Tinnitus wird als subjektiver Ton oder subjektiv wahrgenommenes Geräusch ohne externe Schallquelle definiert [1]. Die Ursachen sind vielfältig und können sowohl im Hörsystem liegen als auch psychosomatischer Natur sein.

Ohrgeräusche sind ein weitverbreitetes Phänomen, etwa 15 % der europäischen Bevölkerung sind betroffen

Ohrgeräusche sind ein weitverbreitetes Phänomen, etwa 15 % der europäischen Bevölkerung sind betroffen [2]. Dabei können die Auswirkungen des Tinnitussymptoms auf das tägliche Leben sehr unterschiedlich sein. Mindestens 2 % der Bevölkerung erlebt den Tinnitus als sehr belastend und sucht Unterstützung im Gesundheitssystem [3].

Studien zu Tinnitus, seinen pathophysiologischen Grundlagen und möglichen Therapien, aber v. a. auch zur konkreten Belastung Betroffener sind in den letzten Jahren verstärkt publiziert worden. Damit hat sich das wissenschaftliche Verständnis deutlich verbessert. Entsprechend vielfältig sind Modelle zur Entstehung des Tinnitus, die meist von einem Wechselspiel peripherer (begleitende Höreinbußen) und zentraler Mechanismen (neuroplastische Prozesse entlang der Hörbahn bis zur veränderten Konnektivität Tinnitus verarbeitender Hirnareale) ausgehen [4].

Es wird darüber hinaus diskutiert, dass das Ohrgeräusch und die Tinnitusbelastung (Tinnitusdistress) als unterschiedliche Phänomene zu betrachten sind [5]. Der durch die Tinnitusbelastung assoziierte Distress ist mehrdimensional und kann

  1. I.

    weitere funktionale Hörphänomene wie z. B. Hyperakusis,

  2. II.

    korrelierte Beschwerden wie Schlaf- oder Konzentrationsstörungen und

  3. III.

    unterliegende psychologische Stress‑, Angst- oder Depressionskreisläufe umfassen [1].

Der Tinnitusdistress ist maßgeblich auch durch verbundene psychosomatische Einflüsse geprägt [6].

In 2 Sonderheften zum Leitthema „Tinnitus“ werden demzufolge Tinnitusgrundlagen, HNO-ärztliche, psychosomatische und psychologische Aspekte breit angelegt besprochen. So werden aktuelle Modelle zur Tinnitusentstehung und Aufrechterhaltung aus unterschiedlicher fachdisziplinärer Perspektive erläutert, anwendungsorientierte psychosomatische Aspekte in der HNO-Heilkunde herausgestellt und das Zusammenspiel von allgemeinen Stressoren und Tinnitus näher beleuchtet. Darüber hinaus werden neueste Aspekte zum Zusammenspiel von Kognition und Emotion bei Tinnitus zusammengefasst, was besonders in den letzten Jahren durch Beteiligung limbischer Strukturen [7] und hörunabhängigen kognitiven Defiziten bei Tinnitus [8] als wichtiger Bestandteil in der Erfassung des komplexen Phänomens Tinnitus in den Mittelpunkt rückte.

Zunehmend besteht ein wachsendes Interesse am Verständnis der multisensorischen Integration im Kortex bei Tinnitus

Zunehmend besteht ein wachsendes Interesse am Verständnis der multisensorischen Integration im Kortex durch Aktivierung mehrerer sensorischer und motorischer Bahnen zur Diagnostik und Behandlung von Tinnitus [9]. Ebenso steht der somatosensorische Tinnitus in einem Artikel im Fokus.

Aktueller Goldstandard zur Behandlung der Tinnitusbelastung sind neben dem Counselling psychotherapeutische Therapieverfahren, die die Tinnitusbelastung und Lebensqualität sowie auch weiterführende Ängste und Depressionen günstig beeinflussen können [10]. Perspektivisch sind weitere Verbesserungen in Diagnostik und Therapie zu erwarten. In diesem Kontext wird die Wichtigkeit vereinheitlichter Datenerhebungen deutlich [11, 12]. In die zunehmend individualisierte Diagnostik und die abgestimmten multimodalen Therapien des Tinnitus müssen methodische Fortschritte und erweiterte Diagnostikmöglichkeiten einbezogen werden [13]. Unter diesem Gesichtspunkt sind Möglichkeiten der funktionellen Bildgebung bei Tinnitus und Hörstörungen hervorzuheben.

