Einleitung

Eine Erkrankung wird als selten definiert, wenn weniger als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind (Europäische Kommission, 2008). Aktuell sind etwa 6000 bis 9000 Seltene Erkrankungen (SE) bekannt [1, 2], wobei jährlich etwa 150 bis 250 weitere Erkrankungen hinzukommen [1]. Es wird angenommen, dass bei etwa 3–8 % der Bevölkerung mindestens eine Seltene Erkrankung diagnostiziert wurde. Für Deutschland kann entsprechend eine Anzahl von 2,5–5 Mio. Menschen mit einer Seltenen Erkrankung geschätzt werden [2, 3].

Seltene Erkrankungen sind häufig durch komplexe Beschwerdebilder charakterisiert und können schwerwiegende körperliche und kognitive Funktionseinschränkungen sowie eine reduzierte Lebenserwartung für die Betroffenen bedeuten. Bei einem Großteil der Erkrankungen ist ein Symptombeginn im Kindesalter zu beobachten [1]. Derzeit geht man bei etwa 72 % der Seltenen Erkrankungen von einer genetischen Ursache aus [4], wobei diese Anzahl sich aufgrund dynamischer Entwicklungen und verbesserter genetischer Diagnosemethodik stetig verändert.

Die Klärung der Diagnose und der Krankheitsursache mittels genetischer Untersuchungen oder anderer diagnostischer Möglichkeiten stellt in der Regel die Grundlage für eine bedarfs- und erkrankungsorientierte Versorgung der Betroffenen dar [5, 6]. Trotz der verbesserten diagnostischen Möglichkeiten wird der Diagnoseweg von Betroffenen häufig als eine lange Odyssee bis zur richtigen Diagnose beschrieben. Die Suche nach der Diagnose und adäquater Versorgung kann dabei zu hoher Belastung führen [7] und ist in der Regel mit vielen Kontakten im Gesundheitssystem und praktischen wie auch emotionalen Herausforderungen verbunden [8].

Auch wenn eine Diagnose gestellt wurde, ist die weitere Versorgung aufgrund der begrenzt verfügbaren regionalen Spezialversorgung sowohl für die Betroffenen als auch für die ärztlichen Versorgenden eine große Herausforderung [9]. Neben begrenzten regionalen Spezialangeboten fehlen häufig kurative Therapieoptionen, sodass ausschließlich eine symptomorientierte Behandlung erfolgt, wofür der Einbezug unterschiedlicher Spezialist:innen und Fachgebiete dauerhaft notwendig ist [10]. Zudem stellen regelmäßige Kontrolltermine oder notwendige unterstützende Maßnahmen eine hohe Anforderung an das Erkrankungs- bzw. Gesundheitsmanagement der Betroffenen dar. Das Krankheitsmanagement umfasst beispielsweise die Koordination von Terminen mit unterschiedlichen Spezialist:innen oder die Aufklärung und Informationsweitergabe an andere Fachkräfte, die an der Versorgung beteiligt sind (Ärzt:innen, aber auch z. B. weiterführend therapeutisch Tätige). Von ärztlicher Seite wird jedoch berichtet, dass insbesondere die Kommunikation zwischen den verschiedenen Fachbereichen und Leistungssektoren häufig unzureichend und die Versorgung dadurch beeinträchtigt ist [11].

Basierend auf den Empfehlungen des Europäischen Rats zu Strategien in Bezug auf die Anforderungen in der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen wurden auch für Deutschland im Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) Strategien und Empfehlungen erarbeitet, um die Bedarfe (z. B. in der Diagnosestellung und Therapie) zu adressieren [12]. Durch die Einrichtung spezialisierter Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) verändert sich die Versorgungslandschaft für die Betroffenen und es wird Kompetenz generiert, strukturiert und aggregiert. Ein zentraler Aspekt in der Ausgestaltung der Zentrenstruktur sind die sogenannten Referenzzentren (Typ-A-Zentren) als koordinierende Zentren und Anlaufstelle für Menschen mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung, die bisher noch keine Diagnose erhalten haben. Den Referenzzentren zugehörig sind Fachzentren bzw. -ambulanzen (Typ-B-Zentren) zur Versorgung einzelner Erkrankungsbereiche. Auch niedergelassene Fachärzt:innen können z. B. durch Behandlungsschwerpunkte als enge Partner:innen der Zentren fungieren (Typ-C-Zentren). Die ZSE werden beispielsweise im SE-Atlas dargestellt (www.se-atlas.de), in dem neben den Versorgungsangeboten der Zentren im Allgemeinen auch Hinweise zu den Angeboten für einzelne seltene Erkrankungsgruppen aufgeführt werden.

