Auf Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fand am 17. September 2019 erstmals der Patientensicherheitstag (World Patient Safety Day) statt. Um zu dokumentieren, wie notwendig es ist, die Aufmerksamkeit der Welt auf das Thema zu lenken, publizierte die WHO dazu Daten aus den Entwicklungs- und Schwellenländern. Dort kommt es jährlich zu 134 Mio. unerwünschten Ereignissen (UE) aufgrund fehlender oder nicht eingehaltener Sicherheitsstandards im Rahmen medizinischer Behandlungen. Etwa 2,6 Mio. Menschen sterben an deren Folgen [1].

Aus den Industrieländern ist belegt, dass bei ungefähr 10 % der Patienten, die sich zur Behandlung im Krankenhaus befinden, ein UE, beispielsweise ein Medikationsfehler, auftritt. Bei 1 % wird das UE als schwer bezeichnet, etwa weil dadurch der Krankenhausaufenthalt verlängert wird oder eine ungeplante Nachoperation stattfindet. Ein Anteil von 0,1 % der Krankenhauspatienten stirbt infolge eines UE [2].

Schmerzen und Leid von Patienten lassen sich kaum ermessen. Die ökonomische Tragweite wurde erfasst. Die Krankenhäuser in den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) müssen etwa 15 % ihrer Finanzmittel für die Folgen von Fehlbehandlungen aufwenden. Anlässlich des World Patient Safety Day wurden diese Daten in einem Editorial von The Lancet zitiert und es wurde festgestellt: „Es ist ein essenzielles Ziel eines jeden Gesundheitssystems, Patienten vor Fehlern, Schäden, Zwischenfällen und Infektionen zu schützen, aber bislang hat sich kein Gesundheitssystem mit dem Thema Patientensicherheit erfolgreich befasst“ [1].

Die systematische und öffentliche Thematisierung mangelnder Patientensicherheit beginnt im Jahr 2000 mit dem Report des Institute of Medicine der USA: „To err is human“ [3]. Die zentrale Aussage war erschreckend: „In amerikanischen Krankenhäusern sterben jährlich zwischen 44.000 und 98.000 Patienten aufgrund von Behandlungsfehlern. Das sind mehr als durch Verkehrsunfälle, Brustkrebs oder AIDS ums Leben kommen.“ In Deutschland wurde Patientensicherheit im Jahr 2005 zum öffentlichen Thema. Es wurde das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) gegründet, das bis heute einen enormen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit bei ambulanter und stationärer Behandlung in unserem Land geleistet hat. Zur gleichen Zeit hatte die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) „Patientensicherheit“ zum Thema ihres Jahreskongresses gemacht, was zu einer ungewöhnlichen Resonanz in den Medien führte.

In Deutschland wurde Patientensicherheit im Jahr 2005 zum öffentlichen Thema

Nach Schätzungen des APS, der AOK und anderer Gesundheitseinrichtungen liegt die jährliche Zahl an Todesfällen wegen Fehlern in deutschen Krankenhäusern zwischen 14.000 und 18.000 [2]. Das APS und die DGCH haben in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass hierzulande Methoden zur Verbesserung der Patientensicherheit eingeführt wurden. Zum Beispiel haben fast alle Krankenhäuser ein anonymes Meldesystem etabliert, mit dem gefahrengeneigte Situationen und Abläufe erfasst werden können. Ein solches „critical incident reporting system“ (CIRS) erreicht sein Ziel aber nur, wenn es auch gelebt wird. Bleiben Meldungen aus oder erfolgen keine Reaktionen auf die Meldungen potenzieller Gefahrenquellen, wird CIRS zum Potemkin’schen Dorf der Krankenhausleitung.

Chirurgen haben Checklisten eingeführt, die bestimmte Punkte vor und nach einer Operation abfragen und verhindern, dass es zu Patienten- oder Eingriffsverwechslungen oder anderen folgeträchtigen Versäumnissen kommen kann. Auch Mortalitäts- und Morbiditäts(M&M)-Konferenzen wurden in der Chirurgie Instrumente zur Fehlererkennung und künftigen Fehlervermeidung.

Warum waren es weltweit Chirurgen, die sich als erste ärztliche Berufsgruppe mit Patientensicherheit befassten? Die Antwort ist einfach. Der Zusammenhang zwischen einer Operation und ihren Folgen liegt auf der Hand und konfrontiert Patienten, Angehörige und Chirurgen mit Erfolg, Komplikationen oder einem offensichtlichen Fehler – oder wie es der ehemalige Generalsekretär der DGCH, Hartwig Bauer, formuliert hat: „Bei einer Operation gibt es immer einen Tatort, eine Tatzeit und einen Täter.“ In der konservativen Medizin ist es schwerer, einen Zusammenhang zwischen einer ärztlichen Maßnahme und einem UE herzustellen, besonders in der Therapie mit Arzneimitteln. Seit in der Inneren Medizin mehr und mehr invasive diagnostische und therapeutische Methoden oder aggressive Chemotherapien angewandt werden, ist die Situation des offensichtlichen Zusammenhangs auch dort häufiger anzutreffen.

