Die HIV(„human immunodeficiency virus“)-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) gewinnt mit der Zulassung auch in Deutschland immer mehr an Popularität. Da die Wirksamkeit der PrEP hinreichend belegt worden ist, kommt der Untersuchung von etwaigen Veränderungen im Verlauf der PrEP-Nutzung, z. B. hinsichtlich des sexuellen Risikoverhaltens oder des Auftretens sexuell übertragbarer Infektionen, eine zunehmende Bedeutung zu. Das WIR – Walk In Ruhr – Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin hat eine intersektorale PrEP-Versorgung aufgebaut, die durch enge Zusammenarbeit verschiedener Institutionen gekennzeichnet ist.

Im Jahr 2018 infizierten sich 1,7 Mio. Menschen weltweit mit HIV. In Deutschland waren es ca. 2400 Personen. Obwohl die Zahlen sich im Vergleich zu den Vorjahren verringerten [1, 2], steht die Senkung der Anzahl an HIV-Neuinfektionen im Vordergrund der HIV-Prävention in Deutschland.

Bekannte Methoden der HIV-Prävention sind Kondomnutzung, Schutz durch Therapie, die HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP), die nach einem Hochrisikokontakt eingenommen wird [3,4,5], und die HIV-PrEP, die vor Risikokontakten eingenommen wird.

Zahlreiche Studien belegen die Wirksamkeit der PrEP [6,7,8,9]. Seit 2017 existiert im WIR – Walk In Ruhr – Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin ein innovatives Modellprojekt zur intersektoralen PrEP-Versorgung (Abb. 1), das mit der Zulassung der PrEP in Deutschland im September 2017 umgesetzt wurde. Zu den Einrichtungen des WIR gehören die Interdisziplinäre Immunologische Ambulanz des Katholischen Klinikums Bochum, Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Ruhr-Universität Bochum, die Aidshilfe Bochum, das Gesundheitsamt Bochum, pro familia e. V., Madonna e. V. und Rosa Strippe e. V. In jedem Fall werden die potenziellen PrEP-Nutzenden zuerst an die Aidshilfe weitergeleitet. Dort erfolgt eine individuell gestaltete PrEP-Sprechstunde. Diese dient dazu, Themen wie individuelle Risikoreduktionsstrategien, Bedeutung der eigenen Kondomnutzung, Einnahmeschemata der PrEP und die weitere Begleitung im Verlauf der PrEP zu erörtern. Danach werden über die Ambulanz bzw. vom Gesundheitsamt, Laborproben entnommen. Entweder am selben Tag oder im Rahmen eines neuen Termins erfolgt eine medizinische Beratung und Untersuchung durch die Ärzt_innen der Ambulanz. Es wird ein Rezept für die PrEP ausgestellt (zunächst Privatrezept, seit 9/2019 ein Kassenrezept). Als weitere Bestandteile der STI(sexuell übertragbare Infektionen)-Prävention im WIR gelten ein Online-HIV/STI-Risiko-Test (www.wir-ruhr.de), eine Online-Partnerbenachrichtigung bei STI und auch ein Selbstentnahme-Kit mit anschließender Laboruntersuchung auf STI („teSTIt“).

Abb. 1
figure 1

Ablauf der intersektoralen Zusammenarbeit in der PrEP(Präexpositionsprophylaxe)-Versorgung im WIR (Walk In Ruhr – Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin)

Sexuelles Risikoverhalten und Drogenkonsum

Einige Studien legen nahe, dass die Einnahme der PrEP mit einer Veränderung des sexuellen Risikoverhaltens einhergeht [10, 11]. So scheint bei Personen, die die PrEP einnehmen, z. B. die Kondomnutzung zurückzugehen [12]. Andere Studien wiederum zeigen, dass die Nutzung von Kondomen im Rahmen der PrEP eher konstant geblieben ist [13]. Derartige Diskrepanzen zeigen, dass hier noch empirischer Klärungsbedarf besteht.

