Hintergrund

Vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2(„severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“)-Pandemie bestanden und bestehen sowohl bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) als auch auf der Seite der sie behandelnden Ärzte Bedenken, wie Diagnostik und Therapie der CED unter den neuen Rahmenbedingungen effektiv und insbesondere sicher gestaltet werden können. Diese Überlegungen sind insbesondere bei CED-Patienten bedeutsam, die mit Steroiden, Immunsuppressiva, Biologika oder Janus-Kinase-Inhibitoren(JAK)-Inhibitoren behandelt werden, die (in unterschiedlichem Ausmaß) mit einem erhöhten Risiko infektiöser Komplikationen assoziiert sind [4, 8]. 67 Experten, die die aktuell gültigen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen (DGVS) zum Morbus Crohn und der Colitis ulcerosa erstellten, haben daher im Rahmen einer virtuellen Konferenz aktuelle und praxisnahe Empfehlungen formuliert sowie Handlungskorridore beschrieben, um die Versorgung von CED-Patienten zu verbessern.

Die von der Arbeitsgruppe im Juli 2020 publizierten Empfehlungen „Addendum zu den S3-Leitlinien Morbus Crohn und Colitis ulcerosa: Betreuung von Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen in der COVID-19-Pandemie – offene Fragen und Antworten“ adressieren insbesondere das Risiko für eine COVID-19(„coronavirus disease 2019“)-Erkrankung bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, die Diagnostik unter den Bedingungen der Pandemie, die Konsequenzen für die medikamentöse und operative Therapie der Grunderkrankung sowie allgemeine Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen und für eine Begleittherapie bei Patienten mit CED. Die Leitliniengruppe formulierte insgesamt 23 Empfehlungen. Die Tab. 1 fasst die 10 wichtigsten Empfehlungen zusammen.

Tab. 1 Zentrale Empfehlungen der S2k-Leitlinie „Addendum zu den S3-Leitlinien Morbus Crohn und Colitis ulcerosa: Betreuung von Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen in der COVID-19-Pandemie – offene Fragen und Antworten“

Die weiteren Empfehlungen und Kommentare können in der Langfassung der Leitlinie über die Homepage der DGVS (www.dgvs.de) oder der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (www.awmf.de) eingesehen werden [2]. Im Folgenden soll auf einige relevante Themen etwas ausführlicher eingegangen werden.

Sind Morbus Crohn und Colitis ulcerosa Risikofaktoren für eine SARS-CoV-2-Infektion?

Epidemiologische Daten aus China, Spanien und Frankreich [1, 5, 7] zeigen, dass CED-Patienten insgesamt kein erhöhtes Risiko für eine COVID-19-Erkrankung haben. Immunsupprimierende Medikamente, insbesondere Steroide und Thiopurine erhöhen jedoch das Risiko für virale respiratorische Infekte, weshalb in dieser Konstellation von einer gesteigerten Infektionsanfälligkeit ausgegangen werden muss. Bei immunsupprimierten Patienten mit beruflich bedingt hoher Anzahl sozialer Kontakte kann daher in Hochprävalenzgebieten ein Arbeitsplatzwechsel vorgenommen werden. Ansonsten gelten die Risikofaktoren für einen schweren Verlauf der Allgemeinbevölkerung auch bei CED-Patienten.

Medikamentöse Therapie – beenden, umstellen oder fortführen?

Eine Umfrage unter 415 Patienten mit CED im April 2020, den frühen Tagen der Pandemie, zeigte, dass viele einen negativen Effekt ihrer Medikamente auf eine SARS-CoV-2-Infektion fürchteten [3]. Erfreulicherweise berichteten trotzdem >95 % der Patienten, ihre Medikamente nicht eigenmächtig abgesetzt zu haben. Erfahrungen aus den vergangenen MERS(„middle east respiratory syndrome“)- und SARS-Epidemien sowie vor allem Beobachtungen aus dem internationalen SECURE-IBD(Surveillance Epidemiology of Coronavirus Under Research Exclusion for Inflammatory Bowel Disease)-Register (covidibd.org) helfen, Empfehlungen zur CED-Therapie in Zeiten der Pandemie zu geben. In dieses Register melden Ärzte weltweit Patienten mit CED, die sich mit SARS-CoV‑2 infiziert haben. Zum 01.11.2020 geben die Daten von 2797 gemeldeten Patienten wertvolle Informationen über den Einfluss der Medikamente auf COVID-19. Eine erste Datenauswertung, die auf der UEG (United European Gastroenterology) Week 2020 präsentiert wurde, ergab ein erhöhtes Risiko für den Endpunkt „Hospitalisierung, Beatmungspflichtigkeit oder Mortalität“ für ältere Patienten, Patienten mit Komorbiditäten und Patienten, die mit Steroiden oder Mesalazin behandelt wurden [9].