Trotz dieser positiven Entwicklungen hin zu einer verbesserten spezialisierten Versorgung ist die Versorgung von Patient:innen mit Seltenen Erkrankungen in besonderem Maße durch Schnittstellenprobleme gekennzeichnet. Im NAMSE wird darauf hingewiesen, dass insbesondere für die Diagnosestellung die Zusammenarbeit zwischen den Zentren und Primärversorgenden zentral ist [12]. Schnittstellendefizite in der ärztlichen Versorgung können darüber hinaus die Versorgungsqualität erheblich beeinträchtigen [13,14,15]. Schnittstellenmanagement umfasst die gezielte Kommunikation und abgestimmte Zusammenarbeit aller an der Versorgung Beteiligten [16]. Ein gelungenes Schnittstellenmanagement zwischen Institutionen und Versorgenden wird in der Versorgungsforschung [17] und Gesundheitspolitik seit Langem als Herausforderung für eine qualitätsgesicherte medizinische Versorgung thematisiert. Verbesserungspotenzial wird u. a. in der Etablierung eines strukturierten Entlassmanagements sowie in der Kommunikation und der interdisziplinären Zusammenarbeit gesehen [15, 18,19,20]. Das Ärztliche Zentrum für Qualität im Gesundheitswesen (ÄZQ) hat dazu dezidierte Empfehlungen herausgegeben [21]. Aus den dargestellten Besonderheiten bei der Diagnostik und Versorgung Seltener Erkrankungen wird deutlich, dass das Thema Schnittstellen für alle Beteiligten (Patient:innen bzw. Eltern von minderjährigen Patient:innen, Haus- und Fachärzt:innen, ZSE) zentral ist.

In dem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Forschungsprojekt ESE-Best („Evaluation von Schnittstellenmanagementkonzepten bei Seltenen Erkrankungen“) wurden auf Basis einer multiperspektivischen Mixed-Methods-Studie Empfehlungen für das Schnittstellenmanagement in der ärztlichen Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen entwickelt.

Methoden

Die Empfehlungen werden auf Basis von Erkenntnissen aus insgesamt 3 Projektphasen erarbeitet. Dabei wurden ein multimethodaler Ansatz mit qualitativen und quantitativen Methoden sowie ein konsequenter Einbezug der Perspektiven der an der Versorgung Beteiligten (ZSE, Primärversorgung, Patient:innen, Eltern) umgesetzt (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Methodische Umsetzung im Projekt ESE-Best zur Ableitung von Empfehlungen zum Schnittstellenmanagement in der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Quelle: eigene Abbildung

In der ersten Studienphase erfolgte eine Bestandsaufnahme des Schnittstellenmanagements in der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Es wurde auf Basis von Literaturrecherchen, eines Expert:innen-Workshops, Vor-Ort-Visitationen und Expert:innen-Interviews ein Schema zur Erfassung unterschiedlicher Bereiche des Schnittstellenmanagements entwickelt. Dieses Schema wurde in 2 Versionen (ZSE, Primärversorgung) ausgearbeitet und umfasste die folgenden 7 Aspekte: Bekanntheit des ZSE, Kommunikation mit Patient:innen, Aufnahme in das ZSE, Kommunikation mit Primärversorgenden, Abläufe innerhalb des ZSE, Weiterbehandlung/Entlassung aus dem ZSE, Zusammenarbeit mit Patient:innenorganisationen. Das Schema wurde in einer telefonischen Befragung von Vertreter:innen von ZSE und Primärversorgenden eingesetzt. Zum Projektbeginn wurden 32 ZSE über den SE-Atlas identifiziert und zu einer Teilnahme eingeladen. Neben der koordinierenden Stelle der ZSE (A-Zentrum/Referenzzentrum) sollten 3–4 Vertreter:innen einer Spezialsprechstunde (B-Zentrum/Spezialambulanz) befragt werden. Darüber hinaus wurden Primärversorgende, die mit den ZSE kooperieren, befragt.

