Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute an dieser Stelle zu stehen, empfinde ich als wirklich großes Privileg. Zum einen, weil bis vor wenigen Wochen noch unklar war, ob die seit 2 Jahren in Wellen verlaufende Coronapandemie oder der am 24.02.2022 begonnene russische Angriffskrieg auf die Ukraine es überhaupt erlauben würden, diesen Kongress und diese festliche Abendveranstaltung im prächtigsten Festsaal des Landes in Präsenz veranstalten zu können. Zum anderen, weil ich nicht sicher war, ob es mir selbst gelingen würde, dem Virus trotz Impfung und Auffrischung einer Ansteckung durch die Omikronvariante zu entgehen. Wenn Sie in das Amt der Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, deren Gründung sich in diesem Jahr zum 140. Mal jährt, gewählt werden, dann wird Ihnen die Chance gegeben, für exakt ein Jahr Themenschwerpunkte zu setzen, von denen Sie glauben, dass sie eine breite Öffentlichkeit verdienen, dass sie unter Internistinnen und Internisten diskutiert und in der Medizin berücksichtigt und behandelt werden sollten. Bei einer Fachgesellschaft mit 28.000 Mitgliedern hat das Gewicht und bedeutet eine große Verantwortung. Es ist aber auch eine große Ehre, diese Aufgabe übernehmen zu dürfen. Mein Thema in den vergangenen 12 Monaten und das Motto des Kongresses sind „Die Grenzen der Inneren Medizin“. Das sind sehr vielfältige Grenzen, und ich habe vier persönliche Anliegen in der Zeit der Präsidentschaft als Schwerpunkte gesetzt oder versucht, für diese zumindest Aufmerksamkeit zu erzeugen. Auf diese Schwerpunkte werde ich heute Abend eingehen: Ich beginne mit den Grenzen des ärztlichen Handelns am Lebensende – und das ist wahrscheinlich die härteste Herausforderung, von der ich glaube, dass wir uns als Ärzte mit ihr auseinandersetzen müssen. Ich möchte als Nächstes über einige Lektionen sprechen, die ich persönlich in der Coronapandemie gelernt habe. Im Weiteren werde ich über die Grenzen und Defizite der Digitalisierung im Gesundheitssystem unseres Landes sprechen und zuletzt auch ein paar Bemerkungen zum deutschen Sonderweg beim Datenschutz machen. Ich glaube, dass die beiden letzteren Punkte in direktem Zusammenhang miteinander stehen.

Grenzen des ärztlichen Handelns am Lebensende

Wir haben am 26.02.2020 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum ärztlich assistierten Suizid oder zur Sterbehilfe erhalten. Mein Eindruck ist, dass wir uns als Internistinnen und Internisten nicht ausreichend mit dieser Frage beschäftigen. Das Bundesverfassungsgericht hat Folgendes festgelegt: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Es gab Zeiten, da war Suizid strafbar, wenn er überlebt wurde. „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen, und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“. Damit ist auch vollständig geklärt, dass jeder, der diesen Wunsch hat, Deutschland verlassen darf, um in der Schweiz, in den Niederlanden oder in Kanada den ärztlich assistierten Suizid, sofern er bei uns nicht angeboten würde, tatsächlich nachzusuchen.

Mein Eindruck ist, dass zurzeit sehr viel von Juristen über diese Frage diskutiert wird, nicht aber von Medizinern außerhalb der Intensivmedizin bzw. der Palliativmedizin. Ich möchte Ihnen jetzt aufzeigen, was in anderen Ländern, die dies seit Längerem erlauben, an Veränderungen stattgefunden hat. Zuerst zeige ich Ihnen die Zahlen aus der Schweiz. In der Schweiz ist ärztlich assistierter Suizid gesetzlich erlaubt. Seit 2016 wird er statistisch erfasst, und es werden jährlich etwa 928 Fälle registriert. Zählt man die Ausländer mit, überwiegend Deutsche, die dazu in die Schweiz einreisen, dann sind es noch etwa 100 mehr. Das entspricht etwa 1,4 % der Todesfälle, die in der Schweiz jährlich insgesamt registriert werden. In den Niederlanden sieht es etwas anders aus. Dieses Land hat in dieser Frage auch eine längere Tradition. Dort wurden 2019 der entsprechenden Kommission 6361 Fälle von Sterbehilfe gemeldet. Das entspricht inzwischen 4,2 % aller Todesfälle in den Niederlanden, und im letzten Jahr gab es einen erneuten Anstieg von 3,8 % (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Gesamtzahl der Fälle von Sterbehilfe in den Niederlanden 2002–2015. (Mit freundlicher Genehmigung des Protection of Conscience Project [1])

