Warum ist es so wichtig, Warnsignale frühzeitig zu erkennen?

Pädiatrische Onkologie – das ist keineswegs „nur etwas für den Spezialisten“. Die Prognose eines krebskranken Kindes hängt weniger vom spezialisierten Zentrum ab als von der zeitgerechten Diagnosestellung durch den niedergelassenen Kinder- und Jugendarzt oder den Assistenzarzt in der Kindernotaufnahme, der rechtzeitig an die onkologische Differenzialdiagnose denkt. Im Zentrum gewährleisten die Therapieoptimierungsprotokolle der Fachgesellschaften die Qualitätssicherung.

Warum werden Ärzte am häufigsten gerichtlich verurteilt? Nicht etwa wegen Fehlern in der Therapie, sondern wegen falsch gestellter Diagnosen. Dies zeigt eine Studie der John Hopkins University in Baltimore, in der eine Datenbank zu Entschädigungszahlungen bei Behandlungsfehlern aus dem Zeitraum 1986–2010 ausgewertet wurde [12]. Noch vor Operations- oder Medikamentendosierungsfehlern rangieren hier mit knapp 29 % der insgesamt gut 350.000 Beschwerden die Diagnosefehler. Diese führten zu Entschädigungen in Höhe von knapp 39 Mrd. Dollar.

In einer in Clinical Pediatrics 2017 veröffentlichten retrospektiven Kohortenstudie mit 265 an Krebs erkrankten Kindern wurde untersucht, in welchem Bereich die häufigsten diagnostischen Fehler bei pädiatrischen Krebserkrankungen auftraten. Insgesamt traten in 28 % der Fälle diagnostische Fehler auf. In jeweils knapp 50 % dieser Fälle handelte es sich um mangelndes Erkennen typischer Symptomkonstellationen (45 %) bzw. fehlende weiterführende Abklärung persistierender Symptome (47 %). Bei mehr als der Hälfte der betroffenen Patienten betrug die Zeit von initialer Vorstellung zur Diagnosestellung mehr als 6 Wochen. Falsche Interpretation der Befunde durchgeführter diagnostischer Untersuchungen wie Laboranalysen oder Bildgebung trat im Gesamtkollektiv dagegen lediglich in 8 % bzw. 5 % der Fälle auf [3].

Die Bedeutung der rechtzeitigen Diagnosestellung wird klar, wenn man bedenkt, dass hier meist unabänderlich die Weichen für spätere Behandlungserfolge und Nebenwirkungen gestellt werden: Die Latenz zwischen Auftreten der ersten Symptome und Diagnosestellung korreliert mit dem Stadium. Das Stadium wiederum korreliert mit der Prognose.

Auch bei relativ guter Prognose – 82 % der Kinder unter 15 Jahren überleben eine Krebserkrankung mindestens 15 Jahre [7] – muss berücksichtigt werden: Je weiter fortgeschritten das Stadium, desto intensivere Therapie und dementsprechend stärkere Nebenwirkungen und Langzeit- bzw. Spätfolgen gehen damit meist einer.

Zur Illustration: Im Fall eines Non-Hodgkin-Lymphoms beträgt die Latenz zwischen lokalisiertem und fortgeschrittenem Stadium gerade einmal zweieinhalb Wochen [9]. Werden mögliche Erstsymptome also zweieinhalb Wochen übersehen und keine weitere Diagnostik eingeleitet, kann sich aus einem lokalisierten bereits ein fortgeschrittenes Stadium entwickelt haben.

Bei Kindern metastasieren Malignome oft früh

Krebspatienten sterben zu 90 % nicht am Primärtumor, sondern an den Metastasen [4]. Bei Kindern metastasieren Malignome oft früh. Auch daraus ergibt sich die besondere Bedeutung der Früherkennung bei Kindern.

