Patienten mit unklarer Diagnose stellen Ärzte vor besondere Herausforderungen. Besonders bei familiärem Auftreten und/oder frühem Beginn einer Symptomatik, ungewöhnlichem Verlauf oder Vorliegen von Fehlbildungen oder einer Multiorganbeteiligung kommt dann der Verdacht auf, dass eine Seltene Erkrankung vorliegt. Die unbekannte Kombination bzw. Vielfältigkeit und die Persistenz der Symptome lassen jedoch gelegentlich an eine primär psychische Erkrankung denken. Die Abgrenzung ist oft schwierig, insbesondere auch, da bei länger ungeklärten chronischen Symptomen häufig eine psychische Komorbidität bestehen kann, welche die Symptomatik einer Seltenen Erkrankung verschleiert und damit eine Diagnose verzögern kann. Für die Abklärung von Patienten mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung gibt es inzwischen etwa 35 Referenzzentren in Deutschland. Im Innovationsfondsprojekt „Duale Lotsenstruktur zur Abklärung unklarer Diagnosen in Zentren für Seltene Erkrankungen“ (ZSE-DUO) haben sich viele Partner zusammengefunden, die die somatische und psychosomatische und/oder psychiatrische Expertise an zentraler Stelle verbinden wollen. Zielsetzung des Projekts ist, bei Patienten mit unklarer Diagnose und Verdacht auf eine Seltene Erkrankung häufiger und schneller die richtigen Diagnosen zu stellen, sodass mehr Menschen früher eine passende Therapie erhalten können.

Fakten zu Seltenen Erkrankungen

Als selten werden in Europa Erkrankungen bezeichnet, bei denen es nicht mehr als einen Erkrankten pro 2000 Einwohner gibt. Zurzeit werden etwa 8000 – also etwa ein Drittel aller bekannten Erkrankungen – zu dieser Gruppe gezählt [1]. Sie sind meist genetisch bedingt und manifestieren sich oft schon im Kindesalter. Medizinisch gesehen sind sie sehr divers, häufig hochkomplex und bei der überwiegenden Zahl der Betroffenen schwierig zu diagnostizieren. Beschwerden sind oft unspezifisch und betreffen mehrere Organsysteme, sodass die Patienten häufig auch in verschiedenen Fachrichtungen vorstellig werden. In vielen Fällen bedarf es einer interdisziplinären Herangehensweise. Die Gesamtzahl an Betroffenen liegt Schätzungen zufolge allein in Deutschland bei 4 Mio. – dies liegt durchaus im Bereich der großen Volkserkrankungen [2].

Entwicklungen der letzten Jahre

Seltene Erkrankungen haben in den letzten Jahren enorm an Aufmerksamkeit gewonnen, wozu insbesondere Patientenorganisationen beigetragen haben. Herauszuheben ist hier die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) mit ihrer Schirmherrin Frau Eva Luise Köhler (s. Grußwort in Der Internist von Oktober 2017 [3]). Im Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) wiederum haben sich die wesentlichen Akteure im Gesundheitswesen zu Seltenen Erkrankungen in einem Bündnis vereinigt, das einen nationalen Aktionsplan veröffentlicht hat (Infobox 1, [4]). Dieser beinhaltet auch das Zentrenkonzept, nach dem viele nationale Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) gegründet wurden.

Infobox 1 Mehr Informationen zum Thema

Seltene Erkrankungen haben in den letzten Jahren enorm an Aufmerksamkeit gewonnen

Darüber hinaus gab und gibt es Ausschreibungen im Innovationsfonds, durch die im Bereich der Seltenen Erkrankungen unter anderem die beiden großen Projekte TRANSLATE-NAMSE (https://translate-namse.charite.de) und ZSE-DUO (https://ukw.de/zse-duo) gefördert wurden bzw. werden. Diese widmen sich unter anderem der Diagnosestellung bei Menschen mit unklarer Diagnose. In der Medizininformatik-Initiative wird ein nationaler, konsortienübergreifender Use Case zu Seltenen Erkrankungen, die Collaboration on Rare Diseases, gefördert (https://www.medizininformatik-initiative.de/de/CORD). Doch auch auf europäischer Ebene wird die Versorgung von Betroffenen mit Seltenen Erkrankungen verbessert, wie sich an den Europäischen Referenznetzwerken – großen Verbünden von Expertenzentren – zeigt (https://ec.europa.eu/health/ern/networks_de).

