Das vorliegende Sonderheft, zu dessen Kommentierung – einschließlich eines Versuchs der Kontextualisierung der Heilpädagogik zwischen etwa 1975 und 1985 aus dem Blickwinkel des Kinderpsychiaters – ich aufgefordert bin, beleuchtet Hans Asperger, sein Wirken und seine Person aus unterschiedlichen Perspektiven.

Zeitzeugenabschnitt

Ich stelle meinem Beitrag einen Zeitzeugenabschnitt voran. An meine erste Begegnung mit Hans Asperger (1951, ich war damals fünf Jahre alt) habe ich keine persönliche Erinnerung: meine Kinderärztin, Dr. Olga Kurz, die nach ihrer Rückkehr aus der (NS-bedingten) Emigration nach England wieder in Wien tätig war, hat ein Gutachten Aspergers, der anerkannten Autorität für kindliche Entwicklung, für meinen vorzeitigen Schuleintritt für nützlich gehalten. Aspergers Vorlesung „Kinderheilkunde“, die ich während meines Medizinstudiums im Sommersemester 1967 besucht habe, hat keinen prägenden Eindruck hinterlassen, ungeachtet meines Interesses an der Kinderheilkunde, das mich fünf Jahre später veranlasste, einen – nie beantworteten – Bewerbungsbrief an Asperger, dessen Tochter Maria ich als Studienkollegin kannte, zu schreiben.

1975 – ich war mittlerweile seit zwei Jahren Assistent an der neu gegründeten Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes und Jugendalters (Vorstand: Walter Spiel) – entstand im neu errichteten Allgemeinen Krankenhaus eine räumliche Nachbarschaft zwischen Heilpädagogik und Kinderpsychiatrie: Die heilpädagogische Station unter der Leitung von OA Dr. Kuszen (in der Nachfolge Aspergers) war im Erdgeschoß des Neubaus angesiedelt, die beiden kinderpsychiatrischen Stationen im ersten und zweiten Stock. Dementsprechend haben mich meine Arbeitswege im Haus (ich leitete ab 1975 die Station im ersten Stock) mehrmals täglich an der stets sorgsam verschlossenen Eingangstüre der Heilpädagogischen Station (Vgl. Zeitzeugenbericht von O. Jürgenssen in diesem Heft) vorbeigeführt. Im Kontext der beginnenden Diskussion zur Psychiatriereform (3 zentrale Publikationen waren wenige Jahre davor auf Deutsch erschienen: Foucault [10], Basaglia [4] und Goffman [11]) war das Thema der Stationstüre auch an unserer Klinik ein immer wieder diskutiertes Thema. Im ersten und zweiten Stock desselben Hauses waren die Türen (fast) immer offen. Dieser Umstand beleuchtet zentrale Unterschiede in der Haltung und Ideologie: eine restriktive, traditionsgebundene Heilpädagogik auf der einen Seite, eine sozialpsychiatrisch orientierte Kinderpsychiatrie auf der anderen Seite. Die Unterschiede in der Besuchsregelung weisen in dieselbe Richtung: streng und restriktiv geregelt (Besuchsverbot lt. Beitrag Tatzer) an der Heilpädagogischen Station (wie übrigens damals auch an anderen Kinderabteilungen) im Gegensatz zu freien Besuchszeiten an den kinderpsychiatrischen Stationen.

Asperger, den Vorstand der Nachbarklinik, nahm ich in dieser Zeit nur am Rande wahr: die Kollegen der Kinderklinik erzählten, dass er keine klinischen Visiten abgehalten hat und die Klinikführung in den Händen von Otto Thalhammer, dem ersten Oberarzt gelegen sei (Vgl. Zeitzeugenbericht von H. Katschnig in diesem Heft). Aspergers Beiträge im Rahmen der kinderpsychiatrischen Fachtagungen in den späten 1970er Jahren haben bei mir keine bleibenden Eindrücke hinterlassen. Sein 70. Geburtstag (den er auf der Spitze der Cheops-Pyramide verbrachte) war der Anlass, einen von mir für die österreichische UNESCO-Kommission verfassten Beitrag über die soziale Integration behinderter Kinder [8] gemeinsam mit Walter Spiel mit Widmung an Asperger zu publizieren. Walter Spiel war diese Geste der Würdigung wichtig, sodass in Ermangelung eines anderen geeigneten Textes die soziale Integration, die nicht unter Aspergers zentralen Themen aufschien, herhalten musste. Als Verbeugung vor dem Jubilar wurde im Untertitel noch der Begriff „heilpädagogische Aspekte“ eingefügt.