In welchem Umfang die Innenohrforschung zukünftig zur Behandlung des Tinnitusleidens beitragen kann, wird in diesen Sonderheften zu aktuellen Aspekten der Innenohrforschung beleuchtet. Durch welche Methoden möglicherweise zukünftig die Hörfähigkeit direkt beeinflusst werden kann und welche bahnbrechenden Möglichkeiten sich daraus für die Hör- und Tinnitustherapie ergeben wird vertieft vorgestellt.

Chronischer Tinnitus ist zu einem hohen Prozentsatz mit Höreinschränkungen verbunden [14,15,16]. So lässt sich bei etwa 90 % der Menschen mit Tinnitus eine Hörminderung messen; jedoch haben umgekehrt die meisten Menschen mit Hörminderung keinen als einschränkend erlebten Tinnitus, unabhängig von der Schwere des Hörverlusts [17]. Eine genaue Untersuchung und Verbesserung der Hörfähigkeit bei bestehender Schwerhörigkeit ist deshalb bei Tinnitus unabdingbar und wird in den im Jahr 2021 aktualisierten deutschen Behandlungsrichtlinien gefordert [18]. In diesem Sonderheft wird daher ebenso auf hörverbessernde Maßnahmen als integraler Bestandteil einer erfolgreichen Tinnitusbehandlung eingegangen.

Die schon belegten Fakten zur Verbesserung des Hörvermögens und der Tinnitusbelastung sowie der allgemeinen Lebensqualität durch Cochleaimplantat(CI)-Versorgung [19] werden im Artikel „CI und Tinnitus“ erweitert dargestellt. Altersbedingter Hörverlust ist ein häufiges und zunehmendes Problem älterer Erwachsener, von dem bis 2050 etwa 1 Mrd. Menschen betroffen sein werden [20]. Vor diesem Hintergrund sind auch Aspekte der CI-Versorgung im Alter sehr relevant.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass trotz aller Fortschritte in Klinik und Wissenschaft aktuell keine Therapie ermöglicht, den Tinnitus im chronischem Stadium vollständig zu beseitigen, hauptsächlich, weil sich Entstehung und Komorbidität des Ohrgeräuschs individuell und sehr komplex darstellen. Deutsche und europäische Leitlinien empfehlen eine auf die Bedürfnisse der Person abgestimmte Kombination mehrdimensionaler Diagnostik- und Therapiebausteine. Dabei finden unter Berücksichtigung bestehender Komorbiditäten bei chronischem Tinnitus multimodale systemmedizinisch orientierte Behandlungsansätze zunehmend Berücksichtigung [13].

Aktuell sollte die Beschreibung und Behandlung einer chronischen Tinnitussymptomatik auf fundierter otologischer, audiologischer, psychosomatischer und psychologischer Diagnostik basieren. Kognitive Verhaltenstherapie hat in Kombination mit anderen Bausteinen in Studien eine nachhaltige Verbesserung der Tinnitusbelastung gezeigt. Zur Behandlung eines oftmals initial festgestellten Hörverlusts sind Hörgeräte Mittel der Wahl.

Zur Behandlung eines oftmals initial festgestellten Hörverlusts sind Hörgeräte Mittel der Wahl

In diesen Sonderheften „Tinnitus“ werden mögliche zukünftige Entwicklungen in Diagnostik und Therapie von namhaften Autoren klinisch fundiert und eng orientiert an aktuellen Forschungstrends beschrieben. Bei allen Beteiligten möchte ich mich für ihre Bereitschaft, an diesem Themenheft mitzuarbeiten, und für die Bereitstellung ihrer Expertise recht herzlich bedanken.

Birgit Mazurek