Ich habe für Sie die wichtigsten Einzelergebnisse aus dieser Statistik zusammengestellt. Es sind meistens ältere Menschen, zwischen 70 und 80 Jahren, die um einen ärztlich assistierten Suizid nachsuchen. Aber es gibt auch 40- bis 50-Jährige in signifikanter Zahl, die den Zeitpunkt ihres Todes mit ärztlicher Begleitung selbst wählen möchten. Die weit überwiegende Mehrzahl dieser Menschen begeht zu Hause und in hausärztlicher Begleitung assistierten Suizid (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Anteil unterschiedlicher Sterbeorte an der Gesamtzahl ärztlich assistierter Sterbefälle in den Niederlande im Jahr 2021. (Mit freundlicher Genehmigung der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland. (fowid [2]))

Der überwiegende Teil der Menschen, die diesen Schritt wählen, leidet an Krebserkrankungen. Im Unterschied zu anderen Ländern besteht in den Niederlanden ebenso wie in Kanada nicht nur die Möglichkeit zum ärztlich assistierten Suizid, also der Hilfe zur Selbstmedikation der tötenden Medikamente, sondern es gibt auch die Möglichkeit des Tötens auf Verlangen. Das heißt, der Arzt führt die Infusion, die zum Tode führt, selbst aus und verlässt nicht den Raum, nachdem die Infusion angelegt wurde. Diese Form der ärztlichen Begleitung in den Tod betrifft mit 6092 fast alle Fälle von Sterbehilfe in den Niederlanden.

Als Nächstes fasse ich die Situation in Kanada zusammen. Dort nennt sich der Vorgang Medical Assistance in Dying (MAID). Im Zeitraum von 2016 bis 2019 war MAID bei 2 % der Todesfälle Todesursache. Zu 65 % wird MAID von Hausärzten durchgeführt, deutlich seltener von Palliativmedizinern und noch seltener von Anästhesisten. Daneben werden auch Internisten aus Krankenhäusern hinzugezogen, und bei 7,1 % der Patienten wird MAID von Krankenpflegekräften, „nurse practitioners“, die dafür in Kanada lizensiert sind, durchgeführt.

Die Schlussfolgerung aus den Daten und Fakten, die ich Ihnen hier zusammengestellt habe, sind Folgende: Ärztlich assistierter Suizid ist in Deutschland erlaubt. Auch unsere Bundesärztekammer hat ihre Regularien im Sinne des Urteils verändert. Auch das Berufsrecht der Ärzte schließt die Möglichkeit dazu ein oder zumindest das Verbot eines ärztlich assistierten Suizids aus. Die meisten ärztlich assistierten Suizide in anderen Ländern werden von Hausärzten begleitet und erfolgen in der häuslichen Umgebung. Somit ist dies dort kein Thema für den Krankenhaussektor, es ist ein Thema für den hausärztlichen ambulanten Sektor, und ich möchte unseren hausärztlich tätigen Internisten ans Herz legen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.

Der zweite Punkt ist: Über 90 % der Patienten, die um einen ärztlich assistierten Suizid nachsuchen, wurden vorher ausreichend und kompetent palliativmedizinisch behandelt. Wenn Sie dann noch diejenigen dazu rechnen, denen eine palliativmedizinische Behandlung angeboten wurde, und die diese abgelehnt haben, sind es 99 %. Es geht also nie um eine Konkurrenzsituation zwischen Palliativmedizin und ärztlich assistiertem Suizid, sondern die Betroffenen wurden fast ausnahmslos vorher palliativmedizinisch ausbehandelt.

Kanadische Einrichtungen raten zu ärztlich durchgeführtem Suizid statt suizidaler Selbstmedikation

Der dritte Punkt ist: Wenn sowohl Tötung auf Verlangen, also „clinician-administered“, als auch Sterbehilfe durch Verschreibung von Medikamenten, „self-administered“, erlaubt sind, wie in Kanada und den Beneluxländern, wird in fast 99 % der Fälle die Tötung auf Verlangen durchgeführt.

Der Grund dafür ist, dass alle ärztlichen oder pflegenden Beteiligten sagen oder befürchten, dass die Betroffenen die Medikation für den Suizid, wenn sie dazu entschlossen sind, weder effektiv noch sicher selbst durchführen können und schwerwiegende Komplikationen, die dann eben nicht zum Tode führen, sondern zu schweren Behinderungen, eintreten können. Kanadische Einrichtungen raten inzwischen dringend von der Selbstmedikation zum Suizid ab und empfehlen den ärztlich durchgeführten Suizid. Das ist der Status quo. Mein Eindruck ist, dass in unserem Kreis dieses Thema am ehesten verdrängt wird, und dass sich im Moment hauptsächlich Juristen damit auseinandersetzen. Ich bin auch nicht sicher, in welcher Form es dazu eine Gesetzgebung geben wird oder überhaupt geben sollte. Aber wir müssen dieses Thema in unseren Reihen bearbeiten, uns dazu positionieren, festlegen, welche Möglichkeiten wir sehen und welche Grenzen wir ziehen wollen, weil die Anfragen der Patienten an uns herangetragen werden. Wir sollten nicht die Bedürfnisse unserer Patienten ignorieren, wie wir es bei der Präimplantationsdiagnostik jahrelang erfolgreich getan haben, sodass damals alle betroffenen Familien in die gleiche belgische Klinik gereist sind. Jetzt fahren die Patienten, die den Wunsch haben, durch ihren Arzt in den Tod begleitet zu werden, nach Holland oder in die Schweiz. Wir sollten uns damit beschäftigen, um auch für unser Land eine von uns getragene Lösung zu finden.