Auf Basis der Aussagen der teilnehmenden A‑Zentren/Referenzzentren der ZSE wurden den Zentren Punkte für die o. g. 7 Aspekte vergeben. Einzelne Items wurden dabei im Rahmen des Expert:innen-Workshops, der Interviews oder der Vor-Ort-Visitationen als besonders relevant eingestuft und doppelt gewichtet. Der maximal erreichbare Gesamtpunktwert lag bei 87 Punkten (A-Zentrum) bzw. 89 Punkten (B-Zentrum). In einem zweiten Schritt wurden die Aussagen und Punkte der A‑Zentren mit denen der teilnehmenden B‑Zentren der ZSE abgeglichen. Der Median der erreichten Punktwerte der A‑Zentren lag bei 60. Es wurden 6 Zentren, die über dem Median lagen und damit im Gesamtwert sowie in einzelnen Bereichen durch ein funktionierendes Schnittstellenmanagement gekennzeichnet waren, als „Best-Practice-Standorte“ identifiziert und in einer zweiten Studienphase zu einer weiteren Studienteilnahme eingeladen.

In der zweiten Studienphase wurde die Patient:innenperspektive zum Schnittstellenmanagement in den ausgewählten Standorten erfragt. 3 der 6 ausgewählten Best-Practice-Standorte folgten der Einladung zur Teilnahme an der zweiten Studienphase. An diesen Standorten (Göttingen, Hamburg, Heidelberg) wurden über das Referenzzentrum sowie über Spezialsprechstunden/-ambulanzen, die von den ZSE bestimmt wurden, Patient:innen bzw. die Eltern von minderjährigen Patient:innen für eine schriftliche Befragung gewonnen. Darüber hinaus wurden Patient:innen und Eltern von einzelnen Patient:innenorganisationen zur Studienteilnahme eingeladen. Neben Fragen zur Befindlichkeit (erfasst mit der Hospital Anxiety and Depression Scale – HADS; [22]) und zur Lebensqualität (erfasst mit dem WHOQOL BREF der Weltgesundheitsorganisation [23]) wurden dabei Fragen zu den Unterstützungsbedürfnissen (in Anlehnung an den Supportive Care Needs Survey [24], bei Eltern erkrankter Kinder ergänzend die Parental Needs Scale [25]) gestellt sowie schnittstellenrelevante Fragen zur Versorgung am ZSE (selbst entwickelte Items basierend auf der ersten Studienphase, z. B. Kontaktaufnahme und Erreichbarkeit der Ansprechperson). Weitere Fragen bezogen sich auf die Zusammenarbeit der Behandelnden (in Anlehnung an [26]) und auf die Zufriedenheit mit der Versorgung (erfasst mit dem Fragebogen zur Zufriedenheit in der ambulanten Versorgung Schwerpunkt Patient:innenbeteiligung – ZAPA [27] und dem Fragebogen zur Patient:innenzufriedenheit ZUF‑8 [28]). Bei Eltern wurden außerdem die Pflegebelastung und die pflegebezogene Lebensqualität [29, 30] sowie die Lebensqualität der Kinder [31] miterhoben.