Eine Studie aus dem Jahr 2012 verdeutlicht einen hohen Drogenkonsum bei PrEP-Konsumenten: Annähernd drei Viertel der Probanden gaben an, in den ersten 30 Tagen nach PrEP-Einleitung Drogen (einschließlich Alkohol, Marihuana, Metamphetamine, Ecstasy oder Medikamente wie Phosphodiesterase-5-Inhibitoren) beim Sex eingenommen zu haben [10].

HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen

Als Folge von sexuellem Risikoverhalten unter der PrEP-Einnahme ergibt sich die Hypothese, dass die Inzidenz von HIV abnimmt, wohingegen die Inzidenz anderer STI, wie beispielsweise Syphilis, Gonorrhö oder Infektionen mit Chlamydien, zunimmt [12]. So steigt laut einer Studie von Nguyen und Vinh-Kim aus dem Jahr 2018 die Gesamtzahl an STI von dem Zeitpunkt an, ab dem die PrEP verschrieben wird, im Vergleich zum vorangegangenen Zeitraum. Die gleiche Studie beschreibt insbesondere einen Anstieg an rektalen Infektionen mit Chlamydien [14]. Ebenso scheint das Auftreten der Syphilis in Verbindung mit risikoreicherem Sexualverhalten und besonders mit kondomlosem Geschlechtsverkehr zu stehen [15]. So stieg die Anzahl an gemeldeten Syphilis-Infektionen bei MSM (Männer, die Sex mit Männern haben) in Assoziation mit sexuellem Risikoverhalten, insbesondere in städtischen Arealen, seit dem Jahr 2011 an, um sich 2018 zu stabilisieren [16].

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen

Letztlich hat auch das Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen eine hohe Bedeutung für die Einnahme der PrEP bzw. für die Entscheidung, die PrEP weiter nach dem geplanten Schema einzunehmen oder anderenfalls abzubrechen. Eine 2010 durchgeführte Studie von Grant und Lama beschreibt ein gehäuftes Auftreten von Übelkeit in den ersten 4 Wochen der PrEP-Einnahme. Weitere unerwünschte Arzneimittelwirkungen zeigten sich nicht häufiger als in der vergleichenden Placebogruppe [7]. In einer weiteren Studie traten bei 14 % der Probanden Symptome des Magen-Darm-Traktes (unter anderem ebenfalls Übelkeit) im Zusammenhang mit der PrEP auf. Die Symptome waren selbstlimitierend, und es wurde dahingehend auch kein Abbruch der PrEP beobachtet. Weiterhin wurden bei 11 % der Proband_innen schwere unerwünschte Ereignisse in Form von z. B. einer Hirnblutung oder einem Suizidversuch festgestellt. Diese konnten allerdings nicht mit der Einnahme der PrEP in Verbindung gebracht werden [9].

Die nun folgende Interimsanalyse der ersten 4 Monate der PrEP-Studie am WIR beantwortet folgende Fragestellungen:

  • Wer ist an der Einnahme der PrEP interessiert, und inwieweit sind sozioökonomische Aspekte (Bildungsstatus, Arbeitsverhältnis) mit der Einnahme der PrEP assoziiert?

  • Ändert sich das sexuelle Risikoverhalten einschließlich des Drogenkonsums unter der PrEP-Einnahme?

  • Ändern sich der HIV-Status und die Inzidenz anderer STI unter der PrEP-Einnahme?

  • Welche unerwünschten Arzneimittelwirkungen treten unter der PrEP-Einnahme auf?

Methodik

Die Beobachtungsstudie wurde monozentrisch und prospektiv durchgeführt. Allen PrEP-Nutzern (≥18 Jahren), die sich ab 10/2017 (nach Zulassung und Ermöglichung einer bezahlbaren Verfügbarkeit der PrEP in Deutschland) im WIR vorstellten, wurde die Teilnahme an der Studie angeboten. Die Beobachtung erfolgte über 13 Monate, sodass im Rahmen der vorliegenden Auswertung ein Probandenkollektiv vorlag, das als Selbstzahler vor Übernahme der Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen (01.10.2019) die PrEP nutzte. Die Teilnahme lehnten 30 Personen ab. Es wurden 139 Probanden eingeschlossen. Die Indikationsstellung zur PrEP-Verordnung erfolgte gemäß den Empfehlungen der DSTIG (Deutsche STI-Gesellschaft) zur HIV-PrEP [17], die später in die AWMF(Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.)-Leitlinie überführt wurden [18].