Zentren für Seltene Erkrankungen

ZSE sind überwiegend an Universitätskliniken angesiedelt, wo sich die ganze Bandbreite der Fachdisziplinen, deren jeweilige spezielle Kompetenzen und modernste diagnostische Methoden in den beteiligten Instituten und Kliniken vereinen. Im ZSE gibt es auch eine zentrale Struktur als Teil des Referenz- bzw. Typ-A-Zentrums mit einem oder mehreren Patientenlotsen. Dieser Lotse – in der Regel ein ärztlicher Kollege – leitet die anfragenden Patienten mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung, deren Beschwerden sich nicht direkt einer klaren Fachrichtung zuordnen lassen, durch den weiteren Diagnoseprozess – wenn nötig auch unter Einbeziehung externer Expertise. Dies geschieht meist in enger Abstimmung mit dem betreuenden und/oder zuweisenden Haus- oder Facharzt und unter Berücksichtigung von Fragebögen und bereits vorhandenen ärztlichen Unterlagen. Darüber hinaus hilft der Lotse auch Personen mit einer diagnostizierten Seltenen Erkrankung, den richtigen Experten zu finden.

In den ZSE stehen Ansprechpartner für Ärzte und Patienten in Sachen Seltene Erkrankungen bereit

Des Weiteren werden an den ZSE Maßnahmen im Bereich der Aus‑, Fort- und Weiterbildung durchgeführt und die Forschung vorangebracht. Die Zentren sind mit anderen Gesundheitseinrichtungen und der Patientenselbsthilfe vernetzt.

In Deutschland gibt es etwa 35 ZSE. Eine Übersicht mit weiterführenden Links – unter anderem zu Kontaktdaten von Ansprechpartnern – finden sich im Orphanet, der Datenbank für Seltene Erkrankungen und Orphan Drugs, unter www.orpha.net/national/DE-DE/index/zentren-für-se-zse/ oder im se-atlas unter https://www.se-atlas.de/map/zse.

Das ZSE-DUO Projekt

Patienten, die sich mit unspezifischen Symptomen an ein ZSE wenden, bei denen aber nicht schnell eine Diagnose gestellt werden kann, wird oft empfohlen, sich bei einem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder Arzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie vorzustellen. Dieses Vorgehen wird von den Betroffenen meist als belastend empfunden. Auch wird die Suche nach einer Seltenen Erkrankung vonseiten der Patienten dann oft beendet oder es wird Kontakt zu weiteren Experten aufgenommen, ohne dass eine abschließende Diagnosestellung erfolgt. Letztlich bleibt auch die psychosomatische oder psychische Problematik unbehandelt und trägt zu erheblichen Kosten im Gesundheitssystem bei.

Zusammenhänge zwischen psychischen und körperlichen Symptomen können sehr komplex sein (Abb. 1). Bisherige Erfahrungen haben gezeigt, wie wichtig die somatische und psychosomatische Seite bei Patienten ist [3,4,5,6,7,8,9,10,11,12,13,14].

Abb. 1
figure 1

Zusammenhänge von psychischen und körperlichen Symptomen

Das im Oktober 2018 gestartete Projekt ZSE-DUO will herausfinden, ob die gemeinsame Patientenbetreuung durch einen somatischen Facharzt, beispielsweise für Innere Medizin, und einen Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder Arzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie die diagnostische Trennschärfe verbessern und die Zeit bis zur Diagnosestellung verkürzen kann. ZSE-DUO steht dabei für „Duale Lotsenstruktur zur Abklärung unklarer Diagnosen in Zentren für Seltene Erkrankungen“.

Das Projekt wird durch den Innovationsfonds gefördert und hat zum Ziel, innerhalb der Förderdauer Daten für eine Diskussion über eine flächendeckende Versorgungspraxis zu generieren – ein grundlegender Aspekt bei der Innovationsfondsförderung. Neben elf ZSE und der ACHSE als Dachorganisation der Patientenselbsthilfe sind auch drei Krankenkassen und drei evaluierende Einrichtungen beteiligt (Infobox 2).