Als Erstsymptom sind bei Knochentumoren mit Extremitätenbefall häufig lokale Schwellungen und/oder Schmerzen zu verzeichnen. Tumoren in Becken und Thorax jedoch wachsen oft länger unerkannt. Im Fall des Ewing-Sarkoms ist es allerdings kontrovers, inwieweit das Intervall zwischen erstem Symptom und Therapiebeginn von prognostischer Bedeutung ist. Jedenfalls ist das Intervall zwischen Erstsymptom und Diagnose von allen pädiatrischen Tumoren beim Ewing-Sarkom eines der Längsten [2, 6, 10].

So zeigte sich in einer Studie von Goyal et al. 2004 eine durchschnittliche Latenzzeit von Erstsymptom und Diagnosestellung von 3,8 Monaten für das Osteosarkom und das Ewing-Sarkom. Die Latenzzeit hatte hier keinen Einfluss auf das ereignisfreie Überleben [6]. Auch Brasme et al. zeigen in einer prospektiven Multizenterstudie aus dem Jahr 2014, dass die Zeit bis zur Diagnosestellung („time to diagnosis“) nicht mit Metastasierung, chirurgischem Outcome oder Überleben assoziiert ist [1]. Die frühe Diagnose bei Knochentumoren hat allerdings im Rezidiv Bedeutung für die Operabilität von Metastasen und die Vermeidung von Mutilationen.

Insgesamt ist die Herausforderung groß. Anders als bei Erwachsenen gibt es keine Krebsfrüherkennungsuntersuchungen. Die Symptome können je nach Entität und Lokalisation des Malignoms zudem höchst heterogen sein und sind oftmals unspezifisch.

Was sind die häufigsten Warnzeichen?

In einer Studie der Universitätsklinik Heidelberg aus dem Jahr 2006 zur Untersuchung maligner Tumorerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen durch Beobachtung von 90 unselektionierten neu erkrankten onkologischen Patienten zeigte sich über die Jahre 1999–2000 die in Abb. 1 dargestellte Verteilung.

Abb. 1
figure 1

Symptome maligner Tumorerkrankungen im Kindesalter. Mehrfachnennungen möglich. Sonstige: Harnverhalt, Hämaturie, Dysurie, Kopfschiefhaltung, Opso‑/Myoklonus, Virilisierung. (Nach Selle [13])

Etwa ein Drittel der Patienten wies Knochenschmerzen oder -schwellungen als Erstsymptom auf. Mehr als 20 % fielen durch bereits bei Erstinspektion sichtbare Symptome wie Hautblässe oder -effloreszenzen/-blutungen auf. Des Weiteren traten Schwellungen der Weichteile (10 %) bzw. Lymphknoten (13 %) sowie Kopfschmerzen (11 %) und Erbrechen (13 %) als Erstsymptome auf. Bei 14 % standen Bauchschmerzen bzw. -schwellung im Vordergrund.

Kopf- und Bauchschmerzen, Erbrechen und Lymphknotenschwellungen gehören jedoch mit zu den häufigsten Vorstellungsgründen pädiatrischer Patienten in der Praxis oder Notaufnahme.

Krebserkrankungen machen, bezogen auf die Gesamterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, mit einer Inzidenz von etwa 1800 Kindern unter 15 Jahren pro Jahr in Deutschland lediglich 1 % aller Erkrankungen aus und sind damit selten. Zugleich sind sie jedoch die am häufigsten auftretende tödliche Erkrankung [7].

Daraus ergibt sich die Frage:

Wie das Seltene im Häufigen finden?

Anhand der Beachtung von 5 einfachen Regeln („Die 5 Schwabinger Regeln“) kann bereits ein Großteil der malignen Erkrankungen im Kindesalter erkannt werden.

Regel 1.

Bei normozytärer Anämie ohne Hämolyse: Leukämie/aplastische Anämie ausschließen.