Die Regeln auf der heilpädagogischen Station waren streng und restriktiv

Wenden wir uns nochmals dem Thema der Besuchszeitregelung zu, das über eine Symbolfunktion hinaus Relevanz besitzt, weil es das Grundverständnis zur Bedeutung der Einbindung des Kindes in seine soziale Umwelt markiert. Asperger bemüht sich in der Diskussion um Besuchszeiten im Jahr 1967 – zumindest schriftlich – um eine differenzierte Position: „In einer Angst vor psychischen Schädigungen der Kinder im und durch das Spital strebt man zu schrankenloser Zulassung aller Mütter zu jeder gewünschten Zeit […] Eine schrankenlose Besuchserlaubnis kann im Spital zusätzliche Konflikte schaffen […]. Ja, es gibt Fälle, wo die Trennung des Kindes von der Mutter […] ein wesentlicher Teil der Therapie ist. […] Auf jeden Fall kommt es durch die Erweiterung der Besuchsmöglichkeiten der Mutter […] nach den Gesetzen der Gruppenpsychologie zu einer Komplizierung der Situation. Das ist aber durchaus zu bejahen, es ist eine höhere Stufe gegenüber einem früheren gedankenlosen Absperren der Kinder von der Mutter […] Aber es muß […] differenziert und individualisiert werden“ [2].

Mehr als 20 Jahre nach der Beschreibung des Hospitalismus (die mit dem Ende der NS-Zeit zusammenfällt) durch den österreichisch-amerikanischen Psychoanalytiker René Spitz (1887–1974) rezipiert Asperger also im theoretischen Diskurs moderne Entwicklungen der Kinderforschung. Er hat sie aber als Klinikvorstand an der – früher von ihm geleiteten – heilpädagogischen Station nicht in die Praxis umgesetzt. Ob dabei seine grundsätzliche Ablehnung von Psychoanalyse und Individualpsychologie [3, S. 364] eine Rolle spielte, kann ich nicht beurteilen.

Zu den historischen Inhalten

Die Tötung psychisch kranker und behinderter Kinder und Erwachsener war zwar – neben dem Holocaust – der eindeutige Gipfelpunkt der Unmenschlichkeit der Zeit des Nationalsozialismus (NS), aber bei Weitem nicht das einzige Charakteristikum nationalsozialistischen Denkens und Handelns. Sowohl Antisemitismus und Holocaust als auch die Krankenmorde und die Klassifikation von „Asozialen“ beruhten auf dem Paradigma des Biologismus. Im Bereich der Pädagogik folgte daraus die Selektion von „Unbrauchbaren“, die als „nichtaufwandswürdig“ klassifiziert wurden. Die Positionen Aspergers müssen daher nach diesen Kriterien beurteilt werden.

Aus den Beiträgen von Czech und Maleczek et al. treten meines Erachtens zwei zentrale Fragen hervor:

  1. 1.

    In welchen Bereichen gibt es Überschneidungen zwischen den Positionen Aspergers und der NS-Ideologie?

  2. 2.

    Wie ist der Wissensstand Aspergers zum Zeitpunkt der Transferierungsempfehlungen an den Spiegelgrund zu beurteilen?

