Seltene Erkrankungen sind in Europa so definiert, dass eine Erkrankung nur als selten gilt, wenn sie weniger als einen von 2000 Einwohnern trifft. Die enorm große Zahl seltener Erkrankungen, die im Bereich zwischen 7000 und 8000 liegen dürfte, führt dazu, dass es allein in Deutschland mehr als 4 Mio. Menschen mit einer mehr oder weniger schwerwiegenden seltenen Erkrankung gibt. In etwa 80 % der Fälle handelt es sich dabei um genetisch bedingte Erkrankungen. Leider Gottes sind die meisten dieser Erkrankungen bislang noch nicht behandelbar und stellen so eine besondere Herausforderung dar.

Die Forschung an seltenen Erkrankungen hat zugenommen, ist aber immer noch nicht zufriedenstellend

Die medikamentöse Therapie der seltenen Erkrankungen ist aus vielerlei Gründen problematisch. Zum einen sind klassische randomisierte klinische Studien angesichts der geringen Patientenzahlen in der Regel nur schwer realisierbar [1]. Somit fehlt uns oftmals eine solide Datenlage, die wir von anderen Medikamenten erwarten. Zum anderen war bis vor einiger Zeit das Interesse der forschenden pharmazeutischen Industrie für innovative Medikamentenentwicklungen begrenzt. Diese Situation hat sich in den letzten Jahren vor allem durch das Orphan Drug Gesetz der EU aber auch durch vielfältige Fördermaßnahmen des Bundes, sowie durch Anreize der Europäischen Union (EU) deutlich gebessert, ist aber immer noch nicht zufriedenstellend.

Eine Datenerhebung aus dem Jahr 2013 durch das Berliner IGES Institut (Infrastruktur und Gesundheit) im Auftrag des BMBF ergab, dass im Bereich der „Seltenen“ in Deutschland etwa 1000 Forschungsvorhaben von insgesamt 68 Institutionen unterstützt wurden. Die Fördersumme betrug dabei etwa 279 Mio. €. Der Großteil dieser Mittel (etwa 70 %) kam aus den Finanztöpfen der öffentlichen Hand (Deutsche Forschungsgemeinschaft [DFG], BMBF, EU), 25 % von Stiftungen. Lediglich 4 % kamen von der forschenden Pharmaindustrie [2]. Setzt man dies in Bezug zu den pro Jahr für Forschung und Entwicklung verausgabten Mitteln der forschenden Pharmaindustrie in Höhe von etwa 6 Mrd. €, entspricht der Mitteleinsatz der Industrie von 15 Mio. € etwa einem Tagessatz [3]. Die insgesamt in der Forschung zu seltenen Erkrankungen verausgabten Mittel dürften durch Inhouse-Aktivitäten deutlich höher liegen, sind allerdings für Außenstehende nur schwer fassbar.

So verständlich es auf den ersten Blick sein mag, dass die Forschungsverantwortlichen der pharmazeutischen Unternehmen sich vor allem mit häufigen Erkrankungen beschäftigen – für die Zukunftsfähigkeit der Pharmaindustrie könnte sich das mittelfristig als Fehler erweisen. Bereits William Harvey (1578–1657), der Entdecker des Blutkreislaufs und Begründer der modernen Physiologie, erkannte, dass vermehrte Forschung im Bereich der „Seltenen“ auch den „Häufigen“ zugutekommt. Harvey wird die folgende Aussage zugeschrieben: „Nirgends stellt die Natur ihre geheimen und rätselhaften Facetten offener zur Schau als in Fällen, in denen sie Spuren ihrer Werke abseits der ausgetretenen Pfade darbietet. Gleichsam gibt es keinen besseren Weg, die gute medizinische Praxis voranzubringen, als uns dem Verständnis von Gesetzmäßigkeiten der Natur zu widmen, indem wir Fälle seltenerer Erkrankungsformen sorgfältig untersuchen” (Originaltext: „Nature is nowhere accustomed more openly to display her secret mysteries than in cases where she shows traces of her workings apart from the beaten path; nor is there any better way to advance the proper practice of medicine than to give our minds to discovery of the usual law of nature by careful investigation of cases of rarer forms of disease“ [4]).

Ein beeindruckendes Beispiel, wie viel die forschende Pharmaindustrie von „Seltenen“ lernen kann, erleben wir gerade im Bereich der Herzinfarktforschung. Bei Menschen mit Hypercholesterinämie und Atherosklerose konnte im Jahr 2003 – neben dem bereits seit Langem bekannten Low-density-lipoprotein-Rezeptor-Defekt – als weitere Ursache ein sehr seltener Defekt in „proprotein convertase subtilisin/kexin type 9“ (PCSK9) nachgewiesen werden [5, 6]. Diese sehr seltene Stoffwechselstörung führte in Rekordzeit zur Entwicklung einer völlig neuartigen Therapiestrategie mittels PCSK9-Antikörpern zur Behandlung der schweren Hypercholesterinämie [7,8,9]. Das ist nur ein Beispiel von vielen, das uns aufzeigt, wie seltene Erkrankungen im Bereich der Pharmaforschung helfen, die Medizin in Gänze voranzubringen.