Lektionen aus der Coronapandemie

Mein zweiter Punkt sind die Lektionen aus 2 Jahren Coronapandemie und die Schlussfolgerungen, die ich persönlich daraus gezogen habe. Diese Pandemie war ein absoluter Stresstest für unser Gesundheitssystem, für unsere persönliche Belastung, auch für unsere persönliche Betroffenheit. Wir alle rechnen im Moment schon in Wellen. Man erzählt schon: „Weißt du noch, in der zweiten Welle, damals, als wir auf der Intensivstation keine ECMO mehr zur Verfügung hatten?“ „Erinnerst du dich noch an die vierte Welle, als Omikron begann?“ Wir haben inzwischen eine der größten weltweiten pandemischen Erkrankungen, an die wir uns erinnern können, selbst im Vergleich zur Grippepandemie 1918/1919. Wir wissen von 6,2 Mio. gesicherten Todesopfern mit Nachweis des Virus. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher sein. Wir haben inzwischen eine halbe Milliarde Menschen, die nachweislich an COVID-19 erkrankt ist. Wenn man nur die Zahlen für Deutschland betrachtet, sind es, Stand Ende April 2022, immerhin schon 23 Mio. bestätigte Fälle. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich doppelt so hoch, und fast 140.000 Todesopfer sind zu beklagen. Das hat selbst eine Grippeepidemie in den letzten 20 Jahren nicht an Todesopfern in unserem Land gefordert. Wie haben wir darauf reagiert? Es gab in einer faszinierenden Geschwindigkeit die Möglichkeit, diese Krankheit zu verhindern: durch die RNA-basierte Impfung, die durch zwei Unternehmen konkurrierend und hocheffizient an den Start gebracht worden ist. Ich persönlich habe mit großem Enthusiasmus beobachtet, wie die Zahl der Geimpften anstieg, nachdem die Impfung im Dezember 2020 eingeführt war. Dann kam es zu Anschuldigungen gegen Lokalpolitiker, die sich vier Tage vor dem eigentlichen Impfstart oder dem Zeitpunkt, an dem sie an der Reihe gewesen wären, haben impfen lassen. Das waren die Skandale im Dezember und im Januar 2020/2021.

Heute ist der Skandal ein anderer. Wir stellten nämlich plötzlich fest, dass ab Juli, August 2021 die Impfquote überhaupt nicht mehr zunimmt. Die Gesundheitspolitik hatte anfangs Sorge, dass sie nicht genug Impfstoff beschaffen könnte – und es passierte etwas völlig anderes: Ein Viertel der Bevölkerung ließ sich nicht impfen; ein Viertel der Bevölkerung lässt sich auch heute noch nicht impfen. Ab Oktober ging es dann mit den Booster-Impfungen los. Dieselben Personen, die sich zum ersten Mal haben impfen lassen, ließen sich dann auch ihre Impfung auffrischen, aber keine neuen Bürger kamen zur Impfung. In meiner eigenen Einrichtung sind wir so weit gegangen, Impfvideos in türkischer und serbokroatischer Sprache zu produzieren, um auch noch die letzten Gruppen der Impfskeptiker zu überzeugen. Auch Eckart von Hirschhausen ist in seiner Festrede darauf eingegangen: Der Prozentsatz der Geimpften wird nicht mehr weiter steigen, wenn nicht wirklich etwas Dramatisches passiert. Und ich kann Ihnen nicht beantworten, warum. In Oberbayern hat Markus Söder einmal eine Erklärung dafür angeboten: Dort, wo die Impfrate besonders niedrig sei, im Voralpenland, wäre die Esoterik besonders verbreitet; das könnte man an der rückläufigen Zahl der niedergelassenen Ärzte und der steigenden Zahl niedergelassener Heilpraktiker deutlich ablesen. Ich fand es sehr mutig, dass ein Politiker erstmals einen direkten Zusammenhang zwischen Esoterik und Heilpraktikertum hergestellt hat. Möglicherweise hat er recht.