Ergänzend wurden in dieser Studienphase halbstrukturierte qualitative Interviews mit einer Teilstichprobe der Betroffenen sowie mit Primärversorgenden geführt, um die Erfahrungen mit der Versorgung und speziell dem Schnittstellenmanagement vertiefend zu erfassen. Zentrale Themenbereiche im Interviewleitfaden für die Betroffenenbefragung waren 1) Diagnoseweg, 2) Zugangsweg zum ZSE, 3) Erfahrung mit der Diagnostik bzw. Behandlung am ZSE, 4) Wahrnehmung der Zusammenarbeit zwischen ZSE und Primärversorgenden (Haus- und Fachärzt:innen), 5) Verbesserungswünsche in der Versorgung, 6) Unterstützungsbedarfe, 7) Einfluss der Coronapandemie auf die Versorgung/Erkrankung. Die Betroffeneninterviews dauerten zwischen 16 min und 84 min (durchschnittlich 43 min).

Folgende Themenbereiche wurden bei den Interviews mit den Primärversorgenden vertieft: 1) Bekanntheit der ZSE, 2) Gründe für und Ablauf der Anmeldung von Patient:innen am ZSE, 3) Kommunikation mit dem ZSE während und nach der Behandlung durch das Zentrum, 4) langfristige Zusammenarbeit mit dem ZSE, 5) Verbesserungswünsche und -vorschläge für die Zusammenarbeit.

Die quantitativen Ergebnisse der Patient:innenbefragung wurden deskriptiv und mithilfe von Gruppenvergleichen ausgewertet. Für die Ableitung der Empfehlungen waren insbesondere die schnittstellenrelevanten Fragen zu Erfahrungen mit der Versorgung, Erfahrungen zur Zusammenarbeit der Behandelnden und zur Zufriedenheit mit der Versorgung zentral. Die qualitativen Interviews wurden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring mit der Software MAXQDA (VERBI Software. Consult. Sozialforschung GmbH, Berlin, Deutschland) ausgewertet.

Im letzten Schritt wurden die Ergebnisse der ersten beiden Studienphasen zu ersten Entwürfen der Empfehlungen aufbereitet und im Rahmen eines abschließenden Expert:innen-Workshops diskutiert und überarbeitet. Nach einer schriftlichen Konsentierungsrunde und einer erneuten Feedbackschleife wurden die finalen Empfehlungen formuliert.

Ergebnisse

Datengrundlage der Empfehlungen

Bestandsaufnahme.

Im Rahmen der Bestandsaufnahme wurden 4 Expert:innen-Interviews, 4 Vor-Ort-Visitationen in ZSE und 1 Expert:innen-Workshop durchgeführt. Am Expert:innen-Workshop nahmen 4 Vertreter:innen aus 4 ZSE, 6 Vertreter:innen von Patient:innenorganisationen sowie 2 Vertreter:innen des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) teil. Basierend auf den Ergebnissen wurde ein Schema zur Erfassung relevanter Bereiche des Schnittstellenmanagements gemeinsam mit Vertreter:innen der Selbsthilfe, eines ZSE, des NAMSE sowie des BMG konsentiert. In der Befragung von insgesamt 70 Vertreter:innen aus 24 ZSE (A- und B‑Zentren) und 42 Primärversorgenden wurde das Schema dann angewandt.

Befragung an Best-Practice-Standorten.

Auf Basis der Ergebnisse der Bestandsaufnahme wurden die Best-Practice-Standorte ausgewählt. In die Befragung wurden an 3 Standorten sowie über Patient:innenorganisationen insgesamt n = 299 Betroffene (n = 176 Patient:innen; n = 123 Eltern minderjähriger Patient:innen) einbezogen. 65 % der Befragten sind weiblich, das durchschnittliche Alter liegt bei 45 Jahren. Fast alle Betroffenen haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Ein Großteil der Befragten ist verheiratet und kann der sozialen Mittel- und Oberschicht zugeordnet werden. 76 % der Patient:innen bzw. der Kinder haben eine gesicherte Diagnose einer SE erhalten.

Ergänzend stellten die qualitativen Daten von n = 50 Betroffenen (n = 38 Patient:innen; n = 12 Eltern) und n = 26 Primärversorgenden in den Auswertungen eine zentrale Grundlage für die Empfehlungen dar.

Synthese der Ergebnisse.