Einschlusskriterien waren:

  • substanzielles Risiko für eine HIV-Infektion,

  • schriftliches Einverständnis zur Teilnahme an der Studie (Ethiknummer: 17-6208),

  • ≥18 Jahre, negativer HIV-Test,

  • glomeruläre Filtrationsrate (GFR >80 ml/min oder >60 ml/min, inklusive erfolgter nephrologischer Vorstellung).

Ausschlusskriterien waren:

  • chronische Hepatitis-B-Infektion,

  • mangelnde Deutschkenntnisse.

Instrumente der Datenerhebung

Als Instrumente der Datenerhebung wurden Fragebögen sowie klinische und Laboruntersuchungen eingesetzt.

Fragebögen

Vor Beginn der PrEP wurden die Probanden mittels eines selbst entworfenen deutschsprachigen Fragebogens mit 33 Fragen bezüglich soziodemografischer und -ökonomischer Aspekte, zum bisherigen Gebrauch von PEP/PrEP, zum schulischen Bildungsstatus und aktueller beruflicher Tätigkeit, zur Einnahme von Drogen/Medikamenten insbesondere beim Geschlechtsverkehr (Alkohol, Substanzen aus der Gruppe der Alkylnitrite, Phosphodiesterase-5-Hemmer, Cannabis, Gamma-Hydroxybuttersäure/Gamma-Butyrolacton [GHB/GBL], Ecstasy, Kokain, Ketamin, Metamphetamin) sowie zum sexuellen Risikoverhalten in Form der Partneranzahlen mit bzw. ohne Kondomnutzung, Geschlechtsverkehr mit HIV-positiven Personen und Geschlechtsverkehr in kommerziellen Zusammenhängen befragt. Ebenso wurde zu Beginn der geplante Einnahmemodus (kontinuierlich/intermittierend) abgefragt. Die Ärzt_innen erhielten keinerlei Einsicht in die beantworteten Fragebögen.

Nach 1 Monat und danach alle 3 Monate wurde ein ebenfalls deutschsprachiger Fragebogen mit 15 Fragen zum Einnahmeschema der PrEP, zu dem sexuellen Risikoverhalten in Form von durchschnittlicher Kondomnutzung, Partneranzahlen mit bzw. ohne Kondomnutzung innerhalb der letzten 6 Monate, Geschlechtsverkehr mit HIV-positiven Personen und Geschlechtsverkehr in kommerziellen Zusammenhängen wie auch der Einnahme von Drogen/Medikamenten insbesondere beim Geschlechtsverkehr (Aufzählung der Substanzen wie zu PrEP-Beginn) und letztlich aufgetretenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen ausgehändigt. Die Erhebung der unerwünschten Arzneimittelwirkungen erfolgte anhand vorgegebener Auswahlmöglichkeiten sowie eines Freitextfelds für mögliche nicht aufgeführte Wirkungen. Die Fragebögen können über die Autor_innen bezogen werden.

Klinische und Laboruntersuchungen

Die Indikation zur Aufnahme der PrEP wurde dokumentiert, und es wurden Laboruntersuchungen entsprechend der AWMF-Leitlinie [18] durchgeführt (HIV-PCR [Polymerasekettenreaktion] und Anti-HIV-ELISA [„enzyme-linked immunosorbent assay“], Kreatinin, Kreatinin-Clearance, Phosphat, Glukose, Natrium, Kalium, Phosphat, Urinstatus, Anti-HAV [Hepatitis-A-Virus], Anti-HBs [Hepatitis-B-Surface], Anti-HBc [Hepatitis-B-core], Anti-HCV [Hepatitis-C-Virus], TPPA [Treponema-pallidum-Partikel-Agglutination], VDRL [Venereal Disease Research Laboratory]). Infektionen mit Gonokokken, Chlamydien, Mykoplasmen sowie Trichomonaden wurden anhand von Abstrichen (genital, oral, rektal) mittels PCR (Chlamydien und Gonokokken [Cobas CT/NG, Roche Diagnostics, Mannheim, Deutschland], Trichomonaden und Mykoplasmen [Cobas TV/MG, TIB Molbiol, vertrieben durch Roche Diagnostics, Mannheim, Deutschland] ausgeschlossen.

