Anamnese

Der Patient wurde als drittes Kind gesunder, nichtkonsanguiner Eltern nach unauffälliger Schwangerschaft mit 39 + 6 SSW spontan geboren. Das Geburtsgewicht betrug 3065 g (P60), die Länge 51 cm (P50), der Kopfumfang 33,5 cm (P15), die APGAR-Werte 9/10/10. Die Familienanamnese ist ohne Auffälligkeiten; der Patient hat 2 gesunde, ältere Brüder.

Der Säugling entwickelte sich initial unauffällig und zeigte eine zufriedenstellende Gewichtszunahme. Bis auf eine Substitution mit Vitamin-D-Tropfen wurde keine Medikation eingenommen.

Klinischer Befund

Im Rahmen der ersten Mutter-Kind-Pass-Untersuchung im Alter von 4 Wochen (Abb. 1) wurde der Patient mit ausgeprägter Blässe beim Kinderarzt vorgestellt. Im klinischen Status zeigte sich neben der blassen, marmorierten Haut noch eine rumpfbetonte muskuläre Hypotonie. Die weitere diagnostische Abklärung erfolgte im Krankenhaus.

Abb. 1
figure 1

Säugling bei Erstvorstellung mit blassem, marmoriertem Hautkolorit im Alter von 4 Wochen

Diagnostik

Laborchemische Diagnostik

Im erweiterten initialen Labor zeigte sich neben der Panzytopenie eine Laktacidose mit einem Laktatwert von 115 mg/dl (Referenzbereich: <16 mg/dl), einem pH-Wert von 7,29 (Ref: 7,37–7,45) mit einem BE von −11 mmol/l (Ref: −2–+3 mmol/l). Im Blutbild konnte eine Panzytopenie ohne Hämolysezeichen und ohne auffälligen Eisenstatus nachgewiesen werden (Leukozyten 5,3 G/l, [Ref: 9,4–34,0 G/l bei Säuglingen], Erythrozyten 2,1 Mio./µl [Ref: 4,0–6,8 Mio./µl bei Säuglingen], Thrombozyten 143 Tsd./µl [Ref: 150–300 Tsd./µl], absolute Neutrophilenzahl bei 1,4 G/l, Hb 67 g/l [Ref: 14–20 g/l bei Säuglingen]).

Auf eine Knochenmarkpunktion wurde vorerst auch auf Wunsch der Eltern verzichtet. Der periphere Blutausstrich zeigte lediglich einzelne Fragmentozyten.

Apparative Diagnostik

In der Sonographie des Abdomens zeigte sich eine geringe Hepatomegalie (mit 7,7 cm in der Medioklavikularlinie [altersbezogene Referenz P95 8,2 cm, Median 6,4 cm]) ohne weitere Auffälligkeiten, zudem eine geringe Splenomegalie mit 5,4 cm Längsdurchmesser und 1,6 cm unter den linken Rippenbogen reichend (altersbezogene Referenz P95 6,5 cm). Gallenblase, Pankreas, Darm und Nieren waren ohne pathologische Auffälligkeiten.

Metabolische Diagnostik

Im Plasmaaminogramm zeigten sich eine erhöhte Konzentration von Alanin (458 µmol/l – Ref: 99–380 µmol/l) und ein erhöhter Alanin-Lysin-Quotient (3,4 µmol/l – Ref: <3) als Zeichen für eine Laktacidose bzw. mitochondriale Dysfunktion. Im Harnaminogramm zeigte sich eine erhöhte Konzentration von Alanin (363 mmol/molCrea – Ref: 72–206 mmol/molCrea), ansonsten unspezifische Veränderungen. Die Analyse der organischen Säuren im Urin zeigte deutlich erhöhte mitochondriale Metaboliten, insbesondere von Fumarsäure.