Auf Basis der Ergebnisse aus der Bestandsaufnahme und der Betroffenen- und Primärversorgendenbefragung wurden durch das Projektteam die relevanten Aspekte für das Schnittstellenmanagement geprüft und ergänzt. Darüber hinaus wurde auf Basis der Beurteilungen durch die Betroffenen und Primärversorgenden abgeleitet, welche Schnittstellenlösungen funktionieren, welche Faktoren dies beeinflussen und welche Lösungs- und Verbesserungsmöglichkeiten bereits umgesetzt werden bzw. umgesetzt werden sollten. Darauf basierend wurde ein erster Entwurf möglicher Empfehlungen durch das Projektteam erstellt. Der Entwurf wurde auf dem abschließenden Expert:innen-Workshop (digital) vorgestellt, an dem 4 Vertreter:innen der ZSE, 4 Vertreter:innen von Patient:innenorganisationen (inkl. ACHSE e. V.) und 2 Vertreter:innen des NAMSE teilnahmen. Eine Vertreterin des BMG nahm als nicht stimmberechtigter Gast am Workshop teil. Auf Basis von Rückmeldungen im Workshop wurden die Empfehlungen überarbeitet und schließlich in einer schriftlichen Feedback- und Konsensrunde finalisiert.

Abgeleitete Empfehlungen für ein gelungenes Schnittstellenmanagement

Die im Projekt entwickelten und abschließend abgeleiteten und konsentierten Empfehlungen für ein gelungenes Schnittstellenmanagement beziehen sich auf verschiedene in der Versorgung auftretende Schnittstellen. Insgesamt wurden 8 Empfehlungen zur Vernetzung zwischen Primärversorgung und ZSE und 5 Empfehlungen zu Schnittstellen innerhalb der ZSE sowie 6 Empfehlungen zu Schnittstellen zwischen ZSE und Patient:innen abgeleitet. Darüber hinaus wurden 4 Empfehlungen zur Steigerung der Bekanntheit von Seltenen Erkrankungen, ZSE-Strukturen und Zuständigkeiten und 5 weiterführende Empfehlungen für das Schnittstellenmanagement abgeleitet (Tab. 1).

Tab. 1 Empfehlungen für ein gelungenes Schnittstellenmanagement in der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen abgeleitet aus den Ergebnissen des Projekts ESE-Best

Diskussion

Vor dem Hintergrund der Herausforderungen in der Diagnostik und Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen, die im Rahmen der Zentrenstruktur wie auch durch wohnortnahe Primärversorgung stattfindet und in der Regel neben der medizinischen Versorgung weiterführende Therapieangebote beinhaltet, sind reibungslose und gut etablierte Abläufe notwendig. Eine funktionierende Schnittstellengestaltung kann dabei essenziell dazu beitragen, a) Diagnosewege zu beschleunigen (u. a. Verdachtsdiagnosen, Befundübermittlung) und b) bei erfolgter Diagnosestellung die Versorgung möglichst so zu gestalten, dass Zusammenarbeit und Informationsweitergabe problemlos und ohne übermäßige Verantwortung aufseiten der Patient:innen möglich ist. Die im NAMSE vorgeschlagene und inzwischen umgesetzte Zentrenstruktur stellt dabei eine wichtige Grundlage dar [12].

Im Rahmen des ESE-Best-Projekts wurden Empfehlungen für die Gestaltung von Schnittstellen abgeleitet. Dies erfolgte auf Basis der aktuellen Versorgungssituation und der praktisch umgesetzten Versorgung in den ZSE und der Primärversorgung. Im Statusbericht zur Umsetzung des NAMSE aus 2019 wird darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse des Projekts ESE-Best in den NAMSE-Prozess zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit zwischen ZSE und Primärversorgenden, insbesondere hinsichtlich der Diagnosestellung, berücksichtigt werden, um Strategien zu entwickeln [32]. Die abgeleiteten Empfehlungen ergänzen die Ergebnisse des Projekts TRANSLATE NAMSE zur Verbesserung des Diagnosewegs durch strukturierte diagnostische Pfade [33, 34].

