Definiert ist Tinnitus als subjektive Wahrnehmung eines Geräusches bei Fehlen einer äußeren Schallquelle.

Tinnitus ist häufiger mit Lärmexposition, Alterungsprozess und Stress verbunden [6, 11, 12, 15, 19] als mit neurologischen, infektiösen und medikamentenabhängigen Ursachen [22]. Außerdem ist Tinnitus sehr oft mit anderen Komorbiditäten wie Depressionen, Angststörungen und somatoformen Störungen assoziiert [23,24,25].

Von therapeutischer Seite ist die Einteilung in beeinträchtigenden („distressing“) Tinnitus und nicht beeinträchtigenden Tinnitus relevant. Beeinträchtigender Tinnitus bezeichnet eine negative emotionale und auditive Erfahrung, die mit tatsächlichem oder potenziellem physischem oder psychischem Schaden verbunden ist oder beschrieben wird [7].

Tinnitus ist die am weitesten verbreitete chronische Hörstörung

Tinnitus ist die am weitesten verbreitete chronische Hörstörung [16], und aufgrund der hohen Prävalenzrate sind die wirtschaftlichen Auswirkungen von Tinnitus auf das Gesundheitssystem relativ groß [4, 13, 21].

Die meisten Studien zeigen Tinnitusprävalenzraten zwischen 10 und 15 % bei der erwachsenen Bevölkerung [2, 4, 8]. Die Tinnitusprävalenz steigt mit dem Alter an und wird von etwa einem von 3 älteren Erwachsenen wahrgenommen [1, 17, 20]. Darüber hinaus beträgt in der Tinnituspopulation die Problematik der Hyperakusis (reduzierte Toleranz gegenüber alltäglichen Geräuschen) nach verschiedenen Studien 40–55 % [3, 18].

Von allen von Tinnitus betroffenen Personen bezeichnet ein Drittel den Tinnitus als störend oder sehr störend. Die Prävalenzrate wird mit 4  % bei schwerer Tinnitusbelastung und mit 6  % bei geringer bis moderater Tinnitusbelastung angegeben [13].

Nach dem heutigen Erkenntnistand sind in die Tinnitusentstehung, Tinnituspersistenz und Tinnitushabituation periphere und zentrale Strukturen involviert [9].

So zeigen tierexperimentelle Studien nach Lärmexposition eine verringerte spontane Feuerungsrate im auditorischen Nerv, eine erhöhte spontane Feuerungsrate im Nucleus cochlearis, Collicullus inferior und im auditorischen Kortex. Darüber hinaus werden Erhöhungen in der neuronalen Synchronizität im Collicullus inferior und auditorischen Kortex gefunden. Tonotope Kartenveränderungen sind tierexperimentell im auditorischen Kortex nachgewiesen, wurden jedoch nicht beim Menschen als neurales Korrelat für Tinnitus bestätigt [10].

Aus klinischer Sicht kann Tinnitus im weiteren Verlauf als Folge einer fehlerhaften Hörverarbeitung angesehen werden, die einerseits durch Hörstörungen selbst, andererseits auch durch Stresseinflüsse begünstigt sein kann [14, 15]. Demzufolge hängt es also nicht von der auslösenden Schädigung selbst ab, ob und wie stark ein Tinnitus stört, sondern entscheidet sich immer im Zusammenspiel von zentraler Hörverarbeitung, dem vegetativen und limbischen Nervensystem sowie der kognitiven Verarbeitung [5].

Nach wie vor ist ein wichtiger Ansatz in der Therapie von Tinnitus, dass die auditorische Wahrnehmung emotionale und reaktive Systeme einschließt. Demzufolge steht in der Tinnitustherapie nicht die Beseitigung des Tinnitus im Vordergrund, sondern die Umlenkung der Wahrnehmung und subjektiven Bewertung sowie die Behandlung von Komorbiditäten. Dies führt letztendlich zu einer Kompensation und Habituation, Verringerung des Leidensdrucks und somit zur Verbesserung der Lebensqualität.

In diesen beiden Schwerpunktheften (März- bzw. Mai-Ausgabe der HNO) sollen neben aktuellen Grundlagenaspekten zur zentralen Wirkung von Lärm und Regenerationsansätzen v. a. Erkenntnisse zu Hyperakusis, verhaltenstherapeutischen Ansätzen in der Tinnitustherapie, Langzeittherapieeffekten multimodaler Therapien, Behandlungen von Komorbiditäten, App-gestützten Ansätzen in der Tinnitusbehandlung und zum Einfluss der Cochleaimplantat(CI)-Behandlung auf die Kognition dargestellt werden.

Die wesentliche Herausforderung ist die Entwicklung einer ursachengerichteten Therapie des Tinnitus

Dennoch ist die wesentliche, bislang nicht gelöste Herausforderung, eine ursachengerichtete Therapie für spezifische Subgruppen von Tinnitus zu entwickeln. Als Zukunftsperspektive werden in der gesamten therapeutischen Medizin wie auch im Bereich des Hörsystems große Hoffnungen auf Fortschritte in der molekularen und zellbiologischen Therapie gesetzt. Dabei konzentriert sich die Forschung aufgrund der engen Verknüpfung von Hörvermögen und Tinnitus auf neue Möglichkeiten der Protektion, Reparatur bzw. Regeneration oder auf die direkte Beeinflussung von vulnerablen Strukturen des Hörsystems bzw. von extraauditorischen assoziierten Strukturen.

Die Artikel in der HNO zum Schwerpunktthema „Tinnitus“ geben Ihnen einen weiten Überblick auf die unterschiedlichen fachspezifischen Aspekte und Ansätze in der Tinnitusforschung und -therapie wieder.

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Birgit Mazurek