Nicht nur durch eine Leukämie, auch durch Knochenmarkmetastasierung oder eine angeborene bzw. erworbene aplastische Anämie kann es zu Blässe und Abgeschlagenheit sowie durch Thrombozytopenie zu Petechien kommen. Im Rahmen einer akuten myeloischen Leukämie (AML) sind zudem, wenn auch selten, leukämische Hautinfiltrate möglich. Gerade in Kombination mit weiteren möglichen Frühsymptomen wie Knochenschmerzen, Lymphknotenschwellungen oder Hepatomegalie muss an eine Leukämie gedacht werden. Leukämien allein machen etwa 30 % aller Malignome im Kindesalter aus (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Häufigste Malignome bei Kindern. (Kinderkrebsregister [7])

Regel 2.

Bei Kopfschmerzen und Nüchternerbrechen: Hirntumor ausschließen.

Gerade in der Kombination der beiden Symptome muss an die zweitgrößte Entität kindlicher Malignome gedacht werden: Hirntumoren (24 %). Neben Kopfschmerzen und Erbrechen können fokale Krampfanfälle, Sehstörungen, Schielen, Persönlichkeitsveränderungen, aber auch weniger augenscheinliche Auffälligkeiten wie Schulschwierigkeiten oder, v. a. bei Kleinkindern, erhöhte Reizbarkeit als zusätzliche Hinweise auffallen.

Regel 3.

Bei 4 Wochen konstanten isolierten Knochenschmerzen: Malignom ausschließen.

Knochenschmerzen können fokal auftreten (eher bei Knochentumoren) oder diffus (im Rahmen von Leukämien, Lymphomen, Neuroblastomen oder Hirntumoren).

Hierzu ein Beispiel aus der Klinik der Autoren: Ein 16-jähriger Junge beklagt seit 2 Wochen thorakale Schmerzen und Husten. Der Vater, ärztlicher Kollege, lässt bei Verdacht auf eine Infektion lediglich ein Röntgen des linksseitigen Hemithorax durchführen (Abb. 3). Hier wird trotz eindeutiger radiologischer Malignitätszeichen (destruktive Läsion der 8. Rippe) die Verdachtsdiagnose gutartiger Knochentumor gestellt; eine weitere Abklärung erfolgt zunächst nicht. Einen Monat später zeigt sich in einer dann erfolgten CT-Thorax-Untersuchung ein Tumor mit Destruktion der 8. Rippe, Pleuraerguss und Lungenmetastasen (Abb. 4 und 5). In der Histologie erfolgt die Diagnosestellung eines hochmalignen osteoblastischen Osteosarkoms.

Bei Berücksichtigung dieser 4‑Wochen-Regel hätte eine frühere Diagnosestellung erfolgen und damit möglicherweise der Übergang in ein fortgeschrittenes Stadium verhindert werden können.

Abb. 3
figure 3

Knöcherner linksseitiger Hemithorax in 2 Ebenen: Verdacht auf gutartigen Knochentumor. a a.p., b seitlich

Abb. 4
figure 4

Computertomographie des Thorax: ausgeprägter Erguss

Abb. 5
figure 5

Computertomographien des Thorax. a Knochenfenster: Tumor mit Destruktion der 8. Rippe und Pleuraerguss, b Lungenfenster: Lungenmetastase

Regel 4.

Bei jeder unklaren Schwellung, die länger als 6 Wochen dauert: bis zum Beweis des Gegenteils von einem Malignom ausgehen.

Hier ist neben Lymphknotenschwellungen insbesondere an das Rhabdomyosarkom zu denken – das häufigste Weichteilsarkom bei Kindern. Die häufigsten Lokalisationen sind Kopf, Hals, Orbita, Extremitäten, Urogenitalregion, Retroperitoneum und Becken. Ein Rhabdomyosarkom kann auch in Körperregionen ohne Muskulatur vorkommen. Weichteilsarkome machen 6 % aller Krebserkrankungen bei Kindern aus. In der Mehrzahl der Fälle ist die Anamnesezeit bei schnellem Größenwachstum kurz; bei abdomineller Lokalisation kann die Anamnese aber auch deutlich länger sein.