Mitarbeiter in Praxen und Kliniken müssen von der Notwenigkeit der COVID-19-Impfung überzeugt werden

Wir sehen ein zweites Problem im Nord-Süd-Gefälle und im West-Ost-Gefälle der Impfbereitschaft. Eine französische Zeitung hat mir einmal ein Interview dazu abgerungen, und ich habe versucht zu erklären, dass die französische Aufklärung nur sehr unvollständig im noch von der Romantik geprägten Deutschland angekommen ist und wir möglicherweise tatsächlich noch in Mythen und Mysterien denken und deshalb Impfung als Präventionsmaßnahme nicht akzeptieren. Eine wirkliche Antwort habe ich nicht. Wir sind aber gehalten, uns wenigstens mit der Impfskepsis bei unseren Mitarbeitern zu beschäftigen – weniger den Ärzten, aber ganz sicher bei den Pflegenden – viele von ihnen lassen sich immer noch nicht impfen. Nach den Zahlen des RKI von Ende April waren es 47.000 in nur 20 deutschen Städten und noch nicht mal in einer bundesweiten Statistik. Bis zum Herbst müssen wir einen Weg finden, zumindest die Mitarbeiter in unseren Praxen und Kliniken von der Notwenigkeit der Impfung an vorderster Front zu überzeugen, weil sonst die nächste Welle unser Gesundheitssystem erneut an seine Grenze bringen wird.

Ich habe noch andere Lektionen aus der Coronapandemie gelernt. Das ist der Zweifel daran, ob die Coronapneumonie mit COVID-19 eine Krankheit für Virologen oder Hygieniker ist. Wenn Sie sich erinnern, wer die Öffentlichkeit vor laufenden Fernsehkameras informiert hat, wer die Politik beraten hat, dann waren das in anderen europäischen Ländern Infektiologen, Pneumologen, ggf. Intensivmediziner und Anästhesisten. Deutschland hatte dagegen eine Sonderstellung, in dem die, die Maßnahmen gegen Corona vorgeschlagen, propagiert und vertreten haben, Virologen waren, z. T. Hygieniker. Das hat aus meiner Sicht zu gewissen Verzerrungen in unserer Wahrnehmung und unseren Reaktionen geführt. Einige dieser Virologen hatten sich nie mit so etwas wie dem Coronavirus beschäftigt. Nicht selten waren es AIDS-Spezialisten, also Experten für ein ziemlich anderes Krankheitsbild. Aber die Empfehlungen gipfelten dann in Untersuchungen wie in diesem Artikel aus Deutsches Ärzteblatt: „Covid-19 Patienten husten Viren durch chirurgische Masken und Baumwollmasken hindurch“ (Deutsches Ärzteblatt vom 07.04.2020), übrigens auch durch FFP2-Masken. Die Untersucher sind hingegangen und haben die Porengröße der Masken rasterelektronenmikroskopisch bestimmt. Das Coronavirus ist ungefähr 100 nm groß. Wenn die Poren in diesen Maske 120 nm weit waren, wurde daraus gefolgert, dass die Masken nicht schützen können. Jeder Infektiologe in Deutschland hätte gesagt: „Alle Atemschutzmasken schützen vor bakteriellen und viralen Infektionen.“ Das ist Erfahrungswissen und vielfach durch Studien belegt, weil Viren auch elektrostatisch in den Masken haften bleiben. Auf das Gegenteil wäre ein Infektiologe nicht gekommen. Und es hatte wirkliche Konsequenzen, weil die Masken lange verteufelt und abgelehnt wurden. Das Zweite sind Instrumente wie ein kontaktfreier Türöffner. Dieser geht auf eine Studie der Hygieniker zurück. Diese haben Abstriche von Türklinken gemacht, dabei Virus-RNA gefunden und daraus geschlossen „Das Händeschütteln und Türklinken sind wichtige Übertragungswege für das Coronavirus.“ Kontaktlose Türöffner kann man bis heute für 4,99 € bei Amazon erwerben.

Auch der berührungsfreie Gruß und das Vermeiden des Händeschüttelns haben wir der Entdeckung von RNA-Fragmenten auf Oberflächen zu verdanken. Pneumologen und Infektiologen wären nicht primär auf die Idee gekommen, dass man durch einen RNA-Nachweis auf einer Oberfläche einen Infektionsmodus für ein Virus, das über die Atemwege und Aerosole übertragen wird, postulieren kann. In diesem Feld hat es aber eine Veränderung gegeben, und ich betrachte es als einen der größten berufspolitischen Erfolge der letzten Jahre, den der Berufsverband Deutscher Internistinnen und Internisten (BDI) und die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) gemeinsam erstritten haben, dass am Mittwoch, den 05.05.2021, der Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie in Deutschland eingeführt worden ist. Ein Facharzt, den unsere Nachbarländer schon seit Jahren anbieten und dessen Einführung bei uns jetzt mit reichlicher Verzögerung erfolgt ist. Dies ist letztlich gelungen, weil auch die Fächer außerhalb der Inneren Medizin erkannt haben, dass man in einer Coronapandemie die Hilfe von Infektiologen in der Krankenversorgung benötigt und am Krankenbett weniger die von Fächern, die diagnostisch ausgerichtet sind. Die Zusatzweiterbildung für Infektiologie war vor einigen Jahren für Mikrobiologen, Virologen und Hygieniker geöffnet worden; Fächer, die bei der Behandlung am Krankenbett aber keine Hilfe leisten können. Das hat es am Ende leichter gemacht, mit Argumenten zu überzeugen, und somit auch in Deutschland den Internisten und Infektiologen einzuführen.