Infobox 2 Projektpartner des ZSE-DUO-Konsortiums

Beteiligte Zentren für Seltene Erkrankungen

Weitere Projektpartner

Selbsthilfe

Evaluatoren

  • Institut für Klinische Epidemiologie und Biometrie der Universität Würzburg

  • Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hannover

  • Institut für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf

Krankenkassen

  • Techniker Krankenkasse

  • IKK gesund plus

  • AOK Hessen (Kooperationspartner)

In das Projekt wurden nach derzeitigem Stand 1375 Patienten rekrutiert. Die Patienten wurden entweder nach den Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans des NAMSE unter anderem in einer Spezialsprechstunde betreut (Kontrollgruppe, 682 Patienten, inklusive 11 Studienwiderrufe) oder in die neue Versorgungsform mit sowohl somatischer als auch psychosomatischer und/oder psychiatrischer Facharztkompetenz (Interventionsgruppe, 693 Patienten, inklusive 6 Studienwiderrufe) eingeschlossen.

Die Abklärung in einem ZSE-DUO-Partnerzentrum erfolgte in einem mehrstufigen Prozess unter Einbeziehung des betreuenden Arztes. Nach Prüfung der Unterlagen auf Vollständigkeit, Sichtung und Zusammenfassung der Informationen sowie Fallbesprechung mit mindestens 2 Ärzten des ZSE erfolgte eine persönliche Vorstellung des Patienten in einer Sprechstunde/Ambulanz für unklare Diagnosen. In der Kontrollgruppe allein durch den somatischen Facharzt, in der Interventionsgruppe zusammen mit einem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder Arzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Bei weiterhin bestehender Unklarheit trotz Zusatzdiagnostik bestand die Möglichkeit der Einbindung weiterer Fachexpertise in regionalen und in ZSE-DUO zentrenübergreifenden Fallkonferenzen.

ZSE-DUO soll Daten für eine Diskussion über die flächendeckende Versorgungspraxis generieren

Innovativ am Projekt ZSE-DUO ist zuallererst das ärztliche Tandem bestehend aus je einem somatischen und einem psychosomatischen und/oder psychiatrischen Facharzt. Ein weiterer innovativer Aspekt sind telemedizinische Sprechstunden zur Vor- und Nachbereitung von Präsenzsprechstunden und zur Überbrückung bei eventuell erforderlicher Überleitung in eine psychiatrische und/oder psychosomatische Behandlung. Die zentrenübergreifenden Fallkonferenzen stellen einen weiteren innovativen Teil des Projekts dar. Für diese Fallkonferenzen konnte die informationstechnische Plattform der Europäischen Referenznetzwerke an die nationalen Bedürfnisse angepasst und erfolgreich im Projekt etabliert werden [15].

Die Evaluation erfolgt als prospektive Kohortenstudie. An den ZSE wurde nach einer Kontrollphase nur mit einem somatischen Arzt (Regelversorgung) in der anschließenden Interventionsphase zusätzlich ein Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder Arzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie eingesetzt (neue Versorgungsform). Die Kohorten mit Patienten, die das ZSE in diesen beiden Zeiträumen erstmalig kontaktieren, werden prospektiv bezogen auf definierte Endpunkte miteinander verglichen. Die Endpunkte der Evaluation sind:

  • Diagnostische Erfolgsquote

  • Zeit bis zur Diagnosestellung

  • Gesundheitsökonomie

  • Erfolgreiche Überleitung in die Regelversorgung

  • Vorhersagekraft von Screeningfragebögen zur Einschätzung des Bedarfs an psychiatrisch-psychosomatischer Betreuung

  • Patientenzufriedenheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität

  • Zufriedenheit der Behandler

Im Folgenden soll ein Überblick der Problemstellungen von Patienten gegeben werden, die sich an ein ZSE wenden. Anhand einiger Kasuistiken mit Bezug zur Inneren Medizin werden zudem typische Fälle erläutert.

