Einleitung

Deutschland zählte im Jahr 2019 zu den Ländern mit dem weltweit höchsten Pro-Kopf-Alkoholkonsum [1]. Alkoholkonsum ist ein entscheidender und veränderbarer Risikofaktor für eine Vielzahl von Erkrankungen, einschließlich verschiedener Krebs- und kardiovaskulärer Erkrankungen, die einen bedeutsamen Anteil der gesamten Krankheitslast in Deutschland ausmachen [2, 3]. Die Eigenschaft der Veränderbarkeit des Risikofaktors bedeutet, dass die alkoholbedingte Krankheitslast vermeidbar wäre, wenn kein oder weniger Alkohol getrunken würde. Erst kürzlich schätzte eine Modellierungsstudie, dass über einen 30-Jahres-Zeitraum ca. 244.000 alkoholbedingte Krebserkrankungen in Deutschland vermieden werden könnten, wenn die Empfehlungen eines weniger riskanten Konsums (Frauen: < 10 g Reinalkohol pro Tag, Männer: < 20 g Reinalkohol pro Tag) eingehalten würden [4]. Eine Reduzierung des Alkoholkonsums auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist ein explizites Ziel in mehreren internationalen Vereinbarungen, wie beispielsweise dem Globalen Aktionsplan zur Prävention und Kontrolle von nichtübertragbaren Krankheiten 2013–2020 der Weltgesundheitsorganisation (WHO; [5]) sowie den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen (Ziel 3.5 [6]).

Zur Reduzierung der alkoholbedingten Krankheitslast schlägt die WHO verschiedene, evidenzbasierte alkoholpolitische Maßnahmen vor und hebt dabei besonders kosteneffektive und praktikable Maßnahmen (sog. Best Buys) hervor [7]. Diese umfassen die Erhöhung der alkoholspezifischen Verbrauchssteuern, Einschränkungen in der Verfügbarkeit alkoholischer Getränke sowie Einschränkungen oder Verbote von Alkoholwerbung und -marketing [8, 9]. Trotz der umfassenden Studienlage, die den gesundheitlichen Nutzen durch höhere alkoholspezifische Verbrauchssteuern aufzeigt (siehe z. B. [10,11,12]), sind die aktuellen Verkaufspreise für alkoholische Getränke in der Europäischen Union (EU) und insbesondere in Deutschland sehr niedrig [13]. Die zugrunde liegende Steuerstruktur sowie eine Mindeststeuer auf alkoholische Getränke ist durch die EU gesetzlich geregelt, mit dem Ziel die Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke zwischen den Mitgliedstaaten zu harmonisieren [14].

In Deutschland gibt es insgesamt vier Verbrauchssteuern, die die Besteuerung verschiedener alkoholischer Getränke regeln:

  1. 1.

    Die Alkoholsteuer definiert die zu entrichtende Steuer auf Ethylalkohol in Spirituosen und anderen alkoholhaltigen Waren und basiert auf dem Alkoholgehalt des zu versteuernden Produkts [15].

  2. 2.

    Die Biersteuer legt die Verbrauchssteuer von Bier fest, wobei sich die zu entrichtende Steuer durch die Stammwürze und folglich den Alkoholgehalt ergibt [16].

  3. 3.

    Die Verbrauchssteuer für Schaumweine sowie Zwischenerzeugnisse richtet sich nach dem Gesamtvolumen des fertigen Produkts [17]. Eine Verbrauchssteuer auf stillen Wein gibt es in Deutschland nicht.

  4. 4.

    Über die Erhebung einer Sondersteuer auf alkoholhaltige Süßgetränke (Alkopops) definiert das Gesetz eine weitere Verbrauchssteuer [18].

Im europäischen Vergleich hat Deutschland eine der geringsten Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke [19], wodurch Alkohol hierzulande besonders erschwinglich ist [20].

In dieser Publikation schätzen wir, wie sich erhöhte Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke auf die alkoholbedingte Krankheitslast in Deutschland auswirken würden. Dabei vergleichen wir die beobachtete alkoholbedingte Krankheitslast im Jahr 2019 mit 3 hypothetischen Szenarien, in denen die derzeitigen getränkespezifischen Verbrauchssteuern um 20 %, 50 % bzw. 100 % angehoben würden.

Methodik

Die Methode dieser Modellierungsstudie basiert im Wesentlichen auf einer Erweiterung der Studie von Rovira et al. [21]. Nachfolgend werden die wichtigsten Schritte und Annahmen der vorliegenden Arbeit dargestellt.

Alkoholbedingte Erkrankungen und Unfälle

Tab. 1 gibt eine Übersicht über die Erkrankungen und Verletzungen, die in diese Studie einbezogen wurden. Dabei werden solche Diagnosen berücksichtigt, die durch Alkoholkonsum verursacht werden und kurzfristig, das heißt innerhalb eines Jahres, auftreten können (siehe [22]). Folgende alkoholbedingte Krankheitsdiagnosen wurden nicht oder nur teilweise berücksichtigt:

  1. 1.