Eine hochdosierte Steroidgabe sollte vermieden werden

Für Biologikamonotherapien bzw. Tofacitinib (sehr kleine Fallzahl) konnte ein derartiges Risiko nicht festgestellt werden. Es gibt jedoch Hinweise auf ein erhöhtes Risiko schwerer COVID-19-Verläufe unter Thiopurinen und unter Kombinationstherapien [10]. Zukünftige Auswertungen mit der jetzt bereits deutlich höheren Zahl eingeschlossener Patienten werden sicher weitere wichtige Hinweise auf die Wahl geeigneter Therapeutika liefern. Angesichts dieser Daten, und da eine schlecht kontrollierte CED-Erkrankung einen nichtpharmakologischen Risikofaktor für Infektionen darstellt, sollten laufende Therapien nichtinfizierter Patienten, wie auch von Patienten mit leichtem COVID-19-Verlauf nicht beendet werden. Im Falle eines schweren COVID-19-Verlaufs sollten vor allem aus pathophysiologisch-pharmakologischen Überlegungen (Lymphopenie, Einfluss auf T‑Zellen) Therapien mit Tofacitinib, Azathioprin und Methotrexat sowie Kombinationstherapien pausiert werden.

Aufgrund des erhöhten Risikos für einen ungünstigen Erkrankungsverlauf sollte während der Pandemie die hochdosierte Steroidgabe – vor allem längerfristig – vermieden werden, auch z. B. durch frühzeitigen Einsatz eines Biologikums für die Therapie eines akuten Schubs. Bei Biologikaneueinstellungen reduzieren subkutane Therapien die Häufigkeiten von Vor-Ort-Terminen und sollen daher im Falle einer gleichen Wirksamkeit gegenüber i.v. Therapien favorisiert werden.

Empfehlungen für das chirurgische Management

Empfehlung 3.9

Dringliche und notfallmäßige Operationen sollen in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie unter adäquaten Schutzmaßnahmen durchgeführt werden.

Um Intensivkapazitäten und Personal bereitzuhalten, wurden Operationen in den ersten Monaten der Pandemie auf dringliche Indikationen beschränkt. Die Indikation zur Operation sollte engmaschig in interdisziplinären Teams besprochen werden. Es sollte insbesondere dann eine Verschiebung der Operation kritisch evaluiert werden, wenn durch die Verzögerung eine erhöhte Komplikationsrate droht.

Empfehlung 3.10

Bei Patienten mit isoliertem, kurzstreckigem Befall des terminalen Ileums bei Morbus Crohn kann eine primäre Resektion vs. eine Steroidstoßtherapie oder eine Biologikatherapie unabhängig von einer möglichen SARS-CoV-2-Infektion zur Remissionsinduktion erwogen werden.

Die randomisierte, kontrollierte Lir!c-Studie, die eine Anti-Tumornekrosefaktor(TNF)-Therapie mit einer Ileozökalresektion bei isoliertem, kurzstreckigem Crohn-Befall des terminalen Ileums verglich, zeigte nach 5 Jahren Beobachtungszeitraum einen Vorteil zugunsten der Resektionsgruppe [6]. In dieser Situation kann als Alternative zur Intensivierung der immunsuppressiven Therapie die primäre Ileozökalresektion auf guter Datenbasis empfohlen werden.

Empfehlung 3.11

Bei Patienten mit akuter, schwerer, steroidrefraktärer Colitis ulcerosa soll in der SARS-CoV-2-Pandemie eine frühzeitige Proktokolektomie sorgfältig gegen eine Fortführung der medikamentösen Therapiestrategie abgewogen werden.

In dieser Situation sollte gemeinsam mit dem Patienten die Option einer Proktokolektomie gegen das Potenzial der in dieser Situation grundsätzlich wirksamen Medikamente (Infliximab, Kalzineurininhibitoren als Bridging-Therapie zu Vedolizumab und Ustekinumab) diskutiert und eine gemeinsame Entscheidung auch unter Berücksichtigung des Infektionsrisikos mit SARS-CoV‑2 während des stationären Aufenthaltes herbeigeführt werden.

Fazit

  • Das Addendum gibt den Behandlern chronisch entzündlicher Darmerkrankungen in dieser plötzlich aufgetretenen, globalen Herausforderung Handlungskorridore sowie aktuelle und praxisnahe Empfehlungen.

  • Seit Beginn der COVID-19-Pandemie im März 2020 hat ein anhaltender, nahezu exponentieller Wissenszuwachs stattgefunden, der jedoch auch die Empfehlungen dieser Leitlinie immer wieder auf eine Probe stellt und einer regelmäßigen Reflektion des Handelns bedarf.