Genetik

Die Verdachtsdiagnose Pearson-Syndrom, die sich aufgrund der Laborbefunde (Laktacidose und Panzytopenie, später auch exokrine Pankreasinsuffizienz) ergab, wurde durch eine genetische Untersuchung der mitochondrialen DNA aus Blut gesichert. Eine große Deletion („single large-scale mitochondrial DNA deletion“, SLSMD) wurde mittels zweier unabhängiger PCR-Amplifikationen in der mitochondrialen DNA nachgewiesen (Befund: ca. 6000 Basen große Deletion [m8298_14811del16514 – GenBank Referenz Sequenz J01415], in der Literatur bisher in der Form nicht beschrieben. Universitätsklinik für Kinder und Jugendheilkunde, Zentrum für mitochondriale Stoffwechseldiagnostik, Salzburg) (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Schematische Darstellung der mitochondrialen DNA eines Menschen mit Deletion m8298_14811del16514

Verlauf

Nach Diagnosestellung im Alter von 4 Monaten wurde der Patient zunächst engmaschig ambulant gesehen. Zu diesem Zeitpunkt war eine einmalige Erythrozytenkonzentratgabe erforderlich. Der Patient wurde voll gestillt und ab dem Alter von 6 Monaten mit Beikost zugefüttert. Er wuchs zunächst entlang der 60. Perzentile und nahm adäquat, entlang der 25. Perzentile, an Gewicht zu (Abb. 3). Es bestand keine besondere Infektionsanfälligkeit. Eine Dauermedikation (außer Vitamin-D-Prophylaxe) bestand zunächst nicht.

Abb. 3
figure 3

Gewichtsverlauf

Im Alter von 9 Monaten stagnierte das Körpergewicht trotz ausreichender Kalorienzufuhr bei 8 kg (Abb. 3). Zwischen 9 und 12 Monaten traten 6 fieberhafte, bakterielle Atemwegsinfektionen auf. Die Ernährung bestand im Alter von 12 Monaten aus Muttermilch, Beikost und Formulanahrung. Mit 15 Monaten wurde der Patient abgestillt und aß am Familientisch mit.

Die neurologische Entwicklung des Patienten zeigte sich verzögert. Der Patient begann mit 18 Monaten koordiniert zu krabbeln. Mit 21 Monaten konnte er in gewohnter Umgebung sicher frei gehen. Die Sprachentwicklung zeigte sich zu diesem Zeitpunkt um ca. 6 Monate verzögert; der Patient sprach nur einige Wörter (unter 50 Wörter).

Ab dem Alter von 20 Monaten wurde bei bestehender Pankreasinsuffizienz eine Substitution mit Pankreasextrakt (Kreon®) begonnen.

Im Alter von 28 Monaten erlitt der Patient eine schwere pulmonale Infektion und verlor 400 g (7 %) an Gewicht. Der Gewichtsverlauf kreuzte die Perzentilenkurven auf weit unter der 1. Perzentile (Abb. 3). Auch Körperlänge und Kopfumfang stagnierten und kreuzten die 3. Perzentile im Alter von 26 Monaten nach unten (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Größenverlauf

Im Alter von 28 Monaten tolerierte der Patient die Pankreasextraxtkapseln nicht mehr gut (diese würden unverdaut ausgeschieden). Die Ernährung wurde mit MCT Procal® sowie MCT Ceresöl® (Nahrungszusätze mit mittelkettigen Triglyzeriden) zur weiteren Kalorienanreicherung ergänzt (entsprechend 2 g mittelkettige Triglyceride/kgKG und Tag).

Im Alter von 2 Jahren und 5 Monaten traten beim Patienten mehrere infektionsassoziierte metabolische Entgleisungen auf (mit Hyponatriämien und Hypomagnesiämien). Aufgrund der zunehmenden Infektionsanfälligkeit wurde ein Portkatheter implantiert, um eine sicherere Versorgung gewährleisten zu können sowie eine teilparenterale Ernährung zu ermöglichen.

Wenige Wochen später kam es erneut zu einer fieberhaften Infektion der Atemwege mit Stomatitis aphthosa und nachfolgender Sepsis mit Stoffwechselentgleisung (Laktacidose mit maximaler Laktatkonzentration im Blut von 135 mg/dl).

Bei einer Hämoglobinkonzentration von 7,1 g/dl war erstmals seit dem Säuglingsalter eine Erythrozytenkonzentratgabe erforderlich (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Hämoglobin und Laktat im Verlauf. Rote Pfeile Erythrozytenkonzentratgaben (oranger Stern Zahnsanierung), grüne Pfeile Episoden mit Infektionen

Im Alter zwischen 2,5 und 3,5 Jahren wurden wöchentliche teilparenterale Infusionen (Glucose, Fett, Aminosäuren, Elektrolyte sowie Fett- und wasserlösliche Vitamine) entsprechend 50 kcal/kgKG verabreicht.