Durch einen geregelten und direkten Austausch zwischen ZSE und Primärversorgenden zu gemeinsamen Patient:innen können Maßnahmen abgestimmt, die Behandlungsplanung abgesprochen und ggf. doppelte Untersuchungen vermieden werden. Integrierte Versorgungsansätze erfordern in der Regel Ressourcen auf beiden Seiten, können aber möglicherweise im Verlauf der Behandlung zu Zeit- und Kostenersparnissen führen (z. B. durch Verringerung/Verhinderung von Komplikationen oder von zusätzlichen Ärzt:innenbesuchen aufgrund von Verunsicherung; [35]). Inwieweit auch die elektronische Patientenakte (ePA) übergreifend eine Lösung darstellen könnte, wurde im Rahmen des Projekts von verschiedenen Stakeholdern kritisch diskutiert und weiterführende Faktoren für die flächendeckende Umsetzbarkeit benannt (z. B. zeitnahe Einpflegung, Kompatibilität mit unterschiedlichen bestehenden Softwarelösungen).

Auch innerhalb der Zentren können Schnittstellen durch eine zentrale Stelle zur Koordination, durch SOPs und einen geregelten und zeiteffektiven Datentransfer günstig gestaltet werden, um so die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit zwischen den Institutionen eines ZSE zu schaffen.

Insbesondere für Patient:innen mit unklaren Diagnosen, aber auch für diagnostizierte Patient:innen mit fehlender Spezialversorgung kann der Zugang zu einem ZSE wichtig sein. Für den Zugang stellen eine vorhandene Verdachtsdiagnose, die Bekanntheit der ZSE sowie klare, barrierefrei zugängliche Informationen Voraussetzungen dar. Wie bereits im Maßnahmenkatalog des NAMSE dargestellt, können technische Tools Primärversorgende in diesen Aspekten unterstützen [12]. Häufig werden Patient:innenorganisationen als wichtige Instanz beim Zugang zu Spezialist:innen genannt [1]. Es muss aber auch gewährleistet sein, dass Patient:innen, die nicht über eine Patient:innenorganisation informiert werden, zeitnah Informationen bzgl. der Spezialversorgung erhalten.

Während der Durchführung des Projekts ESE-Best und der einzelnen Erhebungsphasen wurden neben den Herausforderungen im Schnittstellenmanagement auch die Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel die Finanzierung der Zentren und damit der Versorgung, thematisiert. In einer aktuellen Studie dazu wird geschlussfolgert, dass die bereits geschaffenen Vergütungsmöglichkeiten nicht ausreichen, um die „Komplexität und den überdurchschnittlichen Versorgungsaufwand Seltener Erkrankungen“ abzubilden [36]. In den Ergebnissen der Studie zeigt sich, dass die unzureichende Vergütungssituation nach Einschätzung von Zentren- und Patientenvertreter:innen die Versorgung negativ beeinflusst. Beispielsweise kann sich Frustration bei den Versorgenden entwickeln oder es fehlen Kapazitäten zum Aufbau von Versorgungsstrukturen. Es ist anzunehmen, dass sich solche Faktoren auch auf die Gestaltung der Schnittstellen auswirken, weil diese in der Regel v. a. von personellen und zeitlichen Ressourcen abhängig ist. Eine solche unzureichende Versorgungssituation kann dazu führen, dass Schnittstellenaufgaben an die Betroffenen übertragen werden. Es ist zu vermuten, dass so insbesondere für Personen mit geringerer Krankheitsmanagement- und Gesundheitskompetenz Nachteile in der Versorgung entstehen.