Überschneidungen zwischen den Positionen Aspergers und der NS-Ideologie

Zur ersten Frage: Die Prägung durch den Bund Neuland und Aspergers langjährige Zugehörigkeit zu dieser Vereinigung wird in den Beiträgen ausführlich diskutiert. Die Beurteilung individueller Haltungen hinsichtlich der NS-Nähe wird zweifellos dadurch erschwert, dass der Bund Neuland wahrscheinlich kein homogenes Gebilde war. Ich halte aber einen anderen Aspekt für bedeutsam: Wie nahe stand Asperger den biologistischen Grundkonzepten der NS-Ideologie? Ich meine, die Antwort auf diese Frage lautet: sehr nahe. Zur Begründung dieser Annahme wird nochmals jene Arbeit herangezogen, auf die sich sowohl Czech als auch Maleczek beziehen, der 1942 publizierte Vortrag vor der Wiener Gesellschaft für Heilpädagogik („‚Jugendpsychiatrie‘ und ‚Heilpädagogik‘“, [3]). Dieser Text kann als Grundsatzerklärung verstanden werden, in der Asperger seine inhaltlichen Positionen in Relation zu Nachbargebieten formuliert. Ungeachtet der wiederholten Betonung der Individualität des Kindes und der vielfältigen Einflüsse, denen seine Entwicklung unterliegt, stechen die Betonung der Erblehre und daraus abgeleiteter eugenischer Maßnahmen ins Auge: „Wir können uns immer wieder überzeugen, wie sehr die verschiedensten Wesenszüge, die verschiedensten Verhaltensweisen aus der anlagemäßig bestimmten Persönlichkeit kommen, wir finden die gleichen Züge in der Aszendenz. … Wir haben auch voranzustehen in der praktisch-eugenischen Arbeit, vor allem in den mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zusammenhängenden Problemen“ [3, S. 356 f.].

Wenige Zeilen später kommt Asperger auf die Relevanz der Pädagogik zu sprechen: „Welchen Einfluß haben optimale Umweltbedingungen bei anlagemäßig Belasteten, was kann die ‚Erziehung trotz Vererbung‘ leisten, lohnt sich die pädagogische Arbeit auch bei aus der Norm fallenden Menschen?“ [3, S. 356 f.].

Über die Nähe Aspergers zu biologistischen Grundkonzepten der NS-Ideologie besteht kein Zweifel

Hier besteht wohl kein Zweifel, dass Asperger mit biologistischen Positionen konform geht und auch das pädagogische Prinzip der Auslese nach dem Kalkül der Aufwandswürdigkeit, das Malina als Grundelement der NS-Pädagogik charakterisiert [12, S. 102], hervorhebt. Dass diese theoretischen Bekenntnisse auch praktische Konsequenzen haben, zeigt die Beurteilung eines 7 ½-jährigen Mädchens am 21.07.1942 (Aufnahme an der Universitätskinderklinik am 21.05.1942 wegen Bettnässens): „Es handelt sich um ein geschäftiges, distanzloses Mädchen, gewöhnlich vom Wesen: schulmäßig schlecht, – sie kommt ja auch zu keiner Vertiefung; intellektuell überhaupt nicht ganz durchschnittlich. Zweifellos zu jeder Art von Unfug (bes. auch sex!) zu haben. Schändungsgefahr bei ihrer ‚Anhabigkeit‘!! Bei nicht sehr gutem häuslichen Milieu Anstalt (etwa Klosterneuburg) notwendig. Dr. Asperger e. h.“.Footnote 1

Ergänzend ist festzuhalten, dass das Kind in den Wochen des stationären Aufenthalts regelmäßig mit Apomorphin (bewirkt Erbrechen) und Faradisation (schmerzhafte Behandlung mit elektrischem Strom im Genitalbereich) behandelt wurde. Acht Tage nach dem Asperger-Gutachten wurde das Mädchen an die Kinderübernahmestelle übergeben.

Festzuhalten ist: Asperger urteilt aufgrund des Verhaltens eines 7‑jährigen Mädchens, dass es wegen künftigen „sexuellen Unfugs“ in ein Heim einzuweisen sei, und verweist dabei auf das ungünstige häusliche Milieu. Es ist offensichtlich, dass Asperger der Praxis der pädagogischen Intervention – zumindest in diesem Fall – keine relevante Wirksamkeit zuerkennt. In Verbindung mit den weiteren von Czech angeführten Argumenten und Belegen ist daher seiner Einschätzung zuzustimmen, dass von einer gelungenen Anpassung Aspergers an das Regime auszugehen ist, da er grundlegende Überzeugungen – insbesondere die biologistischen Positionen und deren Konsequenzen – teilte.