Überblick über die rekrutierten Patienten und Problemstellungen

Zu den vorherrschenden Leitsymptomen bei Patienten, die sich generell an ein ZSE wenden, zählen Fatigue, Schmerzsyndrome muskuloskelettaler Lokalisation wie auch Kopf- und abdominelle sowie neuropathische Schmerzen, darüber hinaus gastrointestinale Beschwerden, kardiopulmonale Beschwerden und multiple Unverträglichkeiten. Fast allen Patienten gemein ist eine große Anzahl von Facharztkontakten; bei den Studienteilnehmern waren es beispielsweise im Median 8,0 vor dem Kontakt mit einem ZSE (nur Erwachsene). Gleiches gilt für eine breit gestreute Diagnostik in der Vorgeschichte sowie die persönliche Überzeugung, an einer bislang unentdeckten somatischen Erkrankung zu leiden. Die Dauer des Vorliegens der Hauptbeschwerde der erwachsenen Studienteilnehmer betrug 5,0 Jahre (Median). Die fünf am häufigsten betroffenen Organsysteme bei erwachsenen Studienteilnehmern sind

  1. 1.

    Muskeln,

  2. 2.

    Nerven,

  3. 3.

    Gelenke,

  4. 4.

    Haut und

  5. 5.

    Gehirn.

Viele Patienten haben sich bereits an mehr als einer Universitätsklinik vorgestellt, auch paramedizinische und alternative Heilungsmethoden werden häufig berichtet. Ebenso geben fast alle Patienten eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität an [16]. Die meisten Patienten thematisieren aktiv die Sorge, „wieder in die Psycho-Ecke“ geschoben zu werden.

Von den 1375 in die Studie eingeschlossenen Patienten waren 68 Kinder und Jugendliche sowie 1307 Erwachsene. Das Alter der letzteren Gruppe bei Erstvorstellung am ZSE betrug 48 Jahre im Median (basierend auf dem Geburtsjahr); 794 (60,6 %) Personen der Gruppe der Erwachsenen waren weiblich.

Nicht selten führt eine schwere somatische Erkrankung auch zu einer affektiven Symptomatik

In der Tat fallen Patienten, die durch einen langen Krankheitsverlauf bereits psychisch belastet sind, nicht selten durch eine fordernde, appellative, aber auch zum Teil resigniert-depressive Haltung auf und es wird von weiterer Organdiagnostik Abstand genommen. Und nicht selten führt eine schwere somatische Erkrankung beispielsweise des Nervensystems auch zu einer affektiven Symptomatik. Hier gilt es hinter den offenkundigen psychischen Symptomen die zugrunde liegende somatische Erkrankung nicht zu übersehen. Andererseits ist von einer Anzahl von Patienten mit unklarer Diagnose auszugehen, die an einer psychosomatischen Störung leiden, hier sind besonders die somatoformen Störungen/Somatisierungsstörungen zu nennen, Erkrankungen mit somatischer Manifestation von Stress durch Überlastung oder zwischenmenschliche Konflikte. Hier gilt es, die primäre psychische Störung zu erkennen und den Patienten eine adäquate Behandlung zukommen zu lassen.

In diesem Spannungsfeld galt es, die rekrutierten Patienten ausführlich zu ihrem aktuellen Gesundheitszustand und zur Entwicklung der vergangenen Jahre zu befragen, zu untersuchen und das weitere diagnostische und therapeutische Prozedere anzustoßen. Anhand von kurzen Fallvignetten soll diese Erfahrung geschildert werden.

Beispielhafte Kasuistiken unter dem Aspekt der Inneren Medizin

Fallbeispiel 1

Ein 49-jähriger Patient stellt sich auf Drängen der Ehefrau vor, da er seit 2018 unter bleierner Müdigkeit und mehrfach täglichen, imperativen Schlafattacken in monotonen Situationen leidet. Der Patient ist adipös (Body-Mass-Index 32 kg/m2) bei prädiabetischer Stoffwechsellage und arbeitet seit 17 Jahren im Zweischichtbetrieb. Neben der bleiernen Müdigkeit, die auf ein Schlafapnoesyndrom zurückgeführt und mittels „Continuous-positive-airway-pressure“(CPAP)-Therapie behandelt wurde, bestehen noch neu aufgetretene leichte Beinödeme. Eine Myokardszintigraphie war laut der eingereichten Unterlagen unauffällig, eine nephrologische Abklärung ergab trotz geringer Unterschenkelödeme, erniedrigten Eiweißes und geringer Proteinurie keinen pathologischen Befund. Das Vaskulitisscreening war ebenfalls unauffällig. Das kranielle Magnetresonanztomogramm (MRT) war ebenso wie das Elektroenzephalogramm (EEG) regelrecht. In der Sonographie des Abdomens wurde eine nichtalkoholische Steatosis hepatis II gesehen. In diversen Arztbriefen wurde ein Burn-out 3 Jahre vor Symptombeginn benannt und die Müdigkeit, die sich auf die CPAP-Therapie hin nicht erkennbar besserte, als depressive Antriebsstörung und „Schichtarbeitersyndrom“ diskutiert.

