FormalPara Infobox 1 Weitere Informationen zum Thema online

Bundesverband Autismus Deutschland: www.autismus.de

Österreichische Autistenhilfe: www.autistenhilfe.at

M‑CHAT Übersetzungen zum Download: https://mchatscreen.com

Beispiel für internationale Autismusselbsthilfe: www.autismspeaks.org

AWMF-S3-Leitlinie Autismus Diagnostik: www.awmf.org

AWMF-S3-Leitlinie Therapie in Arbeit: www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/028-047.html

Hintergrund

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zeichnen sich durch ihre Heterogenität aus, gleichen sich aber in ihrem phänotypischen Kern: der Beeinträchtigung der Entwicklungsprozesse, welche die soziale Interaktion und Wechselseitigkeit begründen.

Die Prävalenz von ASS liegt bei 0,9–1,1 % [1]. Bezüglich des Geschlechterverhältnisses überwiegt mit 3–4:1 das männliche Geschlecht. Weibliche Betroffene scheinen häufiger unerkannt zu bleiben und später diagnostiziert zu werden [2]. Die Prävalenz von ASS bei Geschwisterkindern liegt bei 10–20 % [3].

Die genaue ätiologische Grundlage von ASS ist ungeklärt, wenngleich 74–93 % des ASS-Risikos genetisch bedingt sind [4]. Es wurden bisher keine Genveränderungen gefunden, welche ein spezifisches ASS-Risiko bedingen, ohne einen mindestens ebenso großen Risikoanteil bezüglich weiterer Entwicklungsstörungen oder Epilepsie mitzutragen [5].

Belegte, nichtgenetische Risikofaktoren sind u. a. erhöhtes Konzeptionsalter (Mutter ≥ 40 LJ; Vater ≥ 50 LJ), Valproatexposition in der Schwangerschaft sowie Frühgeburtlichkeit < 32 SSW. Impfungen ließen sich als Risikofaktoren ausschließen [6].

Im Vergleich zu „neurotypischen“ Kindern weisen Kinder mit ASS ein akzeleriertes ZNS-Wachstum mit veränderter Konnektivität auf. Dies könnte im Zusammenhang stehen, mit den gehäuft unspezifisch auffälligen EEG-Befunden [7].

Klassifikation

Die in der ICD-10 (Tab. 1) gewählte kategoriale Einteilung tiefgreifender Entwicklungsstörungen lässt sich weder auf klinischer, neurobiologischer noch kognitiver Ebene als stabil bewerten [8]. International wird überwiegend die DSM-5-Klassifikation, welche auch in der ICD-11 Entsprechung finden wird, verwendet. Diese fasst dimensional die unterschiedlichen Autismuskategorien unter dem Begriff ASS zusammen und sieht eine beschreibende Spezifizierung bezüglich kognitiver und sprachlicher Fertigkeiten vor (Tab. 1). Das in der ICD-10 als eigene Kategorie geführte Asperger-Syndrom, charakterisiert durch zumindest durchschnittliche Intelligenz und unauffällige formale Sprachentwicklung, findet sich im DSM‑5 so nicht mehr (Tab. 1).

Tab. 1 Autismus: ICD-10- und DSM-5-Klassifikation im Vergleich

Kernsymptome

Als herausragendes ASS-Kernsymptom ist die eingeschränkte Qualität/Quantität der sozialen Kommunikation und Interaktion zu verstehen: Es besteht im Vergleich zum kognitiven Entwicklungsniveau ein Defizit in der wechselseitigen Kommunikation und sozialen Interaktion. Die sozioemotionale Reziprozität ist auffällig (Imitieren, Aufbau von Blickkontakt, soziales Lächeln, geteilte Aufmerksamkeit, Verständnis von Distanz und Nähe).

Die Fähigkeit zu und das Verständnis von nonverbaler Kommunikation sind eingeschränkt. Es zeigen sich Schwierigkeiten in der situationsadäquaten Verwendung und Interpretation von „kommunikativem“ Blickkontakt, Gestik, Mimik, Intonation und Körpersprache.