Darüber hinaus wurde kontrolliert, ob die Probanden zwischenzeitlich seit dem letzten Follow-up wegen einer STI vorstellig wurden.

Kriterien für einen Studienabbruch waren Verschlechterung der GFR <60 ml/min (zwischen 60 und 80 erfolgte eine nephrologische Vorstellung) oder andere medizinische Gründe bzw. Rückzug der Einwilligung.

Bei den in dieser Publikation aufgeführten Daten handelt es sich um eine Interimsanalyse der ersten 4 Monate nach PrEP-Beginn, entsprechend den ersten 2 Follow-ups. Von den insgesamt 139 eingeschlossenen Probanden haben 122 das erste und 114 Probanden das zweite Follow-up durchlaufen.

Datenauswertung

Die Daten der Probanden wurden anhand eines sechsstelligen Codes pseudonymisiert. Die Auswertung der Daten erfolgte deskriptiv als absolute und relative Häufigkeiten. Darüber hinaus wurde zum sexuellen Risikoverhalten eine lineare Regression durchgeführt und zum Drogen‑/Medikamentenkonsum der Variationskoeffizient bestimmt.

Ergebnisse

Das mittlere Alter der eingeschlossenen 139 Probanden betrug 38 Jahre (18 bis 62 Jahre). Alle Probanden waren männlich und 137 Probanden mit dem HIV-Transmissionsrisiko MSM (98,6 %). Lediglich ein Proband war als heterosexuell einzuordnen. Ein Proband machte keine Angabe. Hinsichtlich des Einnahmeschemas gaben 98 Probanden an, die PrEP kontinuierlich einnehmen zu wollen (70,5 %), 25 Probanden planten eine intermittierende Einnahme (18,0 %), 16 Probanden (11,5 %) machten keine Angabe (Tab. 1). Zwei Personen pausierten, und 8 beendeten die PrEP-Einnahme innerhalb der ersten 4 Monate. Drei Probanden nahmen die Folgetermine nicht wahr. Als Gründe für die Beendigung der PrEP wurden u. a. ein individuell zu hoch empfundenes Risiko für andere STI oder ein im Nachhinein mangelnder Bedarf angegeben.

Tab. 1 Soziodemografische und -ökonomische Daten des Probandenkollektivs

Weiterhin wurde der soziodemografische Hintergrund abgefragt (Tab. 1). Demzufolge wurden 113 Probanden in Deutschland geboren (81,3 %). Weitere 19 Probanden stammten gebürtig aus anderen Ländern (13,7 %). Hierzu gab es keine Angabe von 7 Personen (5,0 %). Die Schulbildung stellte sich als überdurchschnittlich gut dar. Lediglich 1 Proband beendete die Schule bereits nach 9 bzw. weniger Jahren (keine Angabe: 4 Personen). Nur 2 Probanden (1,4 %) beantworteten die Frage nach einem aktuell ausgeübten Beruf damit, keinen festen Arbeitsplatz zu haben.

Es hatten 34 Probanden (24,5 %) vor der PrEP-Einleitung bereits mindestens 1‑mal eine PEP durchgeführt (keine Angabe: 3), und 27 Probanden (19,4 %) hatten bereits zuvor Erfahrungen mit der Einnahme der PrEP gemacht (keine Angabe: 5). Mit 126 Antworten (90,6 %) wurde als häufigste Indikation der PrEP-Einnahme der rezeptive oder insertive Analverkehr genannt. An zweiter Stelle (87,0 %) folgte von 121 Probanden als Grund die Angabe, wechselnde Partner zu haben. Sechs Probanden machten hierzu keine Angabe.

