellung betrug 1,2 bis 12,0 Jahre (Median 4,0 Jahre). Nach Exklusion von 5 Patienten (Details: Tab. 1) wurde bei 43 Patienten die weitere Diagnostik eingeleitet.
Bei 42 Patienten wurde eine WES eingeleitet, bei einem Patienten (P3) ergab sich bereits bei der Karyotypisierung eine Diagnose. Insgesamt konnten bei 21/43 Patienten (49 %) pathogene Varianten in einem bekannten Krankheitsgen (GFUS bei Patient 5 und CHD3 bei Patient 16 wurden von den Autoren als Krankheitsgene publiziert [2, 9]) sowie bei 3/43 Patienten (7 %) ein bekanntes Deletionssyndrom gefunden werden. Bei 5/43 Patienten (12 %) wurden Varianten in Kandidatengenen identifiziert, die weiter funktionell charakterisiert werden. Alle Genotypen sind in Tab. 1 gelistet. Die Diagnoserate war höher bei Individuen mit Entwicklungsstörungen ohne ASD (Varianten in Krankheitsgenen 67 %, in Krankheits- und Kandidatengenen 70 %) als mit ASD (15 % bzw. 63 %).
Diese 29 Diagnosen wurden den Eltern mitgeteilt; in den restlichen 14 Fällen wurde mitgeteilt, dass mithilfe des WES und der Karyotypisierung keine Diagnose gestellt werden konnte. Insgesamt fanden sich für 14 dieser 29 Diagnosen (48 %) zugrunde liegende monoallelische De-novo-Varianten, in 2/29 Fällen (7 %) monoallelische AD vererbte Varianten (mit unterschiedlicher Penetranz), in 11/29 Fällen (38 %) AR vererbte biallelische Varianten. In einem Fall wurde eine X‑gebundene vererbte Variante (mit skewed X‑inactivation bei der Mutter) identifiziert; in einem Fall war keine Untersuchung beider Elternteile möglich. Mitochondriale DNA-Varianten/maternale Erbgänge wurden nicht gefunden (Abb. 4). Die Zeit zwischen der Aufnahme in die Tagesklinik und der Befundmitteilung betrug durchschnittlich 6,4 Monate.
Bei 7 von 43 (16 %) der Patienten gelang der Schritt vom Genotyp zur maßgeschneiderten Therapie
Bei 2 Kindern (P9 und P10) mit motorischer Entwicklungsverzögerung und nichtprogressiver Stand- und Gangataxie wurden pathogene Varianten des NKX2‑1-Gens gefunden. Das Spektrum der NKX2‑1-Erkrankungen betrifft das zentrale Nervensystem, die Schilddrüse und die Lungen. Kennzeichnend ist die choreatiform-ataktische Bewegungsstörung; in den meisten Fällen findet sich eine behandlungsbedürftige Schilddrüsenunterfunktion. Zusätzliche Symptome reichen von neonatalen respiratorischen Anpassungsstörungen bis zur Lungenfibrose. Bei beiden Kindern wurde ein individueller Heilversuch mit Tetrabenazin begonnen. Dieser verbesserte die Bewegungsstörung bei dem seit 1,5 Jahren behandeltem Jungen (Patient 9). Bei dem Mädchen (Patient 10) wurde die Therapie erst kurz vor Druckfreigabe dieses Artikels eingeleitet; bei ihr wurde bereits vor der genetischen Diagnose eine Normalisierung der Schilddrüsenfunktion mithilfe einer Thyroxingabe erreicht. Der Junge hat keine Schilddrüsenfehlfunktion.
Bei einem anderen Jungen (P 4) wurde eine HPRT1-bezogene Erkrankung festgestellt (X-gebunden, Mutter symptomfreie Trägerin mit Skewed X‑inactivation). Bei Aufnahme in die Studie lagen eine DD und Rumpfhypotonie vor; der 1,2-Jährige äußert sich nonverbal. Zum Zeitpunkt der Befundmitteilung 5 Monate später hatte er bereits eine deutliche Bewegungsstörung der oberen Extremitäten entwickelt, sodass die Diagnose eines Lesch-Nyhan-Syndroms gestellt wurde. Dies ist die schwerste Form der HPRT1-bezogenen Erkrankungen. Allen Formen dieser Purinstoffwechselstörung gemeinsam ist die erhöhte Harnsäureproduktion, die das Auftreten von Nierensteinen und Gichtarthritis bedingt. Hinzu kommen verschieden schwer ausgeprägte ID/DD sowie nahezu therapierefraktäre Bewegungs- und Verhaltensstörungen mit schwer selbstverletzendem Verhalten. Eine pathomechanismusbasierte Therapie mit Allopurinol zur Verhinderung der nichtneurologischen Symptome wurde eingeleitet ebenso wie eine symptomatische Therapie der Bewegungsstörung mit oral verabreichtem Baclofen.