Wissensstand Aspergers zum Zeitpunkt der Transferierungsempfehlungen an den Spiegelgrund

Der Wissensstand Aspergers, über den er bei der Empfehlung zur Einweisung auf den Spiegelgrund verfügte, ist zweifellos einer der zentralen Punkte des Diskurses. Maleczek et al. argumentieren, dass davon auszugehen sei, dass Asperger aufgrund seiner Distanz zur NS-Ideologie und aufgrund der Geheimhaltung hinsichtlich der „Kindereuthanasie“ ahnungslos war und überdies kein ausreichendes Wissen über die Organisationsstruktur des Spiegelgrunds gehabt hat.

Zur Organisationsstruktur des Spiegelgrunds hat Malina [13] ausführlich geschrieben. Ein zentraler Punkt dieser Darstellung ist, dass die Struktur zwischen 1940 und 1945 mehrfach geändert wurde [7]. Unabhängig von der jeweils aktuellen Struktur ist aber davon auszugehen, dass das Beurteilungsergebnis der Beobachtung (vor Ort oder in anderen Einrichtungen) dafür maßgebend war, ob die Kinder und Jugendlichen einer der Endstationen des Systems zugeführt, weiterverlegt oder auch entlassen wurden. Ersteres bedeutete Tötung nach Meldung an den Reichsausschuss für behinderte Kinder bzw. Jugendkonzentrationslager für „unerziehbare“ und „asoziale“ Jugendliche (Uckermark für Mädchen, Moringen für Jungen). Auch hier war die Auslese nach dem Gesichtspunkt der Aufwandswürdigkeit das zentrale Kriterium. Eine Zuweisung eines schwer behinderten Kindes an den Spiegelgrund war also objektiv stets mit dem Risiko der Tötung behaftet. Die subjektive Seite – dieses Risiko bewusst einzugehen – hing natürlich vom Wissen über die Aufgaben der „Nervenklinik“ als Einrichtung des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ (Tarnbezeichnung für die „Kindereuthanasie“) ab. Zu der Wahrscheinlichkeit (denn nur davon kann geredet werden) dieses Wissens bei Asperger ist festzustellen:

An der Universitätskinderklinik war zumindest bekannt, dass schwer behinderte Kinder am Spiegelgrund nach absehbarer Zeit verstarben. Anders ist ein Überweisungsschreiben von Doz. Dr. Elmar Türk vom 13.03.1943 nicht zu deuten: „Entsprechend der telefonischen Vereinbarung schicke ich ihnen in der Beilage einen Wunschzettel betreffend das Kind G. Adolf mit dem großen Hydrocephalus … Es handelt sich eigentlich nur um die unter ‚klinischer Kontrolle‘ zusammengefaßten Ablesungen und Untersuchungen, alles andere tritt erst post mortem in Kraft.“Footnote 2 (Aufnahme 30.03.1943, Exitus let. 18.06.1943). Die Meldung an den Reichsausschuss ist mit 15.04.1943 datiert. Türk hat den Jungen also mit dem Ersuchen überwiesen, über die Ergebnisse der Obduktion informiert zu werden. Dr. Illing, Leiter der Abteilung, berichtet am 14.12.1943 an das Gesundheitsamt des Herkunftsortes des Kindes, dass es sich „offensichtlich um ein erworbenes, nicht erbliches Leiden“ gehandelt hat, und dass bei der Obduktion eine Pneumonie diagnostiziert wurde. In der Zeit zwischen der Aufnahme am Spiegelgrund und der Meldung an den Reichsausschuss sind 2 Wochen vergangen, danach weitere 2 Monate bis zum Tod. Die Freigabe durch den „Reichsauschuss“ erfolgte also aufgrund der Schwere der Behinderung und nicht aufgrund der Erblichkeit des Leidens. Es ist wohl nicht davon auszugehen, dass Asperger als Assistenzarzt derselben Klinik von diesen Verläufen nichts gewusst haben soll.