Im Alter von 3 Jahren und 9 Monaten kam es zu einer ausgeprägten Stomatitis aphthosa mit Staphylokokkensepsis und metabolischer Entgleisung (Laktacidose mit maximaler Laktatkonzentration im Blut von 120 mg/dl). Bei Hämoglobinkonzentration von minimal 62 g/dl wurden wiederum Erythrozyten substituiert. Der Allgemeinzustand des Patienten konnte durch Volumengaben, Antibiotika, Erythrozytentransfusionen und Infusionstherapien stabilisiert werden.

Im Alter von knapp 4 Jahren kam es zu einer weiteren intensivpflichtigen metabolischen Entgleisung bei Gastroenteritis und ausgeprägter beidseitiger Pneumonie. Es kam zu einer zunehmenden kardiorespiratorischen Erschöpfung. Der Patient verstarb mit einer kardialen Dekompensation an den Komplikationen der Grunderkrankung.

Definition

Erkrankungen, die durch große Deletionen in der mitochondrialen DNA hervorgerufen werden, bezeichnet man als „single large-scale mitochondrial DNA deletions“ (SLSMD). Sie werden als ein heterogenes Krankheitsbild mit oftmals fließenden Übergängen zusammengefasst. Diese Deletionen stellen die häufigste Ursache für mitochondriale Erkrankungen dar [1].

Das Pearson-Syndrom als Kombination von Panzytopenie, Laktacidose und exokriner Pankreasinsuffizienz ist eine sehr seltene, multisystemische mitochondriale Erbkrankheit. Das Krankheitsbild entsteht auf dem Boden einer Deletion der mitochondrialen DNA. Diese entsteht meist de novo. Weltweit sind bis dato weniger als 100 Fälle beschrieben. Die Prävalenz liegt bei weniger als 1/1.000.000. Es gibt eine gleichmäßige Verteilung über beide Geschlechter.

Erstmals beschrieben wurde dieses Krankheitsbild 1979 durch den Arzt Dr. Howard A. Pearson, nach dem dieses Syndrom auch benannt wurde. Typisch für dieses Krankheitsbild ist eine refraktäre sideroblastische Anämie mit Vakuolisierung der Knochenmarkvorläuferzellen und/oder einer Pankreasdysfunktion. Die schweren, transfusionsbedürftigen, makrozytären Anämien beginnen bereits ab der Geburt bzw. in frühester Kindheit. Außerdem zeigt sich noch ein unterschiedlich stark ausgeprägter Grad an Neutro- und Thrombozytopenien [2, 3].

Neben dem hämatologischen Defekt haben die Patienten auch eine fibröse exokrine Pankreasinsuffizienz mit Malabsorption und Diarrhö sowie einen Defekt der oxidativen Phosphorylierung mit (manchmal intermittierender) Laktacidämie und erhöhtem Laktat-Pyruvat-Quotient. Auch andere Organe können betroffen sein, entweder gleichzeitig oder im Verlauf der Krankheit: Häufig sind die Nieren mit einer Tubulopathie und Aminoacidurie beteiligt. Eine Leberbeteiligung äußert sich mit Hepatomegalie, Zytolyse und Cholestase. Möglich sind auch endokrine und neuromuskuläre Störungen. Selten haben die Patienten eine Herzbeteiligung oder eine Milzatrophie [2, 4].

Der von uns berichtete Patient hatte im Säuglingsalter die typische Präsentation mit Anämie und Laktaterhöhung; die Diagnose wurde mittels Nachweis der großen Deletion der mitochondrialen DNA gesichert. In den ersten 3 Lebensjahren war er bis auf eine initiale einmalige Substitution nicht transfusionsbedürftig. Als Zeichen der Multisystemerkrankung machte sich zunehmend das mangelnde Gedeihen bemerkbar.