Bei 2 weiteren Patientinnen (P5 und P6) wurden „congenital disorders of glycosylation“ (CDG) diagnostiziert. Auch hieraus ergaben sich pathomechanismusbasierte Therapieansätze mithilfe der oralen Supplementierung mit Fucose [2] bzw. einer anderen Substanz, letztere kann im vorliegenden Beitrag aufgrund laufender Begutachtung der Studie nicht weiter vertieft werden. Interessant ist, dass diese CDG-Syndrome keine Auffälligkeiten in der isoelektrischen Fokussierung von Transferrin aufweisen und somit auch nicht bei einem erweiterten Stoffwechselscreening gefunden worden wären.
Für eine CLTC-Defizienz ist in der Literatur in einem Fall ein Neurotransmittermangel beschrieben, der sich nach Gabe des Monoaminooxidase(MAO)-B-Hemmers Selegilin besserte. Eine notwendige diagnostische Liquorpunktion wurde in diesem Fall (P7) jedoch von den Eltern abgelehnt.
Bei Patientin 8 wurde eine doppelte Diagnose (metachromatische Leukodystrophie und Charcot-Marie-Tooth-Neuropathie) diagnostiziert und eine palliative Behandlung eingeleitet.
Diskussion und Resümee
Die vorgestellte Studie zeigt, dass die Diagnostik von Entwicklungsstörungen durch ein multidisziplinäres Team alltagstauglich ist. Es konnte eine hohe diagnostische Ausbeute erzielt werden, und die Diagnosen hatten vielfach eine über die reine Beratung und Familienplanung hinausgehende Behandlungskonsequenz. Die Autoren hoffen, hiermit einen Impuls zum Aufbau ähnlicher Programme geben zu können. Dabei ist sicherlich die Finanzierung des WES ein wichtiger Faktor. Für alle Patienten der Murmeltiersprechstunde wurde die WES jeweils auf Antrag von der Krankenkasse übernommen.
Fazit für die Praxis
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Die Diagnostik von Entwicklungsstörungen unter Einsatz von Karyotypisierung und „whole exome sequencing“ (WES) ermöglicht eine hohe diagnostische Ausbeute (56 %, unter Berücksichtigung von Kandidatengenen 68 %) in einer kurzen Zeit (durchschnittlich 6 Monate zwischen Aufnahme in die Tagesklinik und Befundmitteilung).
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Die dargestellte Vorgehensweise mit einer eng abgestimmten tagesklinischen Untersuchung im multiprofessionellen Team aus (niedergelassenen) FachärztInnen für Kinder- und Jugendmedizin, Neuropädiatern, FachärztInnen für Humangenetik und genetischen Laborspezialisten ist ein schneller und unkomplizierter Weg zur Diagnose.
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Aus einer genetisch basierten Diagnosestellung konnte in 7 von 43 Patienten (16 % der Fälle) eine „personalized precision medicine“-Behandlung abgeleitet werden.
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Die Versorgung von Patienten mit Entwicklungsstörungen sollte multidisziplinär und in enger Absprache mit den heimatnahen ÄrztInnen im Rahmen von Zentren für seltene Erkrankungen gebündelt werden.
Literatur
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Wortmann SB, Duba HC (2018) Angewandte Genetik in der Pädiatrie. Monatsschr Kinderheilkd 166:774–784
Danksagung
Wir danken Frau Martina Brunner für die sekretarielle Unterstützung und Frau Evelyn Gamsjäger für die Unterstützung bei der Umsetzung in den klinischen Alltag. Die Studie entstand im Rahmen des von der Österreichischen Nationalbank geförderten Projektes Kindliche Entwicklungsstörung – vom Gendefekt zur maßgeschneiderten Behandlung (Jubiläumsfond Nr. 18023, Projektleiterin S.B.W.).
Funding
Open access funding provided by Paracelsus Medical University.
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Authors and Affiliations
Corresponding author
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Interessenkonflikt
S.B. Wortmann, M. Preisel, R.G. Feichtinger, E. Floride, J. Koch, N. Kleber, K. Kranewitter, C. Rauscher, J. Spenger, K. Steinbrücker, W. Sperl, D. Weghuber und J.A. Mayr geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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Redaktion
Wolfgang Sperl, Salzburg
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Wortmann, S.B., Preisel, M., Feichtinger, R.G. et al. Multidisziplinäre Diagnostik von Entwicklungsstörungen: Grundlage der „personalized precision medicine“. Monatsschr Kinderheilkd 169, 815–827 (2021). https://doi.org/10.1007/s00112-021-01257-y
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00112-021-01257-y