Um die Forschungsaktivitäten bei Orphan Drugs anzufeuern, wurde in den USA bereits 1983 ein spezielles Orphan-Drug-Gesetz verabschiedet. In Europa erfolgte dies erst 17 Jahre später, im Jahr 2000. Bis dahin existierten in Europa lediglich 5 Arzneimittel zur Anwendung bei seltenen Erkrankungen. Nur 10 Jahre nach der verabschiedeten Verordnung über Arzneimittel für seltene Erkrankungen wurden vom Ausschuss für Arzneimittel für seltene Leiden (Committee for Orphan Medicinal Products [COMP]) bereits mehr als 60 Medikamente mit dem Orphan-Drug-Status in Europa zugelassen. Insgesamt hat seit Einführung des Orphan-Drug-Gesetzes in der EU die Neueinführung von Orphan Drugs deutlich zugenommen. Derzeit liegt sie bei etwa 14–15 Innovationen pro Jahr. Aktuell existieren 159 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassene Orphan Drugs in Europa. Insofern ist dies eine „Erfolgsgeschichte“. Als Wermutstropfen müssen wir jedoch feststellen, dass die meisten Orphan Drugs vor allem für onkologische Krankheitsbilder zugelassen sind. Lediglich 20 % stehen für Stoffwechselerkrankungen und nur 7 % für neurologische Indikationen zur Verfügung. Dies kann und darf uns so nicht zufriedenstellen.

Die Kosten hochpreisiger Medikamente sollten transparent und nachvollziehbar sein

Ein weiterer Problempunkt sind die meist sehr hohen Kosten von Orphan Drugs, deren Jahrestherapiekosten oftmals im 6‑stelligen Euro-Bereich liegen. Für produktionstechnisch teure und neu entwickelte Präparate mag dies nachvollziehbar sein, bei manchen umgewidmeten Uraltpräparaten dagegen nicht. Die rein kaufmännische Überlegung, dass für die Erzielung eines angestrebten Gewinns von 1 Mio. € bei einem Medikament für 1 Mio. Patienten bereits 1 € Aufschlag ausreicht, darf nicht bedeuten, dass bei einem Medikament, das als Orphan Drug nur bei 10 Patienten zum Einsatz kommt, dann eben 100.000 € aufgeschlagen werden. Hier kommt die freie Marktwirtschaft offensichtlich an ihre Grenzen. Für das gesamte Arzneimittelbudget unseres Landes von rund 37,7 Mrd. € (allein in der GKV) spielen Orphan Drugs mit einem Anteil von unter 5 % derzeit (noch) eine eher untergeordnete Rolle [10]. So liegen die Umsätze für etwa 70 % der Orphan Drugs in Deutschland bei weniger als 10 Mio. €, bei etwa 10 % (14 Präparate) lag der Umsatz pro Jahr bei über 60 Mio. €. Für die langfristige Akzeptanz und den sozialen Frieden in einem solidarfinanzierten System sollten die Kosten hochpreisiger Medikamente transparent und nachvollziehbar sein – was derzeit nicht immer der Fall ist.

Generell stellt sich ohnehin die Frage, ob ein besonderes Regelwerk die genannte Situation weiter verbessern könnte. So wäre denkbar, dass Pharmafirmen dazu motiviert werden, einen bestimmten Prozentsatz ihres Umsatzes im Bereich der seltenen Erkrankungen zu erbringen. Dies hätte für die Orphan Drug Forschung den Vorteil, dass die gesamte Infrastruktur einer forschenden Hightech-Pharmaindustrie bis hin zu den Produktions- und Vertriebswegen in den Händen von „Profis“ bleibt, die dann auch eine sichere und stabile Vermarktung gewährleisten können. Da die Firmen nicht existenziell vom Umsatz der Orphan Drugs abhängig sind, wäre dann eine weitaus günstigere Preisgestaltung möglich. Zudem könnte – wie bei der Entwicklung von PCSK9-Antikörpern – die intensive Forschung im Bereich von Orphan Drugs auch zu mehr Innovationen von Medikamenten für häufige Erkrankungen führen und zu einem Innovationsschub für die oftmals schwerfällige Pharmaforschung. So sinnvoll dieser Ansatz auch sein mag, so problematisch wäre er für zahlreiche kleinere, überaus innovative, Start-ups, die sich gerade im Bereich der „Seltenen“ eine Nische suchen und die wir keinesfalls verlieren dürfen. Um deren Innovationskraft zu erhalten und zu verbessern, wären geeignete Förderinstrumente für ihre Finanzierung zu schaffen. So ließe sich die Vielfalt an Innovationen auch in den kommenden Jahren sichern.

Wir sind froh und stolz, dass wir für dieses komplexe Thema mit Frau Dr. Sabine Sydow und Herrn Dr. Siegfried Throm vom Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa) sowie mit Herrn Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ausgewiesene Experten gewinnen konnten, die auf die Problematik der Orphan Drugs von unterschiedlichen Blickwinkeln aus eingehen [11, 12]. Es bleibt zu hoffen, dass die Entwicklung von und die Versorgung mit Orphan Drugs in Deutschland und Europa auch in Zukunft weiter zunimmt. Seltene Erkrankungen haben das Potenzial, zu einem Innovationstreiber zu werden – diese Chance nicht zu nutzen wäre ethisch, wissenschaftlich, aber auch wirtschaftlich fatal. Die „Seltenen“ werden für den Forschungsstandort Deutschland mit seinen bestehenden Strukturen im Bereich der seltenen Erkrankungen zu einer Chance, die wir nutzen sollten – zum Wohle der Betroffenen, aber auch für die gesamte Medizinforschung.