Welche Werkzeuge haben wir zur Bekämpfung der Pandemie genutzt? In Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern, nicht sehr viele. Die großen Studien zur Behandlung von COVID-19, z. B. der RECOVERY collaborative group [3] kamen aus Großbritannien und anderen Ländern. Wir haben dazu wenig beigetragen. Eines der Werkzeuge, nicht unbedingt ein internistisches, war die PCR-Testung, die wir an all unseren Kliniken in Windeseile aufgebaut haben. Dies ist gelungen, aber durch das Testen verschwindet eine Krankheit noch nicht. Es hilft nur, die Betroffenen zu isolieren. Die wirklich wichtigen Werkzeuge waren die Fax-Maschine zum Datenaustausch zwischen Krankenhäusern und Gesundheitsämtern und die Corona-Warn-App, die von einigen als Errungenschaft gefeiert wurde. Ich selbst erinnere mich sehr schmerzhaft daran, dass 6 Mitarbeiter des LMU-Klinikums gleichzeitig versucht haben, die gesetzlich vorgeschriebenen Meldungen ans Gesundheitsamt zu übermitteln. Da das örtliche Gesundheitsamt aber nur eine Fax-Maschine für diesen Zweck vorhält und diese einen Papierstau hatte, war über Stunden keine Meldung möglich. Es gibt seit über einem Jahr ein digitales Meldeprogramm für diesen Zweck, das aber noch nicht einmal in seiner Beta-Version zur Verfügung steht.

Die Corona-Warn-App halte ich für einen Misserfolg, auch wenn sie technisch gut programmiert wurde. Sie ist 41 Mio. Mal in Deutschland heruntergeladen worden. Man muss aber wissen, dass zwei Drittel der Handys, die heute im Umlauf sind, diese App nicht verwenden können, weil ihr veraltetes System die Software nicht nutzen kann. Von den Coronafällen, die identifiziert wurden, wurden nur 20 % der Erkrankten an die App gemeldet, weil man das Prinzip der Freiwilligkeit als höchste Priorität festgelegt hatte. Somit wurde nur vor jedem vierten oder fünften Erkrankungsfall tatsächlich gewarnt, ohne genaue Orts- und Zeitangabe und ohne, dass die identifizierenden Labore das Testergebnis direkt in die Corona-Warn-App eingespielt hätten, wie z. B. die erfolgten Impfungen direkt an die COV-App oder die Warn-App weitergeleitet wurden. Andere Länder haben das besser gehandhabt, und dort haben die Warnsystem auch funktioniert.

Defizite in der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens

Das bringt uns zum Grad der Digitalisierung in Deutschland. Heyo Kroemer hat bei seinem Vortrag in der Eröffnungssitzung bereits dargestellt, dass mehr als 95 % der Informationen zwischen Einrichtungen der Krankenversorgung in Deutschland bis heute auf Papier oder per Fax ausgetauscht werden. In keinem anderen Bereich des öffentlichen Lebens wird so wenig digitale Information übermittelt. Für die Krankenhäuser wird der Grad der Digitalisierung international anhand der Klassifikationen des Electronic Medical Records Adoption Model (EMRAM) mit den Stufen von 1 bis 7 gemessen, wobei 7 nur für Krankenhäuser mit durchgängig digitalen Patientenakten vergeben wird. Solche Krankenhäuser gibt es nur in den USA, den Niederlanden und Dänemark. Zur nächsten Stufe 6 gehören nur sehr wenige Krankenhäuser in Deutschland. Bildet man den Durchschnitt, beträgt der Mittelwert in Deutschland 2,3, in Dänemark 5,4, in den USA 5,3, und auch die Türkei hat einen höheren Digitalisierungsgrad ihrer Krankenhäuser erreicht als wir. Noch bedenklicher ist die Tatsache, dass Deutschland zwischen 2016 und 2018 im Ranking im Vergleich zu anderen Ländern zurückgefallen ist und diese Länder an uns vorbeiziehen (Tab. 1).

Tab. 1 Anteil der Krankenhäuser in den einzelnen Stufen des Electronic Medical Records Adoption Model (EMRAM) in verschiedenen Ländern/Regionen (2017). (Mod. nach Stephani et al. [4])

Das signalisiert, dass wir keine wirklich überzeugenden Anstrengungen unternehmen, unsere Krankenhäuser oder unser Gesundheitssystem in Bezug auf die elektronische Patientenakte tatsächlich nach vorn zu bringen.