Auf die Aussage von Ernst Illing wurde bereits im Beitrag von Czech hingewiesen. Aufgrund ihrer zentralen Relevanz (22.10.1945, 25.01.1946) soll sie hier im Wortlaut zitiert werden: „Es ist richtig, dass ungefähr ein monatlicher Zugang von 50 Kindern war. 33 bis 50 % der Todesfälle sind durchschnittlich mit Nachhilfe gestorben. … Die Art der Todesbeschleunigung erfolgte zunächst durch Luminal [Wirkstoff Phenobarbital; Anm. d. Autors], das eingenommen wurde … Dann wurden auch noch Injektionen gegeben. … Den Sorge- und Erziehungsberechtigten ist über den Zustand der Kinder ein klares Bild gegeben worden und wurde ihnen über die Todesbeschleunigung, zwar nicht ausdrücklich, aber doch so, daß sie es verstehen konnten, wenn sie wollten, gesprochen … Es gab Eltern, die damit nicht einverstanden waren und ihre Kinder aus der Anstalt herausnahmen. Im Vierteljahr ein bis vier Fälle. … Ich verweise auch darauf, dass ich von keinem Wr. [Wiener] Kinderarzt, der mir solche Kinder schickte, eine Ablehnung der Todesbeschleunigung erfahren habe. Seit meinem Wiener Aufenthalt 01.07.1942 wurde Todesbeschleunigung meiner Erinnerung nach in ungefähr 200 Fällen ausgeführt. … Ich verweise darauf, dass meine Klinik stets überfüllt war, zumal andere Kliniken, so die Fürsorgeklinik, die Kinderklinik Glanzing, auch die Univ.-Kinderklinik mir solche hoffnungslosen Fälle übergaben, offenbar in der Meinung, dass auf meiner Klinik die Euthanasie aufgrund dieses genannten Runderlasses gesetzlich möglich war, während sie selbst eine solche Euthanasie nicht vornehmen durften. Ich bin vollkommen überzeugt, dass die Leiter der genannten Anstalten über die Euthanasie … durchaus im Bilde waren.“Footnote 3

Asperger hat das Risiko der Tötung von ihm überwiesener Kinder zumindest in Kauf genommen

Dr. Ernst Illing hat die Wiener Städtische Nervenklinik für Kinder von Mitte 1942 bis 1945 geleitet und wurde aufgrund des gegen ihn gefällten Todesurteils 1946 hingerichtet. Sowohl das Schreiben von Türk als auch die Aussage von Illing lassen meines Erachtens keinen Interpretationsspielraum in dem Sinne zu, dass Asperger über die „Kindereuthanasie“ uninformiert war. Somit ist davon auszugehen, dass er das Risiko der Tötung der von ihm überwiesenen Kinder zumindest in Kauf genommen hat.

Die Argumentation von Maleczek, dass einige Kinder trotz Aspergers Empfehlung nicht oder erst später an den Spiegelgrund gekommen sind, steht sehr wahrscheinlich mit der von Illing festgehaltenen Überfüllung seiner Klinik im Zusammenhang. Zwar hat Asperger selbst Kinder an den Spiegelgrund überwiesen, die nicht den Kriterien des „Reichsausschusses“ entsprachen, sondern in anderen Bereichen des „Komplex Spiegelgrund“ zur Beobachtung aufgenommen wurden. Aber auch dieser Umstand kann nicht als Entkräftung der Annahme gewertet werden, dass der wahrscheinliche Tötungsvorgang bei der Überweisung eines schwer behinderten Kindes in Kauf genommen wurde.

Das Netzwerk der Heilpädagogik in Österreich

Über die Person Aspergers hinaus beleuchtet Tatzer in seinem Beitrag die Heilpädagogik in Österreich. Im Zentrum steht die heilpädagogische Station der Kinderklinik, bei der er einen Widerspruch zwischen einer rigiden Stationsführung und einem humanistischen Menschenbild Aspergers postuliert. Aspergers Positionierung zu den Aufgaben der Heilpädagogik entsprechen dieser Einschätzung nicht: „… die erzieherische Behandlung abartiger Kinder hat zur unerläßlichen Voraussetzung, daß man sie kennt und richtig beurteilt. … Mit dem eben Gesagten ist natürlich nicht gemeint, man müsse nur nachgeben, ausweichen, Anforderungen herabsetzen. Im Gegenteil, eine solche Einstellung führt zu einer höchst aktiven Pädagogik, die in straffer Führung alles aus dem abartigen Kind herausholt, was nur in ihm steckt …“ [3, S. 363].