Auch die pragmatische Verwendung von Sprache, ihr Einsatz zum zwischenmenschlichen Austausch, das Verständnis sprachlich-kommunikativer Konventionen wie „turn-taking“, das sich sprachlich An-das-Gegenüber-Anpassen sowie das Nutzen von Intonation gelingen nur eingeschränkt.

Die soziale Kognition und damit die Fähigkeit zum Aufbau und zum Erhalt von Freundschaften und Beziehungen sind beeinträchtigt.

Für die Diagnose einer ASS wird auch das Vorliegen von restriktiven und repetitiven Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten gefordert. Stereotype und repetitive Verhaltensweisen können sich sowohl motorisch, sprachlich als auch im Spielverhalten zeigen. Motorische Manierismen (z. B.: Hände wedeln, Körper wippen) finden sich bei ASS, aber auch bei Intelligenzminderung und/oder sensorischen Beeinträchtigungen.

Nichtfunktionale Verwendung unterschiedlicher Gegenstände im Sinne von Aufreihen nach bestimmten Mustern sowie repetitives Spiel nach exakten Ritualen und immer gleichen Abläufen sind häufig beobachtbare Symptome.

Kognitive Rigidität mit ihrem Ausdruck im Bestehen auf Routinen bzw. Nichttolerieren von Veränderung kann sich auf das Leben der ganzen Familie stark auswirken.

Eingeschränkte oder auch besonders intensive Interessen schränken den Alltag mit seinen Lernmomenten zusätzlich ein.

Sensorische Hypo- und/oder Hyperreaktivität können/kann die Emotionsregulation und Kooperationsfähigkeit beeinflussen.

ASS-Symptome über die Lebensspanne

Veränderungen des klinischen Erscheinungsbildes sind über die Lebenspanne beträchtlich (Abb. 1): Knapp zwei Drittel der betroffenen Kinder präsentieren sich mit ASS-typischen Symptomen bereits vor dem vollendeten zweiten Lebensjahr (Tab. 2). Bei zumindest einem Viertel zeigt sich eine kommunikative Regression zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat [9].

Abb. 1
figure 1

Prävalenz von Symptomen im Entwicklungsverlauf. Dicke der einhüllenden Linien repräsentiert die Häufigkeit. Blau umrandet: Kommunikation und soziale Interaktion. Grün: repetitive und stereotype Verhaltensmuster und Interessen [6, 7, 10, 13, 14, 30, 31]

Tab. 2 ASS-Frühsymptome [6, 7, 13]

Im Kindergartenalter führen zunehmend zutage tretende Symptome wie mangelndes Interesse an der Interaktion mit anderen (Wahrnehmung als „angenehm“ braves Kind, das sich selbst beschäftigt), fehlende Empathie, restriktive Interessen und ausgeprägte Stressreaktionen zur Abklärung. Im Schulalter sind Symptome wie Überfokussierung auf Lieblingsthemen, eingeschränkte soziale Fertigkeiten, Ängstlichkeit sowie Vermeidungsverhalten bezüglich sozialer Interaktion Hinweise. Insbesondere bei kognitiv gut begabten Kindern mit ASS bleibt eine Diagnosestellung oft lange aus.

Betroffene Erwachsene begeben sich nicht selten wegen eines zunehmenden Gefühls des Andersseins und des Nichtdazugehörens auf die Suche nach Erklärung und Hilfestellung.

Diagnosestabilität und Prognose von ASS

ASS-Kernsymptome finden sich in den meisten Fällen in unterschiedlicher Ausprägung über den Lebenszeitverlauf, allerdings erfüllen bis zu 20 % der Kinder, welche vor dem 3. Lebensjahr eine ASS-Diagnose erhalten, später die Diagnosekriterien nicht mehr. In diesen Fällen demarkieren sich dann meist andere Entwicklungsstörungen (Sprachentwicklungsstörungen, ADHS; [7]).

Die beste Prognose über die Lebensspanne haben ASS-betroffene Kinder, bei denen nach initialer Sprachverzögerung eine rasche Aufholentwicklung bis zum 3. Lebensjahr gegeben ist („bloomers“; [10]). Vor allem sprachliche und kognitive Fertigkeiten stellen Prädiktoren für das sozial-adaptive Outcome im Erwachsenenalter dar [11].