In der Tat wirkt der Patient in der Anamnesesituation fast teilnahmslos, wenig schwingungsfähig und depressiv ausgelenkt. Die Ehefrau berichtet über, als kataplektisch zu wertende, Tonusverluste ihres Mannes in emotional belastenden Situationen und bei großen Temperaturschwankungen. Im Rahmen eines solchen Tonusverlusts nehme er zwar alles wahr, könne sich aber weder bewegen noch sprechen. Laut Ehefrau habe er bei Wiedererlangung seiner Bewegungsfähigkeit eine lallende Sprache mit Wortfindungsstörungen.

Aufgrund dieser zusätzlichen Informationen erfolgt eine neurologische Diagnostik, die einen massiv (< 30 pg/ml) erniedrigten Orexinspiegel im Liquor erbringt. Zudem zeigt sich typisches „sleep onset rapid eye movement“ (SOREM) im multiplen Schlaflatenztest, die Polysomnographie dokumentiert ein deutlich fragmentiertes Schlafprofil und in der Typisierung der humanen Leukozytenantigene (HLA) wird das Risikomerkmal für Narkolepsie DQB1*0602 gefunden. Zusammenfassend erhärten sich also die Hinweise auf eine Narkolepsie, worauf eine Medikation mit Pitolisant eingeleitet wird. Inzwischen ist die Medikation allerdings auf Modafinil umgestellt, worunter der Patient tagsüber deutlich wacher und alltagstüchtiger ist.

Fallbeispiel 2

Es stellt sich eine 22-jährige Frau im Rollstuhl sitzend bei unklarer, intermittierender Tetraparese vor. Sie berichtet von einem unklaren Sturz vor etwa einem Jahr auf die linke Schulter. In den darauffolgenden Wochen habe sich zunehmend ein intermittierender Verlust der Muskelkraft zunächst im linken, dann auch im rechten Arm und in beiden Beinen entwickelt. Es sei zu weiteren Stürzen unklarer Genese gekommen, bei denen sie für eine kurze Zeit nicht habe sprechen und ihren Kopf nicht habe bewegen können. Obgleich bei ihr in der Kindheit eine kryptogene Epilepsie diagnostiziert worden sei (lange anfallsfrei), seien bei aktuellen EEG-Untersuchungen keine auffälligen Befunde oder Hinweise auf einen epileptischen Anfall gefunden worden. Es seien dann ein diffuses Taubheitsgefühl und Schmerzen in den Beinen hinzugekommen. Mehrfach die Woche könne sie ihre Arme nicht bewegen (Dauer 0,5–4 h). Die mitunter auch schmerzhaften „Verkrampfungen“ der Beinmuskulatur und die Taubheitsgefühle nötigten sie zunehmend, einen Rollstuhl zu nutzen. Schmerzen kenne sie seit der Kindheit aufgrund eines frühen diagnostizierten Retrotorsionssyndroms der Hüfte, leichtgradiger Bandscheibenvorwölbungen sowie chronischer, diffuser Kopfschmerzen.

In den aktuellen neurologischen Untersuchungen zeigen sich unauffällige Befunde des kraniellen MRT und neurographisch unauffällige Nervenleitgeschwindigkeiten, sodass sich letztlich bezüglich der unklaren Tetraparese keine zentrale oder periphere Läsion nachweisen lässt. Die Muskeleigenreflexe sind seitengleich mittellebhaft auslösbar. Weder MRT-Untersuchungen der Hals‑, Brust- und Lendenwirbelsäule noch das EEG zeigen neue Befunde. Orthopädisch wird eine stattgehabte Dorsalluxation der linken Schulter mit leichtem Erguss diagnostiziert, vereinbar mit einem früheren Sturzereignis.