Asperger spielte bei der Etablierung des heilpädagogischen Netzwerks [15, S. 570 ff.] im Nachkriegsösterreich die zentrale Rolle. Dieser Periode geht eine rund 100-jährige Vorgeschichte voraus [6, S. 611 ff.], deren Wurzeln in der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 liegen. In dieser Tradition steht auch die Gründung der Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana (1856–1865, Wien), deren Leiter Jan-Daniel Georgens [1823-1886] und Heinrich M. Deinhardt (1821–1880), zwei deutsche Pädagogen, den Begriff der Heilpädagogik etablierten. Die Kooperation von Pädagogen und Ärzten steht – wie auch später bei Asperger – im Zentrum ihres Konzepts. In die gleiche Zeit fällt aber auch ein Aufschwung biologistischer Orientierungen unter den Wiener Pädiatern Alois Bednar (1816–1888), Leopold M. Politzer (1814–1888) und Franz Mayr (1814–1863), in deren Arbeiten die anatomisch-biologischen Fakten einen überragenden Stellenwert gewannen und die sozialen Zusammenhänge verloren gingen. Hier liegt der Kern des biologistischen Paradigmas, das in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. Dominanz gewann: Es handelt sich um eine Sichtweise, die biologische Erklärungen absolut setzt, überdehnt und fehldeutet. Die Gründung der heilpädagogischen Station erfolge 1911 (Erwin Lazar, Klinikvorstand Clemens von Pirquet), 1941Footnote 4 übernahm Asperger die Leitung der Station und behielt sie (unterbrochen durch Militärdienst vom Oktober 1943 [1, S. 108] bis August 1945) auch nach 1945. Aspergers Wirkungsbereich erstreckte sich nun aber weit über diese Station hinaus (Klinikvorstand in Innsbruck ab 1957, in Wien ab 1962), da er in die Etablierung der Heilpädagogik in ganz Österreich zentral involviert war. Aspergers Schüler Franz Wurst wurde 1951 zum Leiter des heilpädagogischen Dienstes in Kärnten bestellt, 1954 Ingeborg Judtmann in Salzburg und 1955 Erwin Schmuttermeier in Niederösterreich. Als prägnantestes Beispiel soll die Errichtung der heilpädagogischen Beobachtungsstation in Salzburg zitiert sein. Asperger wurde 1953 nach Salzburg eingeladen, um die Gründung einer Beobachtungsstation zu unterstützen. Bei dieser Gelegenheit verwies er auf das Beispiel Wursts in Kärnten und schlug seine Schülerin Ingeborg Judtmann als künftige Leiterin vor [5, S. 250 f.].

Asperger war zentral in die Etablierung der Heilpädagogik in ganz Österreich involviert

Zum politischen Kontext dieses Vorgangs ist festzuhalten, dass Judtmann 1941 (mit 19 Jahren) der NSDAP beigetreten war und aus diesem Grund 1946 ihr Medizinstudium für ein Jahr unterbrechen musste (Relegierung von der Universität Graz). Die Facharztausbildung begann Judtmann 1949 an der Universitätskinderklinik in Wien und war von 1951 bis 1954 Aspergers heilpädagogischer Station zugeteilt [5, S. 208]. Möglicherweise ist das Netzwerk des Bund Neuland in diesem Kontext aktiv gewesen, denn der spätere Landeshauptmann Hans Lechner (1913–1994, Mitglied der Landesregierung ab 1959, Landeshauptmann 1961–1977), zu diesem Zeitpunkt bereits hoher Beamter der Landesregierung und prominentes Mitglied der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), war nämlich – wie Asperger – Mitglied. Auch wenige Jahre später bei der (Wieder‑)Errichtung der Salzburger Universität (1962) war der Bund Neuland einflussreich wirksam [14, S. 214].