Veränderung des sexuellen Risikoverhaltens einschließlich Konsum von Medikamenten/Drogen im Verlauf der PrEP-Einnahme

Sowohl die durchschnittliche Gesamtzahl der Sexualpartner als auch die Anzahl der Partner, mit denen in den letzten 6 Monaten kondomloser Sex praktiziert wurde, stieg signifikant von 12 auf 16 (PrEP-Beginn: 0–100, Monat 4: 0–120) bzw. von 5 auf 10 Partner an (Abb. 2). Vor Beginn der PrEP nutzten 74,4 % der Probanden keine Kondome, nach 4 Wochen 87,7 % und nach 4 Monaten 93,46 %.

Abb. 2
figure 2

Durchschnittliche Partneranzahl innerhalb der letzten 6 Monate. PrEP Präexpositionsprophylaxe

Als Parameter des sexuellen Risikoverhaltens zeigte sich, dass mit 65,9 % bereits eine hohe Anzahl an Studienteilnehmern vor Beginn der PrEP vor oder beim Geschlechtsverkehr Drogen/Medikamente (Alkohol, Substanzen aus der Gruppe der Alkylnitrite, Phosphodiesterase-5-Hemmer, Cannabis, GHB/GBL, Ecstasy, Kokain, Ketamin, Metamphetamin) konsumierten. Führend war hier der Konsum von Alkohol und Substanzen aus der Gruppe der Alkylnitrite (Poppers). Es zeigte sich kein signifikanter Unterschied im Verlauf (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Drogen‑/Medikamentenkonsum im Verlauf der PrEP (Präexpositionsprophylaxe). (Variationskoeffizient [CV] <0,5 = keine signifikante Variation. Drogen/Medikamente: Alkohol, Substanzen aus der Gruppe der Alkylnitrite, Phosphodiesterase-5-Hemmer, Cannabis, Gamma-Hydroxybuttersäure/Gamma-Butyrolacton [GHB/GBL], Ecstasy, Kokain, Ketamin, Metamphetamin)

Auftreten von sexuell übertragbaren Infektionen im Verlauf der PrEP-Einnahme

Vor Beginn der PrEP wurde erhoben, ob die Probanden sich in ihrem Leben bereits einmal mit einer STI infiziert hatten. So gaben 80 Probanden (57,6 %) an, bereits mindestens 1‑mal in ihrem Leben eine entsprechende Infektion gehabt zu haben. Nach 4 Monaten traten insgesamt 44 Infektionen bei 34 Probanden auf, wobei Infektionen mit Gonokokken und Chlamydien etwa gleich häufig auftraten. Bei keinem der Probanden wurde in den ersten 4 Monaten eine HIV-Infektion nachgewiesen. Weiterhin wurde der Impfschutz gegen Hepatitis A und Hepatitis B im Probandenkollektiv überprüft. Neuimpfungen wurden bei 40 Probanden gegen HAV und bei 42 Probanden gegen HBV durchgeführt.

Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen

Weiterhin wurden Nebenwirkungen der PrEP erfasst und dokumentiert. Insgesamt zeigten sich in den ersten 4 Wochen nach Beginn der PrEP unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei 45 Probanden, was 38,8 % entspricht (Tab. 2). Nausea oder Emesis wurden am häufigsten beschrieben (13,8 %). Ebenfalls häufig kam es zum Auftreten von Zephalgien (11,2 %). Im Zeitraum zwischen dem Abschluss des ersten Monats und dem Erreichen der ersten 4 Monate unter PrEP kam es bei 32 Probanden zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen (29,9 %). Der Anteil an gastrointestinalen Symptomen, Nausea und Emesis, hat sich hier stark reduziert. An erster Stelle steht in diesem Zeitraum das im Verlauf konstante Auftreten von Zephalgien.

Tab. 2 Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen unter PrEP(Präexpositionsprophylaxe)-Einnahme

Diskussion

Die vorliegende Arbeit ist die erste Studie zur PrEP in Deutschland im Zeitraum nach Zulassung und vor der Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen.

