Zusammenfassung
In der primärärztlichen Versorgung sind somatoforme Störungen überdurchschnittlich häufig anzutreffen, werden aber in der Differenzialdiagnostik zu selten als solche benannt. Die Prävalenz liegt bei etwa 30 %, der Anteil weiblicher Patienten überwiegt. Insbesondere durch die Fixierung auf organbezogene Symptome, die Erwartung wiederholter apparativer Diagnostik sowie das spezielle Agieren stellt diese Patientengruppe das Arzt-Patienten-Verhältnis von Beginn an auf eine harte Probe. Häufiger Arztwechsel, Chronifizierung und Enttäuschung auf beiden Seiten sind die Folge. Durch eine empathische, aber auch kritisch-distanzierte Grundhaltung des hausärztlichen Internisten auf dem Boden eines biopsychosozialen Krankheitskonzepts kann sich jedoch ein tragfähiges Arzt-Patienten-Verhältnis entwickeln. Im weiteren Verlauf sind mit der Pacing-and-leading-Strategie sowie mit psychoedukativen Maßnahmen Korrekturen im Krankheitsverständnis und -ausdruck aufseiten des Patienten zu erreichen. Die primäre Psychologisierung funktioneller Beschwerden wird den Betroffenen nicht gerecht, eine ambulante Psychotherapie sollte erst nach guter Vorbereitung des Patienten eingeleitet werden. Medikamentöse Maßnahmen bleiben meist unspezifisch und dienen der Symptomlinderung, bei Komorbidität einer Angst- und/oder depressiven Störung ist der Einsatz von Serotoninwiederaufnahmehemmern zu erwägen.
Abstract
Somatoform disorders are encountered in primary medical care with above-average frequency but are too rarely named as such in the differential diagnostics. The prevalence is approximately 30 % with a predominance of female patients. This patient group puts the physician-patient relationship to the acid test from the very beginning due to the fixation on organ-related symptoms, the expectations of repeated instrumental diagnostics and the special way of acting. The consequences are frequent changes of physicians, chronification and disappointment on both sides; however, a workable physician-patient relationship can be developed through an empathic but critically distanced fundamental attitude of the general internist based on a biopsychosocial illness concept. In the further course corrections in the understanding and expression of the illness on the part of the patient can be achieved with a pacing and leading strategy and with psychoeducative measures. The primary psychologization of functional complaints will not satisfy the affected person but outpatient psychotherapy should be initiated only after the patient has been well-prepared. Measures with medications mostly remain unspecific and serve only for relief of symptoms. For comorbidities with anxiety and/or depressive disorders the use of selective serotonin reuptake inhibitors should be considered.
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Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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D. Burchert, Mainz
H. Haller, Hannover
E. Märker-Hermann, Wiesbaden
C.C. Sieber, Nürnberg
T. Welte, Hannover
Aus Gründen der vereinfachten Semantik wurde im vorliegenden Text für Bezeichnungen wie „Arzt“, „Internist“ oder „Patient“ die maskuline Form gewählt; selbstverständlich ist die feminine Form jeweils inkludiert.
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Grebe, I.G. Innere Medizin zwischen Soma und Psyche. Internist 61, 44–50 (2020). https://doi.org/10.1007/s00108-019-00711-0
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