    Nicht modelliert wurden alkoholbedingte Krebserkrankungen (Diagnosen entsprechend der 10. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, ICD-10: C00–C08, C09–C10, C12–C14, C15, C18–C21, C22, C32, C50), da infolge einer Erhöhung der derzeitigen Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke keine kurzfristigen Veränderungen in der Krankheitsinzidenz bzw. Mortalität zu erwarten sind. Grund hierfür ist eine mittlere Latenzzeit von 10 Jahren zwischen Exposition (Alkoholkonsum) und Krebsentwicklung [23].

  2. 2.

    Da die Wirkung von Alkohol (sowohl protektiv als auch krankheitsfördernd) auf die Inzidenz von ischämischen Herzkrankheiten (ICD-10: I20–25) schwer zu quantifizieren und umstritten ist [24], wird diese Krankheitsgruppe nicht berücksichtigt.

  3. 3.

    Für Infektionskrankheiten (humane Immundefizienzviruskrankheit (HIV), ICD-10: B20–B24; Tuberkulose, ICD-10: A15–A19, B90; sowie für Infekte der unteren Atemwege, ICD-10: J09–22, P23, U04) wurden ausschließlich vermeidbare Krankheitsfälle, jedoch keine vermeidbaren Todesfälle modelliert. Diese Entscheidung wurde getroffen, da sich der unmittelbare Einfluss von Änderungen im Alkoholkonsum bei der Entstehung von Infektionskrankheiten besser quantifizieren lässt als für Todesfälle [25].

  4. 4.

    Es standen keine Daten zur Inzidenz von Hypertonie zur Verfügung, weshalb ausschließlich die vermeidbare alkoholbedingte Mortalität geschätzt wurde.

Tab. 1 Alkoholbezogene Erkrankungen und Verletzungen, die in der Modellierung berücksichtigt wurden. (Basierend auf [36])

Daten zur Krankheitsinzidenz sowie Mortalität (Alter 15+) wurden für das Jahr 2019 der Global-Burden-of-Disease-Studie entnommen [26].

Bestimmung des Referenzszenarios

Als Referenzszenario bezeichnen wir nachfolgend die Besteuerung alkoholischer Getränke im Jahr 2020, also den Anteil der getränkespezifischen Verbrauchssteuern am mittleren Verkaufspreis. Hierfür wurden zunächst die Informationen zu den Verbrauchssteuersätzen sowie der durchschnittlichen Verkaufspreise für 2020 identifiziert. Da weniger als 1 % des registrierten Gesamtalkoholkonsums in Deutschland in Form von anderen Getränken als Bier, Wein und Spirituosen konsumiert wird [27], nahmen wir die Modellierung nur für Bier, Wein und Spirituosen vor. Die Verbrauchssteuer auf Bier beträgt 0,787 € je Grad Plato (Maßeinheit der Stammwürze) pro Hektoliter Bier und für Ethylalkohol (Spirituosen) 1303,00 € je Hektoliter Reinalkohol [14]. Für Bier wurde eine Stammwürze von 12° Plato angenommen und als durchschnittlicher Alkoholgehalt wurde 35 % für Spirituosen gewählt (siehe [28]). Die folgenden durchschnittlichen Verkaufspreise für 2020 wurden ermittelt [13]: Bier (2,43 € je Liter), Wein (7,01 € je Liter) und Spirituosen (16,64 € je Liter). Gemäß den Verbraucherpreisindices haben sich die Verkaufspreise zwischen 2019 und 2020 nur geringfügig verändert [29], weshalb die Verwendung der Daten aus 2020 für das Jahr 2019 zulässig ist. Die folgenden Anteile der Verbrauchssteuern am Verkaufspreis wurden für das Referenzszenario ermittelt: 3,9 % für Bier sowie 31,3 % für Spirituosen. Um trotz fehlender Verbrauchssteuer auf stillen Wein den Einfluss einer hypothetischen Verbrauchssteuererhöhung für Weine zu modellieren, wurde für stillen Wein der gleiche Anteil der Verbrauchssteuer am Produktpreis angenommen wie für Bier (Anteil der Verbrauchssteuer am Verkaufspreis: 3,9 %). Schaumweine, die in Deutschland einer gesonderten Verbrauchssteuer unterliegen [14], wurden nicht berücksichtigt, da der Anteil von Schaumweinen am Pro-Kopf-Weinverbrauch im Jahr 2019 verhältnismäßig gering war (15 %; entspricht weniger als 5 % des Gesamt-Pro-Kopf-Alkoholkonsums [30]).