Bis zu ein Drittel der Kinder mit ASS zeigt sich als Erwachsene funktionell nahezu nonverbal, ohne dass dies durch die häufig assoziierte kognitive Beeinträchtigung ausreichend erklärbar wäre [12].

Erfassung und Diagnosestellung

Allein auf Basis des klinischen Eindrucks werden drei Viertel der von ASS betroffenen Kinder nicht rechtzeitig erkannt [13]. Zur frühen Erfassung können Screeningbemühungen beitragen. In der AWMF-S3-Leitlinie [6] zur Diagnostik von ASS wird derzeit keine Empfehlung für ein flächendeckendes, jedoch für ein verdachtsorientiertes Screening ausgegeben (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Laut AWMF-Leitlinie empfohlene Screening-Tools, bezogen auf das Alter bei Screening. M‑CHAT-R/F Modified Checklist for Autism in Toddlers Revised with Follow up questions, FSK Fragebogen zur Sozialen Kommunikation, SRS Skala für Soziale Responsivität, MBAS Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom. (Freitag und Vllasaliu [6])

ASS-Diagnostik

Nach einem positiven Screeningbefund bzw. bestehendem Verdacht hat eine spezialisierte diagnostische Abklärung zu erfolgen (Abb. 3). Für die Einleitung dieses Schrittes ist v. a. bei jungen Kindern der Kinderarzt entscheidend.

Abb. 3
figure 3

Schematische Darstellung des diagnostischen Flow. ADI‑R Diagnostisches Interview für Autismus – revidiert, ADOS Autism Diagnostic Observation Schedule, KG Kindergarten, Kita Kindertagesstätte

Eine multidimensionale und multiprofessionelle Entwicklungsabklärung bildet die Basis einer spezialisierten Diagnostik (Abb. 3). Je nach Lebensalter und Entwicklungsstand können standardisierte Fragebogen die Anamnese unterstützen. Ab einem Alter von 2 Jahren kann das „Diagnostische Interview für Autismus“ in seiner revidierten Fassung (ADI-R) verwendet werden [6].

Neben der klinischen Verhaltensbeobachtung ist eine standardisierte Verhaltensbeobachtung (ADOS‑2; Autism Diagnostic Observation Schedule; gegliedert in 5 Module mit Einsetzbarkeit ab dem 12. Monat bis ins Erwachsenenalter) sinnvoll [6].

Sowohl ADOS‑2 als auch ADI‑R zeigen in den Händen erfahrener Untersucher eine gute Sensitivität, aber eine geringe Spezifität. Auffällige Ergebnisse alleine können daher niemals eine ASS-Diagnose begründen [6].

Entscheidend für die Diagnosestellung ist die Integration der multiprofessionell erhobenen Befunde mit besonderem Augenmerk auf Differenzialdiagnosen und Komorbiditäten.

Ätiologisch-medizinische Abklärung

Die pädiatrisch-neurologische Untersuchung schließt die Frage nach Ätiologie, möglichen Komorbiditäten und generellen gesundheitlichen Aspekten mit ein (Abb. 4). Insbesondere für Stoffwechseluntersuchungen, EEG und cMRT gilt ein Vorgehen nach klinischer Indikation; eine ASS alleine rechtfertigt diese nicht.

Abb. 4
figure 4

Medizinische Abklärung nach ASS-Diagnose

Eine genetische Abklärung ist bei Hinweisen auf syndromale ASS und/oder Intelligenzminderung indiziert.

Differenzialdiagnosen und begleitende Störungen

Eine Reihe von Störungsbildern findet sich in einer erhöhten Rate bei ASS und kommt sowohl als Differenzialdiagnose als auch als Komorbidität in Betracht (Tab. 3). Angesichts dieser Problematik kann es teilweise sinnvoll sein, vor der diagnostischen Festlegung ein symptomatisch-therapeutisches Vorgehen zu wählen.