Regel 5.

Bei unklarer Symptomatik mit Dauer über 6 Wochen: Malignom ausschließen.

Viele Malignome führen zu Symptomen, die sich nicht in ein bekanntes Krankheitsbild einordnen lassen. Gerade bei untypischen Symptomkombinationen oder Persistenz von Symptomen bzw. ausbleibender Besserung auf die veranlasste Therapie muss eine Diagnose überdacht und auch an seltenere Differenzialdiagnosen wie Malignome als Ursache der Beschwerden gedacht werden.

Dies gilt selbstverständlich je nach Fall auch bei kürzeren Zeiträumen als 6 Wochen (vgl. nachfolgende Kasuistiken).

Es gibt jedoch auch seltenere Symptome, hinter denen sich eine Krebserkrankung verbergen kann. Dies soll beispielhaft an 2 Fällen veranschaulicht werden, die sich in den Jahren 2018–2020 in den Kinderkliniken München Harlaching bzw. Schwabing zugetragen haben.

Zwei Fallberichte

Der erste Fall betrifft einen zum Zeitpunkt der Erstvorstellung 10 Monate alten Säugling. Die Vorstellung in der Notaufnahme der Kinderklinik erfolgte mit dem Leitsymptom Dyspnoe. Wie die Mutter berichtete, bestünde seit einigen Tagen eine Infektion der oberen Atemwege mit Rhinitis; das Kind war fieberfrei. In der körperlichen Untersuchung zeigten sich bei gutem Allgemeinzustand ein Distanzgiemen und juguläre Einziehungen als Zeichen der Dyspnoe. Die Vitalwerte sowie der sonstige körperliche Untersuchungsbefund waren unauffällig. Unter der Verdachtsdiagnose einer obstruktiven Bronchitis wurde das Kind nach initialer intravenöser Kortikosteroidgabe 3 Tage stationär mit Inhalationstherapie mit Salbutamol + Ipratropiumbromid behandelt, worunter es zur Besserung der respiratorischen Symptome kam. Bei Entlassung bestand noch eine leichte obstruktive Symptomatik. Bereits am darauffolgenden Tag erfolgte jedoch aufgrund erneuter respiratorischer Verschlechterung trotz fortgeführter Inhalationstherapie die Einweisung durch die betreuende niedergelassene Kinderärztin. Das Kind präsentierte sich nun sehr unruhig, zudem fiel in der klinischen Untersuchung neben der pulmonalen Obstruktion mit Distanzgiemen nun ein inspiratorischer Stridor auf. Stationär wurde die Therapie um Inhalationen mit Suprarenin erweitert. Nach 2 Tagen konnte das Kind bei gebesserter Symptomatik wieder entlassen werden. Zu keinem Zeitpunkt hatte zusätzlicher Sauerstoffbedarf bestanden; das Kind blieb allzeit fieberfrei. Bei Entlassung bestanden weiterhin eine leichte obstruktive Symptomatik sowie ein inspiratorischer Stridor bei forcierter Atmung. Lediglich 4 Tage später alarmierte die Mutter aufgrund deutlich zunehmender Dyspnoe den Notarzt. Das Kind wurde wegen Überbelegung der Großstadt-Kinderkliniken vor Ort in ein pädiatrisches Fachkrankenhaus in ca. 75 km Entfernung gebracht.