Eine ausführliche Anamnese erbringt, dass die ersten Sturzereignisse mit der als belastend erlebten Berufsausbildung begannen. Sie habe dort viel Stress, Angst und Kritik am Arbeitsplatz erlebt und sei jeden Morgen „mit Bauchschmerzen“ zur Arbeit gegangen. Schon lange kenne sie übermäßige Prüfungsängste. Die Stimmung erlebe sie selber oft als „geht so“. Wegen ihrer in der Kindheit beschriebenen „Unkonzentriertheit“ sei im Grundschulalter kinder- und jugendpsychiatrisch ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) diagnostiziert worden, das kurzzeitig mit Methylphenidat behandelt worden sei.

Als Einzelkind sei sie bei ihren Eltern aufgewachsen. Ihre Kindheit sei durch viele Gewalterfahrungen vonseiten ihres Vaters geprägt (heiße Duschen). Noch heute habe sie starke Ängste vor dem Duschen, zögere dies sogar oft hinaus oder versuche, die Dusche als Ort zu vermeiden. Ähnliche Gefühle erlebe sie auch bei Menschenmengen und in Prüfungen. Die Gewalt habe aufgehört, nachdem sich ihre Mutter von ihrem Vater getrennt habe und dieser ausgezogen sei. Seit etwa 5–6 Jahren habe sie keinen Kontakt mehr zum Vater. Sie habe ihre Ausbildungsstelle aufgegeben und sei arbeitslos und arbeitsunfähig. Sie sei ledig und habe noch nie eine Partnerschaft gehabt.

In der psychosomatischen Diagnostik finden sich aktuelle agoraphobische, sozialphobische und spezifische Angst- und Paniksymptome mit starken Vermeidungsreaktionen und beklemmenden Gefühlen sowie deutliche Hinweise auf eine Traumafolgestörung bezogen auf die chronischen Gewalterfahrungen in der Kindheit. Symptomatisch beschreibt die Patientin eine erhöhte Anspannung und Schreckhaftigkeit, Nervosität, dezente Flashbacks mit „Taubsein“ und erhöhte Wachsamkeit im Alltag.

Insgesamt ergibt sich der Verdacht auf das Vorliegen einer dissoziativen Störung der Extremitäten im Kontext einer länger bestehenden komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Als Auslöser der neurologisch nicht erklärbaren Paresesymptomatik können der emotional stark belastende Einstieg in die Lehre sowie eine aktuelle Klage gegen den Täter (Reaktualisierung) gewertet werden. Neurologisch war in der Vergangenheit wiederholt der Verdacht auf eine psychogene Komponente gestellt worden. Nicht zuletzt die neurologisch unklaren Ausprägungen der Lähmungserscheinungen sowie die fehlenden Erinnerungen im Kontext der Stürze bestärken den Verdacht auf eine dissoziative Störung.

Es wird die Indikation einer stationären psychosomatischen Behandlung, gegebenenfalls mit Schwerpunkt einer Traumatherapie, gestellt, der die Patientin ambivalent gegenübersteht. Hinweise auf das Vorliegen einer Seltenen Erkrankung ergeben sich in der Gesamtschau nicht.

Fallbeispiel 3

Eine 55-jährige Patientin stellt sich mit intermittierenden Kribbelparästhesien und Muskelschwäche der rechten Körperhälfte vor. Vor allem nehme sie ihre rechte Ohrmuschel als „kleiner und dicker“ wahr. Sie empfinde ihre Aussprache als undeutlich und beschreibt Konzentrationsschwierigkeiten. Schulungen in der Arbeit könne sie nicht mehr so folgen wie früher. Gelegentlich merke sie Arthralgien (Finger, Knöchel, Knie), größtenteils ohne Schwellungen, seit August 2021 auch mit Schwellung am Außenrand des linken Ringfingers. Die Patientin präsentiert sich sehr ängstlich und verunsichert, hat katastrophisierende Gedanken bezüglich ihres Arbeitsplatzes und der Versorgung ihrer Familie. Sie habe Angst, an multipler Sklerose zu erkranken. Sie beschreibt frühmorgendliches Erwachen und starkes Grübeln. Sie sei freudlos und antriebslos. Diese Symptome seien bereits 2005 erstmals aufgetreten, jetzt erneut 2019.

