Die Lymphologie, eine Disziplin der Angiologie, also der Perfusion, ist sicher fachübergreifend. Das Lymphgefäßsystem als obligates Drainagesystem für Wasser, Proteine und andere Produkte des durchströmten Gewebes existiert bei allen Wirbeltieren als Transfersystem für migratorische Zellen, insbesondere Lymphozyten, Makrophagen und den aus der Epidermis stammenden antigenpräsentierenden Langhans-Zellen, mit dem Ziel auf integrierte Lymphknoten. Es steht ganzheitlich im Dienst der Gewebehomöostase und des binären Immunsystems. Der besondere Fokus auf die Dermatologie ergibt sich aus der engen Verknüpfung der anatomischen Strukturen des interstitiellen Gewebes und des unidirektionalen Lymphgefäßsystems. Deren Funktion bei der Lymphbildung, der Lymphabsorption und des intravasalen Lymphtransportes formen die Disziplin zur „funktionellen Lymphologie“ [1].

Wenn man es jedoch etwas einfacher, etwas griffiger formuliert, dann erscheint dem täglich tätigen Dermatologen der Zusammenhang zur Lymphologie schnell und präzise, denn: Was immer durch die Veränderung des Lymphflusses bewirkt wird, es zeigt sich an der Haut! Sei es eine Zunahme des Umfangs oder des Volumens, sei es die Gewebeverdickung, sei es ein Ödem oder ein solides Äquivalent, eben ein Lymphödem. Selbst Veränderung an Hautanhangsgebilden wie Haaren und Nägeln sind gelegentlich dem Lymphfluss alleine geschuldet. So ist gar der Effekt der manuellen Drainage auf Akne, Rosazea und Morbus Morbihan bekannt, aber was geschieht da im Speziellen und warum?

Was immer durch die Veränderung des Lymphflusses bewirkt wird, es zeigt sich an der Haut

Die klinische Diagnose einer lymphologischen Veränderung der Homöostase ist mit den Augen zu sehen und mit den Fingern an der Oberfläche des Körpers zu tasten, zu palpieren: „Kaposi-Stemmer-Zeichen positiv“ kennt jeder Dermatologe und Lymphologe. Jedoch, so sehr all diese Veränderungen der Inspektion und Palpation offensichtlich, so sehr liegen doch Kenntnis und Wissenschaft um die Lymphologie oft im Verborgenen. Es fehlt an weit verbreitetem medizinischem allgemeinem Wissen unter Ärztinnen und Ärzten, es herrscht ein Mangel in der Ausbildung und dies nicht nur national, sondern auch international. Es fehlt an einer Akzeptanz des Phänomens des dritten Gefäßsystems im universitären Curriculum. Und so bleibt als Fazit nur festzustellen: Die Lymphologie ist auch im 21. Jahrhundert eine Terra incognita der Medizin, das meiste, was es heute zu berichten gibt, ist immer noch „work in progress“.

Und das, obwohl doch hinlänglich bekannt ist: „Alle Zellen im Inneren eines Menschen ‚schwimmen‘ in einer sie umgebenden Flüssigkeit.“ Diese Flüssigkeit mit all ihren Bestandteilen, welche die Zellen umfließt (die sog. interstitielle Flüssigkeit), wird aus den Kapillaren des Blutgefäßsystems filtriert. Nachdem sie das Interstitium durchquert hat und der Austausch mit den Zellen stattgefunden hat, wird die interstitielle Flüssigkeit in die initialen Lymphgefäße aufgenommen – und erst nun wird sie „Lymphe“ genannt – und über diese wieder dem Blutkreislauf zugeführt [2].

Inspektion und Palpation offenbaren schon das erste klinische Zeichen, die Dellbarkeit und im Verlauf die Verdickung der Haut, z. B. am Dorsum des zweiten Strahls, durch Moriz Kaposi zuerst und später durch Robert Stemmer erneut als typisch und geradezu unique für die Entwicklung eines Lymphödems erkannt: Das klinische Zeichen der fibrosierten Ödematisierung von Fingern und Zehen unterscheidet das Lymphödem von allen weiteren Ödemen, seien sie ursächlich kardial, hepatisch, renal, phlebologisch oder auf dem Boden von Stoffwechselstörungen. Diese topografische Besonderheit der soliden Umfangsvermehrung gibt es also nur bei lymphologisch erkrankten Patienten, und das immerhin mit einer Sensitivität von 85 %.