Tab. 3 Gegenüberstellung wichtiger Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen in Anlehnung an die AWMF-Leitlinie [6, 7]

Kognitive Beeinträchtigung

Im Rahmen der ASS-Abklärung ist die Beurteilung der kognitiven Funktionen, welchen ja auch eine erhebliche prognostische Bedeutung zukommt, elementar [14].

30–40 % der ASS-Betroffenen haben eine Intelligenzminderung, 14–24 % eine unterdurchschnittliche Intelligenz. Hochbegabung (3 %) und außergewöhnliche Inselbegabungen (z. B.: „savants“) sind selten [6, 15].

Bei schwerer kognitiver Beeinträchtigung mit kognitivem Referenzalter < 12 bis 14 Monaten ist eine ASS-Diagnose nicht möglich [16].

Sprachstörungen

Die formale Sprachentwicklung ist bei > 60 % der von ASS betroffenen Kindern beeinträchtigt und bleibt bei ca. zwei Dritteln bis zum 3. Lebensjahr im Wesentlichen aus. Bis zu ein Drittel autistischer Kinder erwirbt im Lebenszeitverlauf keine verbale Kommunikation [12, 14].

Im DSM‑5 wird eine „soziale Kommunikationsstörung“ als eigene Kategorie definiert, welche sich durch Fehlen von restriktiven und repetitiven Verhaltensweisen oder Interessen von ASS abgrenzt (Tab. 1).

Differenzialdiagnostisch stellen Sprachentwicklungsstörungen mit schwerer Einschränkung der rezeptiven Sprache eine Herausforderung dar. Betroffene Kinder verfügen in aller Regel über ein entwicklungsadäquates Repertoire gestischer und nonverbaler Kommunikationsmöglichkeiten, welches sie zur Interaktion in wechselseitiger Weise nutzen.

Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom

ADHS als Komorbidität liegt bei 28–43 % der Kinder mit ASS vor [17]. Etwa ein Drittel der ADHS-Patienten zeigt autismusähnliche Symptome wie Einschränkung der exekutiven Funktionen mit Emotionsdysregulation, eingeschränkte Rollenübernahmefähigkeit, oft flüchtig wirkendem Blickkontakt und einer v. a. auch in sozialen Kontexten wirksam werdenden Unaufmerksamkeit. Wichtiges Unterscheidungsmerkmal sind die Reziprozität, die nonverbale Kommunikation, der Gestengebrauch, das oft fantasievolle Spielverhalten und das prinzipielle Interesse an Beziehungen zu anderen.

ASS-ähnliche Symptome bei Kindern mit Deprivation

Seit Bowlbys WHO-Report [18] bezüglich institutioneller frühkindlicher Deprivation sind die schweren neurobiologischen, sozialen, verhaltensbezogenen und kognitiven Folgen, u. a. im Sinne einer schweren reaktiven Bindungsstörung, unbestritten. Waisenkinder mit > 6 Monaten Institutionalisierung zeigten als junge Erwachsene in 20 % der Fälle autismusähnliche Symptome, welche unter dem Begriff „Quasi-Autismus“ ihren noch nicht in Klassifikationen dargestellten Ausdruck finden [19]. Deprivationsphänomene zeigen sich v. a. in jungen Jahren bei adäquater Intervention als reversibel.

In diesem Kontext erscheint auch der frühe und intensive Konsum elektronischer Medien (z. B.: TV, YouTube-Kanäle, PC) auf Kosten direkter elterlicher Zuwendung ein entwicklungsgefährdender Faktor zu sein [20].

ASS-Symptome im Kontext von Sinnesbeeinträchtigungen sind eine differenzialdiagnostische Herausforderung. Die Prävalenz von ASS bei Personen mit Hörstörung, Sehstörung oder dualer Sinnesbeeinträchtigung ist aufgrund unzureichender diagnostischer Methoden uneindeutig. Bei Taubblinden zeigt sich, ebenso wie für Menschen mit schwerer Intelligenzminderung, dass stereotype Muster alleine keine ASS-Diagnose begründen können. Differenzierende Merkmale sind alleine die soziale Aufmerksamkeit, Zuwendungsfähigkeit und emotionale Wechselseitigkeit [21].