Für Deutschland ist die umfassende Digitalisierung noch immer ferne Zukunftsmusik

Estland und Dänemark sind Beispiele, wie dies vorbildlich gelingt. In Dänemark werden für alle 5 Regionen des Landes alle Patienteninformationen von Haus- und Fachärzten, von allen Leistungserbringern, einschließlich Physiotherapie und Apotheke, die gesamte digitale Bildgebung und alle Laborbefunde in einer zentralen Datenbank abgelegt. Es gibt einen elektronischen Medikationsplan, einschließlich aller elektronischen Rezepte, auch aller Folgerezepte. So lässt sich über Jahre nachverfolgen, welche Medikamente verschrieben und von Apotheken ausgegeben wurden, und wann sie aus welchem Grund abgesetzt wurden. Es gibt selbstverständlich ein elektronisches Impfregister, nicht nur für COVID-19, sondern für alle Impfungen. Darüber hinaus existieren eine elektronische Patientenverfügung und der Organspendeausweis. Patienten können über dieselbe zentrale Plattform online ihre Termine beantragen, und es wird nachgehalten, wie schnell ihnen ein Termin angeboten wurde – in jedem Krankenhaus mit Echtzeitwartezeiten. Auch die Patientenbewertungen werden dort hinterlegt. Alle Bürger können sich über ihre elektronische Patientenakte für Vorsorge- und Screeningprogramme, einschließlich der Kolonkarzinomvorsorge, anmelden. Die Registrierung als Blut‑, Stamm- oder Eizellspender findet über dasselbe Portal statt und auch die Einschreibung in klinische Studien, so die Patienten dies wünschen. Alle Partner, Patienten, Ärzte, Krankenhäuser kommunizieren webbasiert über diese Plattform. So sieht ein digitales Gesundheitssystem aus. Für unser Land ist dies alles sehr ferne Zukunftsmusik, auch wegen des Widerstands aus den eigenen Reihen der Ärzteschaft.

Nehmen wir nur die elektronische Gesundheitsakte, die Telematikinfrastruktur, die 10 Jahre komplett blockiert wurde. Ich hatte mir erlaubt, in einem Leitthemenbeitrag dazu Herrn Dr. Axel Brunngraber zu zitieren, der vor 11 Jahren beim Ärztetag gesagt hat: „Wir haben in den vergangenen Jahren wichtige Bollwerke geschaffen und das Projekt auf Jahre hin gestoppt. Und das werden wir auch weiter durchhalten.“ Als ich dies geschrieben habe, hat mich Kollege Brunngraber, der niedergelassener Internist in Hannover ist, kontaktiert, um seine Gründe darzulegen: „Der Kern der Telematikinfrastruktur ist nicht die Förderung ärztlicher Arbeit (und das sollte es eigentlich sein), sondern der Zugriff auf die Ergebnisse ärztlicher Arbeit. Nach einer jahrelangen aufwendigen Beta-Testung schlecht programmierter Vehikel, die eigentlich von den Krankenkassen hätten betrieben werden müssen, liegen nun keinerlei innovative, die Qualität unserer Bemühungen unterstützende Features vor. Stattdessen prägen gravierende funktionelle Defizite den Alltag des Projektes seit über zehn Jahren.“ Dies ist sicher einer der Gründe, warum wir uns als Ärzte mit der Digitalisierung so schwertun. Die Programme und Strukturen wurden nicht von uns geschaffen, sie wurden uns übergestülpt, und wir waren viel zu selten und viel zu marginal daran beteiligt. Auch die Krankenhausinformationssysteme sind für Programmierer, Abrechnungsstellen, Rechtsabteilungen und Verwalter geschrieben worden, aber nicht für unsere ärztliche Tätigkeit. Das zu ändern, erfordert einerseits eine viel größere digitale Kompetenz unter den Ärztinnen und Ärzten und andererseits politische Vorgaben vonseiten der Ärzteschaft, damit die Weiterentwicklung in unserem Sinne und im Sinne der Patienten vollzogen wird. Die DGIM hat ihre Kommission „Digitale Transformation in der Inneren Medizin“ dafür aufgerüstet und ausgezeichnet positioniert.

Deutscher Sonderweg beim Datenschutz in der Medizin

Das bringt mich zum letzten Punkt, dem Datenschutz und der deutschen Auslegung der DSGVO; ein Thema, das immer mehr an Brisanz gewinnt. Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern, die personenbezogene Daten verarbeiten, benötigen nach der DSGVO einen Datenschutzbeauftragten. Die 2016 von Jan Philipp Albrecht, heute Minister in Kiel, damals Europaparlamentarier, praktisch im Alleingang durchs Europaparlament gebrachte DSGVO fordert dies ein. Das Ziel war, die Bürger vor Schaden durch den Missbrauch ihrer Daten durch Google, Apple, Amazon und vielleicht sogar die Schufa zu schützen. Die gleiche DSGVO wird aber auch auf den Medizinbereich und alle Bereiche des öffentlichen Lebens angewandt. In Deutschland unterliegen 200.000 Unternehmen der DSGVO und müssen, wenn sie noch keinen haben, einen Datenschutzbeauftragten nach DSGVO ernennen. Dies vergeben 35 % der Unternehmen an externe Berater, die nicht Mitarbeiter der Firma sind. In der Summe bedeutet das, dass in Deutschland 130.000 Datenschutzbeauftragte tätig sein werden, die uns vorgeben, wie wir im Datenschutz alles richtig machen, oder kontrollieren, ob wir es richtig gemacht haben. Im Vergleich dazu: In Deutschland sind 100.000 Steuerberater und 4000 Steuerfahnder tätig. Ich unterstelle einmal, dass der Schaden, der unserem Land und jedem einzelnen Bürger durch Missbrauch im Steuerecht entsteht, den Schaden, der durch Missbrauch im Datenschutz entstanden ist, um ein Vielfaches übersteigt. Trotzdem haben wir uns als Gesellschaft und als Staat dazu entschlossen, eine viel größere regulatorische Kontrollbürokratie für den Datenschutz aufzubauen als für das Steuerrecht.