Die Befragung zu Anfang der PrEP hinsichtlich sexueller Präferenzen bestätigte, dass fast ausschließlich MSM Interesse an der Einnahme der PrEP zeigten. Mit dem intersektoralen Ansatz des WIR wurden Personen mit einem substanziellen Risiko einer HIV-Infektion (Sex ohne Kondom und Drogengebrauch beim Sex) erreicht. Dies stellte sich als deckungsgleich zu einer überregionalen deutschen Studie vor der PrEP-Zulassung dar, der zufolge die PrEP besonders für Personengruppen gedacht ist, die ein erhöhtes Risiko für eine Ansteckung mit HIV aufweisen, wobei insbesondere MSM im Altersbereich 25 bis 39 Jahre identifiziert wurden [19]. Das durchschnittliche Alter der PrEP-Nutzer unserer Erhebung lag bei 38 Jahren und bestätigt diese Studie [19]. Der Anteil von Migranten (13,7 %) war deutlich kleiner, als in NRW (Nordrhein-Westfalen) bei einem Migrantenanteil von 24,5 % zu erwarten (www.integrationsmonitoring.nrw.de). Der Bildungsstatus der teilnehmenden Migranten stellte sich als hoch dar. Für diese beiden Ergebnisse könnte ein Rekrutierungsbias vorliegen aufgrund der deutschen Fragebögen und der PrEP als Selbstzahlerleistung. Nur 1 Proband insgesamt gab eine Schulbildung von 9 bzw. weniger Jahren an, und nur 2 Probanden besaßen laut Fragebogen keine feste Arbeit. Somit konnte eine Assoziation der PrEP-Nutzung mit hohem Bildungs- oder Berufsstand festgestellt werden. Es wird sich künftig zeigen, ob durch die Verfügbarkeit der PrEP als Kassenleistung hier Verschiebungen auftreten und jüngere und bildungsferne Gruppen erreicht werden.

Zu Anfang wurde die Diskrepanz verschiedener Studien zum Thema der Veränderung des sexuellen Risikoverhaltens im Verlauf der PrEP-Nutzung aufgegriffen. So berichtete Chen in seiner Studie aus dem Jahr 2018 von einem Rückgang der Kondomnutzung [12], wohingegen die Studie von Holt aus dem Jahr 2012 ein gegenteiliges Nutzungsverhalten nahelegte [13]. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie tendieren klar in Richtung der Studie von Chen. So war die Anzahl der Probanden, die Geschlechtsverkehr ohne Kondom ausübten, bei Betrachtung der relativen Häufigkeit um nahezu 20 % angestiegen. Ebenso konnte ein signifikanter Anstieg der Partneranzahl mit und ohne Kondomnutzung innerhalb der letzten 6 Monate beobachtet werden. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass zwischen den Veröffentlichungen der Studie von Holt (2012) und jener von Chen (2018) sowie den Ergebnissen dieser Studie mehrere Jahre liegen. Die Popularität der PrEP stieg in diesem Zeitraum signifikant an [12] und damit auch die Einschätzung hinsichtlich der PrEP-Sicherheit beim entsprechenden Risikokollektiv. Die Sicherheit der PrEP wurde in den vergangenen Jahren mehrfach in diversen Studien unter Beweis gestellt [6, 7, 9]. Unsere Studie konnte die Sicherheit der PrEP zur Prävention einer HIV-Infektion ebenfalls bestätigen. Keiner der Probanden infizierte sich innerhalb der ersten 4 Monate nach Einleitung der PrEP mit HIV. Die Angaben zum Konsum von Drogen oder Medikamenten in dieser Studie zeigten sich weitestgehend übereinstimmend mit anderen Studienergebnissen. Mit konstant bei annähernd 70 % der Probanden angegebenem Konsum von Drogen/Medikamenten insgesamt – ohne Differenzierung zwischen einzelnen Substanzen jeweils beim ersten und zweiten Follow-up – waren die Werte vergleichbar mit den Ergebnissen von Brooks und Landovitz aus dem Jahr 2012, in deren Studie ebenfalls etwa drei Viertel der Probanden nach den ersten 4 Wochen der PrEP-Einnahme entsprechende Substanzen konsumierten. Da in der hier dargestellten Studie bereits 65,9 % der Probanden vor Einnahme der PrEP Drogen/Medikamente konsumiert hatten, ist dies als Hinweis zu werten, dass mit dem intersektoralen PrEP-Ansatz des WIR Personen mit sexuellem Risikoverhalten angesprochen werden. Ebenfalls übereinstimmend waren die Studien dahingehend, dass Alkohol die am häufigsten konsumierte Droge darstellte.