Diagnosestellung

Ein wichtiges Diagnosekriterium stellen die Vakuolisierung der Granulozyten- und Erythrozytenvorstufen im Knochenmarkausstrich dar. „Ringsideroblasten“ können mit der Berliner-Blau-Färbung in diesen Ausstrichen mikroskopisch nachgewiesen werden (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Stark vakuolisierte Proerythroblasten, Ringsideroblasten im Knochenmarksausstrich. (May-Grünwald-Färbung, Objektivvergrößerung: 100×)

Ursache des Pearson-Syndroms sind Deletionen an der mitochondrialen DNA (Abb. 2). Der Nachweis dieser Deletionen mittels PCR-Amplifikationen aus Blut stellt auch gleichzeitig das wichtigste diagnostische Kriterium dar. Oben genannte Deletionen führen zu einer Fehlfunktion in der mitochondrialen Atmungskette. Da die mitochondriale DNA während der Zellteilung zufällig verteilt ist, kann normale und mutierte DNA innerhalb einer Zelle vorhanden sein. Dieses Phänomen nennt sich Heteroplasmie, und es erklärt auch die unterschiedliche Ausprägung der Erkrankung zwischen einzelnen Patienten und den einzelnen Organsystemen eines Patienten.

Tatsächlich treten in einem Gewebe Funktionsstörungen erst auf, wenn sich dort eine gewisse Menge mutierter DNA angesammelt hat. Daraus resultieren mildere Verläufe, die sich oftmals nur mit passagerer Panzytopenie oder Anämie präsentieren. Die Diagnosestellung gestaltet sich bei solchen Verläufen oftmals verzögert [1, 5].

Übergänge zu anderen Syndromen mit Deletionen der mitochondrialen DNA sind beschrieben, z. B. in Kearns-Sayre-Syndrom [1, 5].

Der von uns berichtete Patient zeigte eine SLSMD. Bei Patienten mit solchen mitochondrialen Deletionen ist prognostisch entscheidend, ob eine frühe Manifestation mit Transfusionsbedarf besteht oder nicht.

Differenzialdiagnosen

Abzugrenzen sind folgende Erkrankungen:

  • GRACILE-Syndrom („growth restriction, aminoacidurie, cholestase, iron overload, lactic acidosis and early death“),

  • „progressive external ophthalmoplegia“ (PEO),

  • Diamond-Blackfan-Syndrom (chronische kongenitale hypoplastische Anämie),

  • Hämsynthesestörungen.

Therapie und Verlauf

Eine spezifische Therapie des Pearson-Syndroms gibt es nicht. Versuchsweise sind in den ersten Lebensjahren Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantationen durchgeführt worden. Die teils schweren, rezidivierenden Infektionen mit metabolischen Krisen werden symptomatisch behandelt (Antibiotika, Antipyretika, Infusionstherapien). Bei schwerer Anämie erhalten die Patienten Transfusionen, manchmal zusammen mit Erythropoetin. Zudem kann bei schweren neutropenen Krisen auch Granulozyten-koloniestimulierende Faktor (G-CSF) verabreicht werden. Ebenfalls zur symptomatischen Behandlung gehören die Gabe von Pankreasextrakten und die Kontrolle endokriner Störungen. Der Tod tritt oft schon vor einem Alter von wenigen Lebensjahren auf. Todesursachen sind Sepsis, Stoffwechselkrisen mit Laktacidose oder Leberzellversagen. Der klinische Verlauf zeigt sich oft heterogen [1,2,3,4,5].

Fazit für die Praxis

Bei Säuglingen oder Kleinkindern, die mit Blässe, Gedeihstörung, Entwicklungsretardierung und laborchemisch mit Panzytopenie und Laktacidose auffällig werden, sollte differenzialdiagnostisch auch an eine mitochondriale Erkrankung gedacht werden. Zur weiteren diagnostischen Abklärung gehören eine metabolische Basisuntersuchung mittels Plasmaaminogramm (Erhöhung von Alanin, Erhöhung von Alanin-Lysin-Quotient), organische Säuren im Urin (Ausscheidung von Laktat, mitochondrialen Metaboliten wie z. B. Succinat, Fumarsäure), eine Knochenmarkpunktion (Nachweis von Sideroblasten) und eine weiterführende genetische Abklärung der mitochondrialen DNA aus Blut oder Knochenmark.