Die Sanktionen sind drakonisch. Nutzt man den Bußgeldrechner, der im Internet angeboten wird, wird ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 500 Mio. € – das ist ungefähr die Hälfte der deutschen Universitätsklinika – für eine Datenschutzverletzung, die nicht „formell“, sondern „materiell“ ist und die weder „leicht“, noch „mittelschwer“ sondern als „sehr schwer“ eingeschätzt wird, mit einem Bußgeld zwischen 10 Mio. und 20 Mio. € belegt. Auch das Strafmaß ist deutlich schärfer als im Steuerrecht oder bei Körperverletzung.

Komplizierend kommt hinzu, dass wir unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern haben. In Bayern gibt es beispielsweise eine Regelung, dass die Daten von Patienten zwar für Forschung genutzt werden, nicht aber das Gelände des Krankenhauses verlassen dürfen. Sie dürfen auch Forscher, die nicht Mediziner oder an der Behandlung beteiligt sind, damit beauftragen, also z. B. Epidemiologen oder Statistiker, aber nur, wenn die Daten das Krankenhausgelände nicht verlassen. Dieses Gesetz wurde geschaffen, als man noch mit Mikrofilmen oder Papierakten arbeitete. Das hat für bayerische Uniklinika gravierende Konsequenzen, weil die Firewalls in Bayern unvergleichbar höher sind als in anderen Bundesländern. Das bedeutet aber auch, dass das LMU-Klinikum des Freistaats keine Auswertung personenbezogener Patientendaten am Leibniz-Rechenzentrum des Freistaats mit seinem achtschnellsten Rechner der Welt vornehmen darf. Krankenhäuser dürfen andere Krankenhäuser zur Speicherung oder zur Auswertung ihrer Daten nutzen, aber eben kein unabhängiges Rechenzentrum und schon gar keine bayernweite Cloud. All das verbietet der Datenschutz. In Deutschland darf jedes Krankenhaus retrospektive Patientendaten anonymisiert wissenschaftlich auswerten. Aber die Daten aus verschiedenen Krankenhäusern dürfen für diesen Zweck nicht zentral zusammengeführt werden, auch das aus Datenschutzgründen. Interessant ist, dass der Datenschutz in Ländern, die unter derselben DSGVO arbeiten, wie Estland, Österreich oder Skandinavien, dies erlaubt. In diesen Ländern findet der Datenschutz pragmatische und umsetzbare Lösungen, die den schnellen Zugriff auf Gesundheitsdaten im Notfall und zum Nutzen des betroffenen Patienten ermöglicht und die Forschung mit Gesundheitsdaten nicht verhindert. In Deutschland sollen unter derselben DSGVO präventiv hypothetische Datenschutzverletzungen durch technische Blockaden verhindert werden, auch wenn diese nur mit höchster krimineller Energie möglich wären. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz und ein Registergesetz für Gesundheitsdaten angekündigt. Ich glaube, wir müssen auf die Gestaltung dieses Gesetzes Einfluss nehmen – einerseits im Interesse unserer Patienten, andererseits zum Nutzen für die medizinische Forschung.

Datensparsamkeit und Fristvorgaben zur Datenvernichtung in der Medizin vergeuden wichtige Ressourcen

Dazu habe ich einige Vorschläge: Der Austausch von Patientendaten zwischen Medizinern kann Menschenleben retten. Das ist vielfach belegt und nicht nur anekdotisch. Die Beweggründe und Motive sind andere als bei Google, Amazon oder der Schufa. Die deutschen Hüter der DSGVO berücksichtigen diesen Umstand nicht, sollten sie aber.