Emotionale und affektive Störungen

Im Hinblick auf emotional-affektive Störungen kommt den mutistischen Störungen und den Sozialphobien eine besondere differenzialdiagnostische Bedeutung zu [22].

ASS-Frühintervention und Begleitung

Strukturierte, programmbasierte Intervention mit frühem Beginn (2–4 LJ) ist effektiv [7]. ASS-spezifische Frühintervention scheint sich auch auf neurobiologischer Ebene auszuwirken. Veränderung der zerebralen Konnektivität und Normalisierung der EEG-Aktivität wurden gezeigt [23].

Frühintervention

Strukturierte Elternanleitungsprogramme (elternvermittelte Intervention) zur Stärkung der Eltern-Kind-Interaktion auf Basis eines sensitiven Erkennens von Möglichkeiten, um Aufmerksamkeit und Wechselseitigkeit in Spiel und Alltag zu vermitteln, zeigten signifikante Effekte auf die soziale Kommunikation der ASS-betroffenen Kinder [24, 25].

In patientenzentrierten, verhaltenstherapeutischen Interventionen werden Spielangebote und Möglichkeiten zur sozialen Interaktion mit Orientierung am natürlichen Entwicklungsverlauf gesetzt.

Diese therapeutenvermittelten Programme arbeiten meist im Eins-zu-Eins-Setting mit hoher Intensität (15–20 h/Woche). Signifikante Verbesserungen mit mittleren Effektstärken für kognitive und sprachliche Entwicklungsfortschritte wurden gezeigt [24].

Verschiedene evidenzbasierte Programme inkludieren Elternarbeit und direkt therapeutenvermittelte Intervention (z. B. Joint Attention, Symbolic Engagement and Regulation [JASPER] oder Early Start Denver Model [ESDM], [7]).

Im deutschsprachigen Raum besteht bezüglich strukturierter, programmbasierter Frühintervention ein versorgungsrelevantes Defizit. Evaluierte Adaptierungen z. B. des ESDM sind aber zunehmend beobachtbar [26].

Unterstützende, das Umfeld und Zeitabläufe strukturierende Konzepte (z. B. TEACCH [treatment and education of autistic and communication handicaped children and adults], [27]) helfen, den Alltag in allen Lebensphasen zu stabilisieren.

Begleitung im Schulalter und im frühen Erwachsenenalter

Mit zunehmendem Lebensalter gewinnen Beziehungen zu Gleichaltrigen an Bedeutung, was oftmals zur Überforderung von Kindern mit ASS führt und sich in schwierigen Verhaltensmustern niederschlagen kann.

Der Einsatz von Bildgeschichten, z. B. im Sinne des Ansatzes der „social stories“, ist hilfreich, um auf zu erwartende Ereignisse vorzubereiten oder um durch Erklärung alltäglicher Abläufe soziales Verständnis zu fördern (Abb. 5; [28]).

Abb. 5
figure 5

Beispiel einer einfachen visuellen Orientierungshilfe

Eine gute Einbindung der PädagogInnen und Aufklärung der Mitschüler sind wichtig, um die Entwicklung von unnötigen Traumatisierungen für betroffene Kinder hintanzuhalten und um entwicklungsfördernde Voraussetzungen zu etablieren.

Verbesserungen im Sozialverhalten bei Kindern im späten Vorschul- und Schulalter können durch gut strukturierte soziale Kompetenzgruppen erreicht werden [14].

Die sich oft mit zunehmendem Lebensalter verstärkt manifestierenden psychischen Probleme führen oft zur Behandlung mit Psychopharmaka [14] und spielen eine wesentliche Rolle bezüglich des Gelingens der Integration ins Arbeitsleben und der selbstständigen Lebensgestaltung.

Nur ein Viertel der von ASS betroffenen Erwachsenen mit durchschnittlicher Intelligenz lebt im eigenen Haushalt. Lebenspartnerschaften sind deutlich seltener als in der Allgemeinbevölkerung [7, 14].