Bei Beachtung der 5 Schwabinger Regeln kann ein Großteil der kindlichen Malignome erkannt werden

Bei ausgeprägter Tachydsypnoe sowie in- und exspiratorischem Stridor wurde eine Röntgenaufnahme des Thorax angefertigt. Diese zeigte den in Abb. 6 dargestellten Befund eines großen mediastinalen Tumors, woraufhin der Säugling in die Kinderklinik Schwabing verlegt wurde. Im Rahmen der laborchemischen Analyse einer entnommenen Blutprobe fanden sich bis auf eine milde Erhöhung der Werte für Laktatdehydrogenase (LDH, 445 U/l [7,42 µmol/l•s]) und Kreatinin (0,5 mg/dl [44,2 µmol/l]) sowie neuronenspezifische Enolase (NSE, 60,5 µg/l) unauffällige Befunde, einschließlich Blutbild, Elektrolyte und Gerinnung. Echokardiographisch konnte ein 1 cm breiter Perikarderguss nachgewiesen werden. In der CT-Thorax-Untersuchung stellte sich eine große, knotig aufgebaute Raumforderung im vorderen Mediastinum in einer Größenausdehnung von ca. 10 × 9 × 5 cm mit Kompression und Verlagerung der mediastinalen Gefäße, der V. cava superior sowie des Ösophagus und der Trachea dar (Abb. 7). Letztere war über eine Strecke von ca. 2 cm schlitzförmig eingeengt, auf ein Lumen von minimal 3,7 mm. Unter Bereitschaft zur extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) wurde die Induktionstherapie mit Prednisolon und Cyclophosphamid eingeleitet. Mithilfe einer Tumorbiopsie konnte ein „precursor T‑lymphoblastic lymphoma“ nachgewiesen werden. Aktuell befindet sich der Patient in Remission.

Abb. 6
figure 6

Thoraxröntgen: großer mediastinaler Tumor

Abb. 7
figure 7

Computertomographie des Thorax: große, knotig aufgebaute Raumforderung im vorderen Mediastinum, Größenausdehnung ca. 10 cm × 9 cm × 5 cm

Ein weiterer Patient, männlich, 16 Jahre, stellte sich ebenfalls mit dem Leitsymptom Dyspnoe zunächst bei seiner niedergelassenen Kinderärztin vor. Anamnestisch war es bei dem sonst gesunden Jungen 3 Tage zuvor während des Fahrradfahrens zu einem plötzlich auftretenden thorakalen Druckgefühl gekommen, seitdem traten immer wieder Hustenattacken und Belastungsdyspnoe auf. Die Kinderärztin stellte bei auskultatorisch seitendifferentem Atemgeräusch sowie nach erfolgter Sonographie der Pleura die Verdachtsdiagnose eines Pneumothorax und wies den Patienten in die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin ein. Der Junge präsentierte sich hier in ordentlichem Allgemeinzustand, linksseitig war das Atemgeräusch deutlich abgeschwächt, der sonstige klinische Untersuchungsbefund war unauffällig. Die Sauerstoffsättigung war mit 95 % grenzwertig.

Differenzialdiagnostisch wurden zu diesem Zeitpunkt bei seitendifferentem Atemgeräusch neben einem Pneumothorax auch eine Pleuropneumonie mit Erguss sowie eine mögliche maligne Genese in Erwägung gezogen und ein Röntgenbild des Thorax angefertigt. Auf diesem stellte sich linksseitig ein ausgedehnter Pleuraerguss dar, sonographisch fand sich ein großer, echoreicher Pleuraerguss bei kollabierter Lunge. Laborchemisch waren die Laktatdehydrogenase (LDH) mit 440 U/l (7,34 µmol/l•s) und das Kreatinin mit 1,1 mg/dl (97,3 µmol/l) erhöht; Elektrolyte, Blutbild, Leberwerte und Entzündungsparameter befanden sich im Normbereich. Daraufhin erfolgte zur weiteren Diagnostik, Entlastung und Anlage einer Pleuradrainage eine Pleurapunktion, wobei sich der Befund eines Exsudats ergab. Im CT des Thorax zeigten sich eine mediastinale Raumforderung mit Pleuraerguss sowie eine Unterlappendystelektase bzw. ein Infiltrat links. In der Punktion des Mediastinaltumors wurde ein T‑lymphoblastisches Lymphom nachgewiesen. Der Patient ist derzeit in Behandlung mit einer Polychemotherapie gemäß dem Therapieprotokoll des NHL-BFM Registry 2012 [11].