Franz Wurst (1920–2008), den Asperger stets als seinen Schüler bezeichnete, war ab 1951 Leiter des heilpädagogischen Dienstes in Kärnten und ab 1969 der heilpädagogischen Station in Klagenfurt. Seine strafrechtliche Verurteilung im Kontext sexuellen Missbrauchs (2002) kommentierte die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit dem Hinweis auf ein problematisches Therapiekonzept, das durch asymmetrische Beziehungsmuster und mangelhafte Reflexion therapeutischer Beziehungen gekennzeichnet war. Diese Stellungnahme der Fachgesellschaft betont – über die persönliche Verantwortung hinaus – den fachlichen Kontext, in dem der jahrelange sexuelle Missbrauch von Patienten stattgefunden hat.

Zurück zu Asperger: Zweifellos ist Tatzer zuzustimmen, wenn er eine persönliche Verantwortung Aspergers für die Gewalt in sozialpädagogischen Einrichtungen zurückweist. Unzweifelhaft aber ist für mich der Zusammenhang zwischen jener – auch von Tatzer kritisierten und nicht mit Aspergers Heilpädagogikvorstellungen zu vereinbarenden – rigiden Praxis in heilpädagogischen Einrichtungen (Heimen und Spitalsabteilungen) und den Gewalt- und Missbrauchsereignissen. Auch die Tatsache, dass Asperger sich im Diskurs um die Reform der Heimerziehung (z. B. Wiener Heimenquete 1971) sowie um die Psychiatriereform (in Wien ab 1977) nicht zu Wort gemeldet hat, spricht nicht für eine kritische Distanz zur sozialpädagogischen und zur psychiatrischen Praxis dieser Zeit.

Schlussbemerkungen

Im Sinne eines Überblicks über den gegenwärtigen Stand des Diskurses, der – wie die AutorInnen dieses Sonderhefts zu Recht betonen – keineswegs abgeschlossen ist, ist festzuhalten:

Asperger war kein Nationalsozialist, er stand aber auch nicht auf der Seite des Widerstands, den es auch im katholischen Lager gegeben hat. Vermutlich standen seine persönlichen Überzeugungen einigen Positionen der NS-Ideologie (systematische Krankentötung) fern, wenngleich er die Tötung schwer behinderter Kinder – vermutlich wissentlich – in Kauf genommen hat. In anderen Positionen (Biologismus, pädagogische Selektion) gab es aber deutliche Überschneidungsbereiche. Seine Anpassungsbereitschaft hat ihn zu einem Mitläufer gemacht. Damit steht er in einer Reihe mit zahlreichen anderen prominenten Österreichern, wie der Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer (*1961) dies (in seiner Rolle als Schriftsteller) mit seinem Stück Böhm, das kürzlich am Wiener Burgtheater aufgeführt wurde, auch für den prominenten österreichischen Dirigenten Karl Böhm (1894–1981) deutlich gemacht hat.

Es ist wenig erstaunlich, dass die historische Forschung über prominente Personen der Nach-NS-Zeit, über ihre Haltungen und ihr Handeln in der NS-Zeit auch Widerspruch weckt. Dies trifft beispielsweise auf Aspergers Zeitgenossen Werner Villinger (1887–1961) und Hermann Stutte (1909–1982) zu, die als Gründerväter der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie bezeichnet werden. Der Diskurs über die beiden Professoren steht im Zentrum von zwei rezenten Publikationen. Fangerau et al. führten ihr Forschungsprojekt zur Geschichte der Konsolidierung des Faches im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie durch [9]. Remschmidt [16], Stuttes Nachfolger als Klinikvorstand in Marburg, analysierte die Geschichte dieser Klinik. In beiden Publikationen wird deutlich, dass die jeweilige Bewertung historischer Dokumente eine entscheidende Rolle für die Einschätzung der handelnden Personen darstellt. In beiden Fällen bleibt aber kein Zweifel an der politischen Anpassungsbereitschaft in der NS-Zeit und an der Übereinstimmung mit biologistischen Grundpositionen (die in dieser Zeit zweifellos weit verbreitet waren) und mit der NS-Selektionspädagogik. Festzuhalten bleibt, dass die kritische historische Analyse wohl das Handeln in bestimmten historischen Perioden beleuchtet, nicht aber die gesamte Persönlichkeit. Eine Biografie Hans Aspergers wird wohl noch zu schreiben sein.