Es sind jedoch nicht nur die möglichen individuellen Fehler von Ärztinnen und Ärzten oder von Angehörigen der Pflegeberufe, auch die Rahmenbedingungen können zu Fehlern führen. Dazu gehören der Mangel an qualifiziertem Personal, vor allem in der Pflege, der zu UE wie nosokomialen Infektionen, Medikationsfehlern, Kommunikationsstörungen und Patientenverwechslungen führen kann.

Es gibt nicht nur individuelle Fehler, auch die Rahmenbedingungen führen zu Fehlern

Die größte Bedrohung der Patientensicherheit geht zurzeit davon aus, dass es in fast allen Krankenhäusern zu wenig gut ausgebildetes Pflegepersonal gibt. Deshalb ist eine Aufwertung der Pflegeberufe durch bessere Ausbildung, mehr Kompetenzen und eine bessere Bezahlung unbedingt notwendig, um den Beruf attraktiver zu machen. Es gibt eine Reihe von Studien zum Zusammenhang von Pflegequalität und Morbidität/Mortalität. Erst kürzlich hat wieder eine Studie aus England belegt, dass eine mangelhafte Ausstattung mit examinierten Schwestern oder Pflegern und eine erhöhte Patientenaufnahme pro Schwester oder Pfleger mit einem höheren Sterberisiko für Patienten verbunden sind. Die Studie zeigte auch, dass das Fehlen examinierter Pflegepersonen nicht durch Hilfskräfte kompensiert werden kann [4]. Auch nosokomiale Infektionen sind ein zunehmendes Problem. Nach Erhebungen des Robert Koch-Instituts muss man in Deutschland von 400.000 bis 600.000 solcher Infektionen pro Jahr ausgehen. Sie sind bei 7500–15.000 Patienten Todesursache. Zwei Drittel dieser Todesfälle wären durch adäquate Hygienemaßnahmen zu vermeiden [1, 2].

Durch die genannten wirksameren, aber auch riskanteren Methoden der Inneren Medizin, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, sind Internisten und Chirurgen in ihrem Tätigkeitsrisiko ähnlicher geworden und damit auch verpflichtet, sich intensiver mit Fehlerprävention zu beschäftigen. Wir sind gemeinsam aufgerufen, unsere Methoden risikoärmer zu machen und die Ausbildung in allen Heilberufen zu verbessern. Auch müssen wir auf gute Grundbedingungen dringen, auf die Bereitstellung der notwendigen Zahl an gut ausgebildetem ärztlichem und nichtärztlichem Personal, auf adäquate Hygienebedingungen, auf IT-Unterstützung, etwa bei der Medikamentenverordnung und -ausgabe, oder auf die Sicherstellung eines wirklich funktionierenden CIRS. Wir Ärztinnen und Ärzte können selbst dafür sorgen, dass vor anspruchsvollen Prozeduren und Eingriffen, auch in der Inneren Medizin, Checklisten abgefragt werden müssen und der beabsichtigte Eingriff nicht stattfindet, wenn eine notwendige Voraussetzung fehlt.

In M&M-Konferenzen müssen alle Patienten mit unerwünschtem Ereignis besprochen werden

Die schon erwähnten M&M-Konferenzen haben in der angelsächsischen Welt seit vielen Jahrzehnten Tradition. Nach einer Umfrage der DGCH aus dem Jahr 2015 finden sie in 75 % der chirurgischen Kliniken regelmäßig statt [5]. In der Inneren Medizin scheinen sie seltener Praxis zu sein. Der Autor kann aus eigener Erfahrung nur dazu ermutigen. M&M-Konferenzen helfen Patienten, Schwestern und Ärzten – auch in der Inneren Medizin. Voraussetzung ist, dass alle Patienten besprochen werden, bei denen ein UE eingetreten ist, auch die des Chefs, sachlich und ohne Schuldzuweisung, mit dem einzigen Ziel, Fehler zu identifizieren und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht wiederholen. M&M-Konferenzen sind die zeitgemäße, formale Umsetzung einer Haltung, die schon vor fast 100 Jahren von dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch postuliert wurde und für alle ärztlichen Berufe gilt: „Dem Chirurgen wird ein schlechter Ausgang in höherem Sinne zur persönlichen Schuld. Tragbar wird diese Belastung durch Gewissenhaftigkeit in der Indikationsstellung, Beherrschung der Technik und ein berechtigtes Selbstbewusstsein. Seine sicherste Stütze aber ist die Wahrhaftigkeit. Der Chirurg, der deutelt, Fehlschläge zu entschuldigen sucht, verstößt gegen das vornehmste Gesetz seiner Zunft.“

Obwohl das Wort des Hippokrates „Primum nil nocere“ schon immer Richtschnur ärztlichen Handelns war, verlangt die komplexere Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen eine intensivere Beachtung der Patientensicherheit. Die Prävention von Behandlungsfehlern ist eine elementare Pflicht von Ärztinnen und Ärzten, Pflegepersonen und allen, die mit Patienten zu tun haben – auch die von Krankenhausleitungen. Wenn sich alle bemühen und die aufgeführten Maßnahmen umsetzen, können wir erreichen, dass die Zahl der UE, besonders der UE mit Todesfolge, ähnlich rückläufig sein wird wie die Zahl der Verkehrstoten, die seit den 1970er-Jahren von etwa 20.000 auf jetzt etwa 3000 pro Jahr zurückging.