Das schmerzlose Bisgaard-Kulissen-Zeichen ist da schon weniger bekannt, obgleich diese retromalleoläre Schwellung im Seitenvergleich förmlich in die Augen springt. Auch weitere Formveränderungen an den Extremitäten wie Verdickung der Kutis, Querfurchen, Kastenzehen und voluminöse Gewebevermehrung, die als Phänokopie erschreckenderweise häufig leider immer noch als „Elephantiasis nostras“ bezeichnet werden, kennt nicht nur der Dermatologe. Die Differenzialdiagnose zwischen Condylomata accuminata und Lymphangiektasie fällt dann schon eher in sein Spezialgebiet sowie auch die Behandlung der Papillomatosis lymphostatica durch dermatochirurgische Interventionen.

Derbe, palpable Verdickungen der Haut, Konturveränderungen, prallelastisch subkutane Raumforderung, gruppiert oder locker in einem Hautareal stehende froschlaichartige Bläschen, noppen- und warzenartig derbe, hautverändernde Gewebestränge als Hyperkeratose und ihre einschnittartigen Einsenkungen, die Krypten, äußerst selten Ulzerationen, noch seltener maligne Desaster – all dies ist der Untersuchung der Haut einfach zugänglich und gibt sich als Wirkung auf Veränderung der lymphologischen Homöostase unmittelbar zu erkennen. Die typischen Hautveränderungen sind Ergebnis des „Lymphödems“, ob nun angeboren oder erworben. Diese wahre Fundgrube von Effloreszenzen fasziniert jeden Dermatologen und dennoch gehört die Lymphologie nicht in das Curriculum seiner Ausbildung.

Insofern war es gut, dass sich die Redaktion der Zeitschrift Die Dermatologie an das Thema „Lymphologie und Dermatologie“ heranwagt hat und – vorerst unter Vermeidung einer „allgemeinen Lymphologie“ – in diesem Leitthemenheft auf 2 wichtige, allgegenwärtige Erkrankungen, nämlich die Lipohyperplasia dolorosa (LiDo) [3] und die Adipositas, fokussiert ist. Und auch wenn man nun überzeugt sein könnte, dass doch zu diesen millionenfach in der Bundesrepublik vorkommenden Erkrankungen alles bekannt sein sollte: Es ist, wie so oft in der Lymphologie: „work in progress“.

Die Autoren wurden also von uns gebeten, Neues zum bekannten Kontext hinzuzufügen. Und das ist ihnen nicht sonderlich schwergefallen:

Im Speziellen stellt sich gleich zu Beginn die ketzerische Frage, ob denn ein Lipödem, das noch im Namen den Begriff „Ödem“ führt, überhaupt ein solches Ödem hat? Und wenn ja, welches? Warum soll die schmerzhafte Silhouettenveränderung denn überhaupt eine lymphologische Erkrankung sein, wird doch bei der Untersuchung der Patientinnen gerade ein Lymphödem ausgeschlossen, ein ggf. palpables Ödem nosologisch taxiert und die Erkrankungen zu einer „LiDo mit zusätzlichem primärem Lymphödem“ oder „LiDo mit zusätzlichem sekundärem Lymphödem“ unterschiedlicher Genesen – häufigst durch Adipositas, seltenst durch Tumor – erklärt. Oder ist schon die seit den 60er-Jahren bei diesem Krankheitsbild übliche therapeutische Anwendung der manuellen Lymphdrainage hinreichend, die LiDo zum lymphologischen Krankheitsbild zu erklären? Sozusagen ex juvantibus? Vielleicht sind es aber auch die bekannten Untersuchungen zu Uptake-Raten in der Lymphszintigraphie? Und was wissen wir zur ICG, was wissen wir zu MR‑L bei diesem Krankheitsbild? Was ist von der Idee der Mikroaneurysmata aus der Gruppe Bollinger/Amann-Vesti zu halten, die ebenfalls schon seit Jahrzehnten beschrieben sind [4]? Ist das die Momentaufnahme eines funktionstüchtigen dynamischen Lymphgefäßes oder eine statische aneurysmatische Strukturveränderung, typisch für Lipohyperplasia dolorosa und Ausdruck des Hypertonus im Lymphgefäßnetz der Haut? Alles das ist „work in progress“, ebenso wie die Debatte über Inflammation des Gewebes oder die Wechselwirkungen von Lymphflüssigkeit und Adipozyt. Ja, selbst die Progression und die Genetik des Krankheitsbildes sind nicht abschließend geklärt.