Sie wurde gründlich und mehrmals neurologisch untersucht, auch stationär, ohne wegweisenden Befund. Es wurden verzögerte somatosensorisch evozierte Potenziale am Nervus tibialis und medianus rechts gefunden sowie mikroangiopathische Veränderungen im kranialen MRT, die als im Bereich der Altersnorm liegend bei bekannter Hypertonie interpretiert wurden. Der Rheumafaktor war mit 41 lU/ml (< 14) leicht erhöht. Trotz negativer Befunde habe sie weiterhin Angst, an einer multiplen Sklerose erkrankt zu sein, und beobachte sich selbst ständig.

Sie habe alternativmedizinische Behandlungen in Anspruch genommen, da sie verzweifelt gewesen sei. Dazu zählen Kinesiologie, Homöopathie, Amalgamsanierung, Schwermetallausleitung mit Dimercaptopropansulfonsäure (DMPS) und Chlorella. Eine Psychologin habe eine Hypochondrie diagnostiziert und sie nehme ambulante Termine wahr. Zuletzt habe ein niedergelassener Spezialist eine Borreliose (positiver Lymphozytentransformationstest) diagnostiziert; sie nehme nun seit 6 Monaten Antibiotika ein. Bislang habe keine der Therapien zu einer signifikanten Verbesserung geführt. Lediglich die „Nadelstiche“ seien leicht verbessert. Insgesamt habe sie bislang mehrere Tausend Euro bezahlt.

Im ZSE werden weitere Untersuchungen initiiert – so wird eine hemiplegische Migräne mit sensibler Halbseitensymptomatik ausgeschlossen. Aufgrund der starken psychischen Belastung wird die Patientin in der psychosomatischen Tagesklinik aufgenommen. Es ergeben sich diagnostische Hinweise auf ein Sjögren-Syndrom mit ophthalmologisch verifizierter Sicca-Symptomatik der Augen (die die Patientin selbst nicht wahrgenommen hat) und einer Sialadenitis mit mehrfacher Fokusbildung entsprechend einem Grad 4 nach Chisholm und Mason in der Lippenbiopsie. Neben positiven Rheumafaktoren sind auch die antinukleären Antikörper mit 1:80 leicht erhöht. Es wird eine Therapie mit Hydroxychloroquin begonnen, die bisher zu keiner Besserung der Beschwerden geführt hat. Die Patientin ist weiterhin stark belastet, da keine Symptomverbesserung besteht und sie zusätzlich Sorge wegen der Nebenwirkung der Medikation hat (nichtreversible Retinopathie). Sie ist weiter in ambulanter Psychotherapie.

In den neuen Klassifikationssystemen des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen, 5. Auflage (DSM-5), und der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 11. Auflage (ICD-11), würde die Patientin die Kriterien einer somatischen Belastungsstörung erfüllen. Neben einer weiterführenden körperlichen Verlaufskontrolle und gegebenenfalls Therapieeskalation ist die Weiterführung der Psychotherapie mit dem Ziel der Krankheitsbewältigung und Ressourcenaktivierung indiziert.

Gesamtbetrachtung

Die ausgesuchten Fälle zeigen, welche große Rolle auch die Innere Medizin hat. Bei Patienten mit unklaren Symptomen wird oft eine Gradwanderung zwischen der zu vorschnellen Diagnose einer psychischen Erkrankung und der wiederholten und einseitigen Durchführung aufwendiger somatischer Untersuchungen festgestellt. Man sollte daher das Entweder-oder-Denken zu einem Sowohl-als-auch-Denken modifizieren, um den komplexen Beschwerdebildern der Patienten gerecht zu werden. Neben einer früheren Diagnosestellung können so die Behandlung und Lebensqualität der Patienten verbessert werden.

Merke.

Bei somatischen und psychischen Aspekten sollte man das Entweder-oder-Denken zu einem Sowohl-als-auch-Denken modifizieren, um den komplexen Beschwerdebildern gerade der Patienten mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung gerecht zu werden.

Fazit für die Praxis

  • Die Zentren für Seltene Erkrankungen verstehen sich als Ansprechpartner für Ärzte in der hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung von Patienten mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung (Infobox 1 und 2).

  • Der neue interdisziplinäre Ansatz von ZSE-DUO erlaubt es, bei den zugewiesenen Patienten ganzheitlich somatische und psychische Aspekte der Erkrankungen zu adressieren. In diesem Bereich sollte man das Entweder-oder-Denken zu einem Sowohl-als-auch-Denken modifizieren, um den komplexen Beschwerdebildern gerade der Patienten mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung gerecht zu werden.