Bei Jugendlichen mit zusätzlichen intellektuellen Einschränkungen stellt sich die Frage nach rechtlichen Vertretungsmöglichkeiten und Lebensformen mit dauerhafter Begleitung.

Therapie

Eine direkt die ASS-Kernsymptome adressierende medikamentöse Therapie ist derzeit nicht möglich. Sind verhaltensanalytische (z. B. ABC-Schema) und verhaltenstherapeutische Möglichkeiten ausgeschöpft, kann eine symptomorientierte medikamentöse Behandlung sinnvoll werden (Tab. 4). Grundprinzipien der medikamentösen Therapie sind hier v. a. klare Definition des Therapiezieles und der angedachten Therapiedauer, vorsichtige Aufdosierung und regelmäßige Überprüfung auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen.

Tab. 4 Exemplarische Auflistung möglicher Medikationsindikationen und ggf. geeigneter Medikamentengruppen. (Hyman et al. [14])

Diätetische Maßnahmen, darunter auch eine glutenfreie und kaseinfreie Diät, sind nicht ausreichend evidenzbasiert, um generell empfohlen werden zu können [7, 14]. Ähnliches gilt für viele weitere nichtevidenzbasierte Therapieansätze (z. B.: hyperbare Sauerstofftherapie, unterschiedliche Vitaminsubstitutionen etc.). Mit Familien, die sich dennoch für derartige Therapieansätze entscheiden, ist es wichtig, in respektvollem Kontakt zu bleiben, um ggf. Sekundärschäden zu vermeiden.

Arbeit mit Familien

Ein Kind mit Autismus prägt die Entwicklung einer gesamten Familie. Eltern berichten von höherer Stressbelastung und wirtschaftlichen Herausforderungen.

Es ist daher von großer Bedeutung, dass Kinderärzte/Kinderärztinnen oder Kinder- und Jugendpsychiater/-innen diesen Familien eine sozialmedizinische „Heimat“ bieten. Diese Heimat ist durchaus in Anlehnung an das Konzept des „medical home“ zu verstehen [29]. Dieses Modell geht von einer Partnerschaft zwischen Arzt/Ärztin und Familie aus, die sich u. a. in einer Kultur des gemeinsamen Entscheidungssuchens und -treffens („shared decision-making“) ausdrückt.

Ein weiteres Element des Medical home ist die Vernetzungsarbeit hin zu Selbsthilfeorganisationen und Einrichtungen der Sozialhilfe und des Bildungssystems. Dies ist umso bedeutungsvoller, wenn es gilt, Jugendliche mit ASS beim Gelingen des Übergangs ins Erwachsenenalter zu unterstützen.

Die Rolle des Medical home ist weniger mit einem spezifischen Setting als vielmehr an ärztliche Persönlichkeiten geknüpft, die Freude daran haben, mit Familien den Entwicklungsweg zu gehen und dabei dem Kind und den Eltern ihre Stärken bewusst zu machen, das Erreichen von Meilensteinen mitzufeiern und in Krisen Anlaufstelle zu sein, ohne die Familie zu bevormunden.

Fazit für die Praxis

  • Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zeigen eine Prävalenz von 1 % und gehen mit einer breiten Phänotypologie einher.

  • Früherkennung ist häufig bereits im 2. Lebensjahr möglich. Eine Schlüsselrolle kommt hier dem Kinderfacharzt v. a. im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen zu. Anreicherung dieser Untersuchungen um Fragen nach und gezielte Beobachtung von ASS-Frühzeichen (Tab. 2) und ggf. Anwendung von geeigneten Screenings (Abb. 2) sind sinnvoll.

  • Die differenzialdiagnostische Bandbreite ist groß. Eine spezialisierte multidimensionale Diagnostik ist unumgänglich.

  • Wichtige abzugrenzende, aber auch begleitende Störungen bei jungen Kindern sind v. a.: kognitive Entwicklungsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom und Sprachstörungen.

  • Angesichts der hohen Belastung für Familie und Umfeld ist ein kompetentes ärztliches Case Management mit Vernetzung zu Systempartnern aus Bildungs- und Sozialwesen notwendig.