Im Hinblick auf das Auftreten von STI im Verlauf der PrEP-Applikation konnte mit insgesamt 44 Infektionen bei 34 Probanden (30,1 %) in den ersten 4 Monaten nach PrEP-Beginn eine hohe Rate an Neuinfektionen bestätigt werden. Damit verhielt sich auch dieser Aspekt konform zu den Ergebnissen anderer Studien [14, 20], weitere Ergebnisse sind im Verlauf der Studie zu erwarten. Wünschenswert erscheint, dass der Ansteckung mit STI mit präventiven Maßnahmen begegnet werden sollte. Regelmäßige STI-Kontrollen im Rahmen der PrEP stellen hier das Minimum dar. Zusätzliche Sicherheit kann durch eine anonyme Online-Partnerbenachrichtigung sowie durch die vorher erwähnten Selbstentnahme-Kits zur STI-Testung erreicht werden. Beides wurde durch das WIR entwickelt und wird dort angeboten.

Inzidenz und Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen wiesen große Übereinstimmungen zu den Studien auf, die in den USA und in Frankreich durchgeführt wurden [7, 9]. Es traten keine gravierenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen auf. Eine Häufung konnte bei gastrointestinalen Symptomen wie Nausea und Emesis sowie bei Zephalgien beobachtet werden. Die Abnahme des Auftretens von gastrointestinalen Symptomen im Zeitraum nach den ersten 4 Wochen lässt weiterhin die Vermutung zu, dass Symptome lediglich vermehrt in der initialen Einnahmephase auftreten. Der weitere Verlauf der Studie wird dahingehend weitere Erkenntnisse liefern.

Mit dem innovativen intersektoralen Versorgungskonzept, mehrere beteiligte Partner sowie die Beratung, Diagnostik und Behandlung in einer Institution zu vereinen, werden Personen mit substanziellem HIV-Risiko erreicht und STI schnell und unkompliziert diagnostiziert und therapiert.

Limitationen

Um die Aussagekraft der Ergebnisse detaillierter darstellen zu können, wären Änderungen des Studiendesigns wie folgt notwendig:

  • Vergrößerung der Stichprobe,

  • Überarbeitung des Ansatzes einer Interimsanalyse,

  • Einführung einer Vergleichskohorte,

  • Betrachtung der STI vor PrEP-Beginn in einem festgesetzten zeitlichen Rahmen.

Ausblick

In dieser Studie ergaben sich bereits innerhalb der ersten 4 Monate nach Beginn der PrEP-Einnahme wichtige Hinweise auf Veränderungen des sexuellen Risikoverhaltens der Probanden sowie auf eine mögliche Assoziation mit einem erhöhten Auftreten von STI. Gerade dies gilt es, als Fragestellung weiter zu untersuchen. Aufgrund des Erfolgs, den das Modellprojekt WIR in Bezug auf den niedrigschwelligen Zugang zur PrEP erreichen konnte, ist anzustreben, das Konzept auch auf andere Standorte auszuweiten. Die Daten zeigen zudem, dass es von enormer Bedeutung ist, PrEP-Nutzenden regelmäßige STI-Kontrollen anzubieten. Auch dies lässt sich durch die intersektorale Arbeit deutlich unkomplizierter und schneller umsetzen als in anderen Settings.

Fazit für die Praxis

  • Eine regelmäßige Testung von Personen, die eine PrEP (Präexpositionsprophylaxe) einnehmen, ist von außerordentlicher Bedeutung, um im Hinblick auf das vermehrte Auftreten von STI (sexuell übertragbare Infektionen) unter PrEP, entsprechende Therapien schnell einleiten zu können. Ebenso können Online-Partnerbenachrichtigungen sowie Selbstentnahme-Kits zur STI-Testung zur verbesserten präventiven Begleitung beitragen.

  • Eine Ausweitung des Konzepts der intersektoralen Zusammenarbeit auf weitere Standorte könnte zur besseren Verbreitung der PrEP beitragen.