Diese Fälle sind gute Beispiele dafür, dass auch hinter häufigen, scheinbar „banalen“, leicht ausgeprägten Symptomen wie Belastungsdyspnoe eine ernste Erkrankung stecken kann. Die Gesamtkonstellation mit ausgeprägtem Erguss bei unauffälligen Entzündungsparametern und fieberfreiem Patienten muss hier stutzig machen und weiterdenken lassen.

Das Leitsymptom Dyspnoe war in der bereits erwähnten Studie von Selle 2006 zur Häufigkeit der Symptome bei malignen Tumorerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen lediglich bei 3 % der Patienten als Erstsymptom vorhanden (Abb. 1; [13]). Im vorbeschriebenen Casus des Säuglings mit Vorläufer-T‑lymphoblastischem Lymphom ist zu ergänzen, dass Non-Hodgkin-Lymphome im Alter <3 J. eine Rarität sind [8].

Eine Kunst in der Pädiatrie ist das Hinausdenken über gewöhnliche und naheliegende Verdachtsdiagnosen

Genau dies jedoch – das Seltene im Häufigen zu finden und weiter zu denken, über die gewöhnlichen und naheliegenden Verdachtsdiagnosen hinaus, ist eine der großen Künste der Kinder- und Jugendmedizin. Wie der große kanadische Internist und Urheber des Begriffs „Pädiatrie“ Sir William Osler bereits 1892 treffend formulierte: „If it were not for the great variability among individuals, medicine might as well be a science and not an art“ [14].

In dem zuvor beschriebenen Fall hätte die Kombination von in- und exspiratorischem Stridor bei zudem ausbleibender Besserung auf die – unter der Verdachtsdiagnose obstruktive Bronchitis – durchgeführte Therapie zu einem Überdenken der Diagnose führen sollen.

Was können wir daraus lernen?

Ergänzt werden können die „5 Schwabinger Regeln“ also um einen weiteren Merksatz:

Bei ungewöhnlichen Symptomkonstellationen auch an seltene Ursachen von häufigen, möglicherweise banal erscheinenden Symptomen denken.

Im Zeitalter der weit verbreiteten Überdiagnostik [5] sollten im Sinne des Grundsatzes „choosing wisely“ vor weitreichender Diagnostik stets eine sorgfältige Anamnese sowie differenzialdiagnostische Überlegungen anhand der Leitsymptome stehen. Dies gilt für Klinikärzte ebenso wie für niedergelassene Kinder- und Jugendärzte. Mit strukturiertem differenzialdiagnostischem Denken kann mithilfe einfacher Mittel im kinderärztlichen Alltag ein großer Beitrag dazu geleistet werden, die Prognose krebskranker Kinder und Jugendlicher weiter zu verbessern.

Fazit für die Praxis

Die „5 Schwabinger Regeln“:

  1. 1.

    Bei normozytärer Anämie ohne Hämolyse: Leukämie/aplastische Anämie ausschließen.

  2. 2.

    Bei Kopfschmerzen und Nüchtern-Erbrechen: Hirntumor ausschließen.

  3. 3.

    Bei 4 Wochen konstanten isolierten Knochenschmerzen: Malignom ausschließen.

  4. 4.

    Bei jeder unklaren Schwellung, die länger als 6 Wochen dauert: bis zum Beweis des Gegenteils von einem Malignom ausgehen.

  5. 5.

    Bei unklarer Symptomatik mit Dauer über 6 Wochen: Malignom ausschließen.

„Münchner Merksatz (Munich memo set)“: Das Seltene im Häufigen finden: Differenzialdiagnostische Algorithmen beherrschen und dennoch darüber hinausdenken, wenn Befunde nicht zusammenpassen.