Weil wir wissen, dass dies alles nicht in diesem Leitthemenheft behandelt werden kann, haben wir nun 3 Themen zur Lipohyperplasia dolorosa herausgesucht, die dem Leser Aspekte der LiDo näherbringen sollen:

  • Lipohyperplasia dolorosa. Über Fake und Fakten, Klinik und Untersuchung,

  • Lipödemschmerz. Das vernachlässigte Symptom,

  • Lipohyperplasia dolorosa: Zumutung und Herausforderung für die Psyche der Betroffenen.

Der zweite Komplex des Hefts nimmt Bezug auf Neuestes zum Lymphödem. Und so ungewöhnlich die Mischung auch erscheint: Die aktuelle Forschung ist mit 2 „hot topics“ befasst, mit der Genetik und mit der Adipositas.

  • Adipositas und sekundäres Lymphödem,

  • Genetik, Diagnostik und Klinik des primären Lymphödems.

Bisher wurde die Möglichkeit der Entwicklung von sekundären Lymphödemen insbesondere nach Tumorbehandlungen beschrieben, und dies ist auch State of the Art der weltweiten Ausbildung im Medizinstudium. Heute jedoch muss bei einer pandemischen Verfettung der Bevölkerung der Ersten und Zweiten Welt der Fokus auf die Entstehung eines sekundären Lymphödems durch Alimentation gerichtet werden: Die erste Ursache für ein sekundäres Lymphödem ist die Adipositas.

Und dies, obwohl Adipositas bereits für sich allein schon Probleme verursacht. Lymphologie muss sich heute mit der Vermeidung von Adipositas beschäftigen. Dies ist eine bedeutsame Forschungsaufgabe. Noch viel spannender wird es jedoch, wenn der wissenschaftliche Fokus auf den Mikrokosmos des Adipozyten und seine Wechselwirkung mit der Lymphe gerichtet wird: die Rolle von perilymphatischem Fettgewebe, Fettgewebehypertrophie und Inflammation. Welche neuen Ufer werden wir hier betreten können?

Lymphologische Diagnostik und Staging hingegen sind zu ihren neuen Ufern schon aufgebrochen:

Die moderne 3‑D-Histologie stellt eine innovative Plattformtechnologie dar, die das Potenzial besitzt, mittelfristig die klassische Histologie als Goldstandard in der Histopathologie abzulösen. Durch den Prozess der optischen Schnittbildgebung werden Gewebeverzerrungen sowie Gewebeverluste vermieden. Durch Analyse der gesamten Probe können nun räumlich komplexe Strukturen wie die Gefäßsysteme sowie Interaktionen zwischen verschiedenen Zelltypen visualisiert werden. Dies bietet gerade im Bereich der Lymphologie die einmalige Chance, die Pathologie lymphologischer Krankheitsbilder besser zu untersuchen und neue Einblicke in die Pathogenese zu erhalten. Neben wichtigen Erkenntnissen für die Grundlagenforschung ist dies auch von essenzieller Bedeutung für die Entwicklung neuartiger pharmakologischer Therapien bei lymphologischen Erkrankungen [5].

Die Genetik wiederum führt uns zu bislang unvorstellbaren neuen Horizonten der Terra incognita, richtet unser bisheriges „mittelalterlich“ anmutendes Klassifizieren und Therapieren vollkommen neu aus, verbreitet Hoffnung auf neue, patientenindividualisierte Behandlungen, die die lymphologischen Desaster der Vergangenheit in Zukunft hoffentlich wirkungsvoll und medikamentös therapierbar machen.

Warum sollten diese beiden Fachbereiche der Medizin in einem Leitthemenheft gewürdigt werden?

Nun, genau deshalb!

Wir, die Herausgeber, hoffen, dass wir Ihnen, den Lesern, einen Sie begeisternden Einblick in die dermatologische Lymphologie bieten, und freuen uns auf Ihr Feedback.

Ihre

Manuel Cornely und Rene Hägerling