Ziel des Datenschutzes in der Medizin sollte nicht sein, den Zugang zu und die Nutzung von Daten zu verhindern, sondern Patienten vor einem Schaden durch Missbrauch ihrer Daten zu schützen. Hierin liegt der Unterschied zwischen der Auslegung der DSGVO in unserem Land und in unseren europäischen Nachbarländern. Die wichtigsten Forschungsergebnisse und Behandlungsfortschritte zur Bekämpfung der Coronapandemie kamen nicht aus Deutschland. Unsere Auslegung der DSGVO ist einer der Gründe dafür. Datensparsamkeit und Fristvorgaben zur Vernichtung von medizinischen Daten sind eine gigantische Verschwendung menschlicher, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ressourcen. Wir hatten 1982 in Deutschland den weltweit größten jemals aufgezeichneten Trichinose-Ausbruch in Bitburg. Dort gab es damals ein großes Volksfest, viele haben rohes Mett gegessen, und 137 Teilnehmer haben eine Trichinose entwickelt. Die einzigen Behandlungsverläufe weltweit zu einer solchen Epidemie stammen somit aus Deutschland. Alle Akten, Health Records und Unterlagen – hätte die DSGVO damals gegolten – wären 1997 komplett vernichtet worden. Wir wüssten heute nichts über den nunmehr 40-jährigen Verlauf der Erkrankung, wir wüssten nichts über die Langzeiteffektivität irgendeiner Therapie gegen Trichinose und ebenso wenig über die letztlichen Todesursachen der Patienten, wenn die Daten, wie heute vorgeschrieben, nach 15 Jahren vernichtet worden wären.

Vorschläge für die Gestaltung des geplanten neuen Gesetzes könnten sein: Die Auswertung von anonymisierten Daten aus klinischen Studien und in Krankheitsregistern sollte keine persönliche und individuelle Zustimmung mehr erfordern. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften fordert dies konkret auch für pseudonymisierte Daten, was für die Untersuchung von Krankheitsverläufen sehr viel nützlicher ist. Eine solche individuelle Zustimmung wird auch im Steuer-, im Melde-, im Verkehrs- und im Personenstandsrecht nicht gefordert. Sonst könnte der Staat keine Steuerschätzung und keine Unfallstatistik veröffentlichen. Warum sollen diese dann für anonymisierte oder pseudonymisierte Gesundheitsdaten gelten?

Die Frist zur Löschung von medizinischen Daten aus klinischen Studien und Krankheitsregistern gehört abgeschafft. Langzeitbeobachtungen über Medikamentennebenwirkungen oder chronische Erkrankungen sind sonst unmöglich. Ich habe Ihnen das Beispiel der Trichinose genannt. Register müssen darüber hinaus zusammengeführt werden können, um statistische Auswertungen erst valide zu machen und mithilfe künstlicher Intelligenz überhaupt untersuchen zu können.

Datenminimierung, einer der wichtigsten Grundsätze des Bundesdatenschutzbeauftragten, macht in der Medizin überhaupt keinen Sinn. Wir müssen alles, was wir an Information über unsere Patienten erhalten haben, sammeln und speichern dürfen. Nur daraus ergeben sich individuelle Schlussfolgerungen für die Behandlung des einzelnen Patienten, v. a. in Notfallsituationen, und nur daraus lassen sich Forschungszusammenhänge zwischen Gesundheitswirkungen oder schädlichen Wirkungen, z. B. von Medikamenten, ableiten. Die Datenminimierung verhindert die Aufdeckung seltener Nebenwirkungen oder bisher unbekannter Krankheitszusammenhänge.

Und als letzter Punkt: Eine enge Zweckbestimmung der Datennutzung, die über die Nutzung für die Erforschung von Krankheitsursachen oder von Behandlungsergebnissen hinausgeht, darf es nicht mehr geben. Ich war fast 20 Jahre in verschiedenen Ethikkommissionen tätig, und wann immer beantragt wurde, die Daten aus einer Hypertoniestudie erneut auf Zusammenhänge mit Diabetes und Herzinsuffizienz auszuwerten, wurde dies abgelehnt, weil die ursprüngliche Patientenaufklärung diese Auswertung nicht dezidiert eingeschlossen hatte. Die Zustimmungen müssen breit sein; prospektiv gesammelte Daten müssen ebenso wie Routinedaten ähnlich wie bei epidemiologischen Studien breit für die medizinische Forschung ausgewertet werden können.

Schlussworte

Meine Damen und Herren, zwischen Ihnen und dem Empfang der Stadt Wiesbaden steht nur noch meine letzte Folie. Ärztliches Handeln am Lebensende, Lektionen aus der Coronapandemie, Defizite in der Digitalisierung und beim deutschen Sonderweg für die Anwendung der DSGVO durch den Datenschutz in der Medizin, das waren die vier Grenzen der Medizin, bei denen ich mir die Freiheit genommen habe, sie zu Schwerpunkten zu machen und sie Ihnen mit auf den Weg zu geben. Dieses sind auch die Themen, denen unsere Fachgesellschaft im letzten Jahr – und ich hoffe auch weiterhin – eine hohe Priorität eingeräumt hat.

Es ist mir eine wirklich große Ehre und ein echtes Privileg, hier heute vor Ihnen stehen zu dürfen. Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Zeit.

Markus M. Lerch, München