Bezüglich der abgeleiteten Empfehlungen müssen verschiedene Limitationen berücksichtigt werden. Im Rahmen der Bestandsaufnahme haben sich nur 24 von zu Projektbeginn identifizierten 32 ZSE beteiligt. Die Bestandsaufnahme erfolgte kurz nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Erstfassung der Regelungen der Aufgaben der ZSE [37] und noch vor dem Inkrafttreten der geänderten Regelungen im April 2022 [38]. Möglicherweise hat dies die Teilnahmebereitschaft beeinflusst. Bei der Gewinnung der Betroffenen für die Befragung nahmen nur 3 von 6 ausgewählten Best-Practice-Standorten teil. Die teilnehmenden Betroffenen waren dabei überwiegend einem mittleren und hohen sozioökonomischen Status zuzuordnen. Die Befragung der Primärversorgenden konnte aufgrund von unterschiedlichen Barrieren (u. a. Datenschutz) nicht wie geplant umgesetzt werden. Durch die Freiwilligkeit der Teilnahme an allen Studienphasen liegt ein Selektionseffekt vor. Gleichzeitig konnten durch den Einbezug der Perspektiven der ZSE, der Patient:innen bzw. Eltern sowie der Primärversorgenden bei der Entwicklung der Empfehlungen alle Bereiche der relevanten Schnittstellen adressiert werden. Darüber hinaus ermöglichten die abschließende Diskussion in einem Expert:innen-Workshop sowie die schriftliche Konsensrunde eine Einschätzung der Empfehlungen aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Prozess der Entwicklung der Empfehlungen wurde in Anlehnung an ein Konsensverfahren zur Leitlinienentwicklung durchgeführt, folgte aber, wie auch im Projektplan vorgesehen, einem vereinfachten Vorgehen.

Das Projekt ESE-Best hat mittels einer Bestandsaufnahme der tatsächlich umgesetzten Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen die Best-Practice-Ansätze identifiziert und auf Basis der erkannten Stärken und Schwächen des gelebten Schnittstellenmanagements Empfehlungen entwickelt. Es zeigt sich, dass sich einige Punkte des Beschlusses des G‑BA [37, 38] in den im Projekt entwickelten Empfehlungen wiederfinden. Dies betrifft beispielsweise strukturelle und personelle Anforderungen (z. B. Anlaufstelle mit fester Sprechzeit). Die darüber hinaus formulierten Empfehlungen fokussieren sich auf die Ausgestaltung der Strukturen, aber auch auf übergeordnete Aspekte, die für ein gelungenes Schnittstellenmanagement essenziell sind. Die Empfehlungen können ZSE und relevante Stakeholder unterstützen, die Umsetzung von Schnittstellen zu planen und die dabei wichtigen Aspekte im Blick zu haben. Auf diese Weise kann eine adäquate, patient:innenzentrierte Versorgung erfolgen. Ein Teil der Empfehlungen setzt voraus, dass Primärversorgende vorhandene Informationsstrukturen (z. B. SE-Atlas, Orphanet) und Organisationsstrukturen (z. B. Zentrenstruktur) kennen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass dies nicht vorausgesetzt werden kann [39]. Vor diesem Hintergrund sind Konzepte zur Bekanntmachung der Strukturen und zur Sensibilisierung der Primärversorgenden für Seltene Erkrankungen eine wichtige Ergänzung.

Fazit

Die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen erfordert neben medizinischer Expertise ein gut funktionierendes Schnittstellenmanagement, um Patient:innen, aber auch Primärversorgende und ZSE beim Erkrankungsmanagement sowie bei der Informationsweitergabe zu entlasten. Als wichtige Aspekte von Schnittstellen im Kontext Seltener Erkrankungen wurden die Zusammenarbeit zwischen ZSE und Primärversorgung, Schnittstellen innerhalb der ZSE und die Schnittstelle ZSE und Patient:innen, aber auch die Steigerung der Bekanntheit von SE und weiterführende Aspekte (z. B. Schaffung von Koordinierungs- und Informationsstrukturen) identifiziert. Im Rahmen des Projekts ESE-Best wurden hierzu Empfehlungen abgeleitet, die die Umsetzung einer patient:innenzentrierten Versorgung unterstützen. Es ist dabei zu bedenken, dass zeitliche und personelle Ressourcen sowie organisationale Strukturen die Schnittstellenarbeit im Einzelfall beeinflussen können. Die Umsetzungsempfehlungen können an örtliche Gegebenheiten adaptiert werden.