Schätzung der Auswirkung erhöhter Verbrauchssteuern auf den Alkoholkonsum

Zunächst wurde die Auswirkung erhöhter getränkespezifischer Verbrauchssteuern auf das Kauf- und damit Trinkverhalten der Konsumierenden geschätzt [31]. Hierfür wurde angenommen, dass die Steuererhöhung vollständig auf den Verkaufspreis und damit auf die Konsumierenden übertragen würde. In einer Sensitivitätsanalyse modellierten wir außerdem ein konservatives Alternativszenario, in dem nur 80 % der Steuererhöhung über den Verkaufspreis auf die Konsumierenden übertragen würde. Veränderungen des Kaufverhaltens durch die Erhöhung des Verkaufspreises werden mittels Preiselastizitäten bestimmt, die Veränderungen im Kaufverhalten bei einer Verdopplung des Verkaufspreises beschreiben. Die Preiselastizität eines Produkts ist dabei von der Getränkepräferenz abhängig, wobei die Preiselastizität für bevorzugte Produkte geringer ist [32, 33]. Entsprechend der Anteile des Bier‑, Wein- bzw. Spirituosenkonsums am jährlichen Pro-Kopf-Konsum von Alkohol in Deutschland [1] wurden die folgenden Werte genutzt: −0,36 (95 % Konfidenzintervall [KI]: −0,48, −0,24) für Bier, −0,60 (95 % KI: −0,72, −0,48) für Wein sowie −1,20 (95 % KI: −1,44, −0,96) für Spirituosen (basierend auf [32, 33]). Da die Impulskontrolle hinsichtlich der Menge des Alkoholkonsums bei Personen mit hohem Alkoholkonsum oder Alkoholabhängigkeit eingeschränkt sein kann (zur Definition: [34]; Überblick der empirischen Studien zur Preiselastizität: [35]), wurde für Personen mit besonders hohem Alkoholkonsum (Frauen: > 40 g Reinalkohol pro Tag, Männer: > 60 g Reinalkohol pro Tag) eine getränketypunabhängige, niedrigere Preiselastizität von −0,28 (95 % KI: −0,37, −0,19) berücksichtigt [35].

Expositionsdaten zum Alkoholkonsum in Deutschland wurden für das Jahr 2019 aus einer internationalen Modellierungsstudie entnommen (durchschnittlicher registrierter Pro-Kopf-Konsum für 2019: 10,9 l Reinalkohol; [1]). Auf Empfehlung der WHO Technical Advisory Group on Alcohol and Drug Epidemiology wurden, wie in den meisten solcher Analysen (z. B. [36]), nur 80 % des Pro-Kopf-Konsums verwendet, um für nicht getrunkenen Alkohol (z. B. Restbestände in Flaschen, zerbrochene Flaschen und verschütteten Alkohol) sowie für die Unterschätzung des Alkoholkonsums in medizinisch-epidemiologischen Studien zur Risikoermittlung zu korrigieren [37].

Schätzung vermeidbarer alkoholbedingter Krankheits- und Todesfälle

Anschließend wurde der Effekt des reduzierten Alkoholkonsums für die 3 Szenarien der Verbrauchssteuererhöhung auf die Inzidenz bzw. Mortalität der in Tab. 1 gelisteten alkoholbedingten Erkrankungen und Verletzungen berechnet. Hierfür wurden die alkoholattributablen Fraktionen je Erkrankung bzw. Verletzung nach Alter und Geschlecht für jedes Szenario mittels der geschlechter- und krankheitsspezifischen Risikofunktion berechnet und mit den Inzidenzen bzw. Mortalitätsfällen multipliziert. Die daraus resultierenden alkoholattributablen Inzidenzen bzw. Mortalitätsfälle wurden anschließend mit dem Referenzszenario verglichen.

Es wurden 2 Sonderfälle in der Modellierung berücksichtigt:

  1. 1.

    Neben dem Gesamtalkoholkonsum sind alkoholbedingte Verletzungen und Unfälle mit Rauschtrinkepisoden (Trinkgelegenheiten, in denen mehr als 60 g Reinalkohol konsumiert werden) assoziiert [2, 36]. Aus diesem Grund wurde zur Schätzung vermeidbarer alkoholbedingter Verletzungen und Unfälle nicht nur der Pro-Kopf-Konsum, sondern ebenfalls die Prävalenz von Rauschtrinkepisoden einbezogen. Hierfür wurde angenommen, dass nach Erhöhung der Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke die Prävalenz von Rauschtrinkepisoden proportional zum Pro-Kopf-Konsum zurückgeht.

  2. 2.

    Die alkoholattributable Fraktion für Erkrankungen, die vollständig auf den Konsum von Alkohol zurückzuführen sind, beträgt unabhängig vom Modellierungsszenario stets 100 %. Die Anzahl vermeidbarer Erkrankungsfälle bzw. Todesfälle wurde deshalb über die Differenz in den absoluten Krankheits- bzw. Todesfällen je Szenario geschätzt (basierend auf [38]). Eine detaillierte Beschreibung der Modellierung ist im Onlinematerial 1 verfügbar.

Die Risikofunktionen, die den krankheitsspezifischen Zusammenhang zwischen Exposition und Erkrankung bzw. Verletzung beschreiben, stammen aus einer Publikation von Shield et al. [36]. Konfidenzintervalle wurden mittels Monte-Carlo-Simulation (1000 Iterationen) geschätzt [39].

Ergebnisse

Unter Berücksichtigung der in die Modellierung einbezogenen Diagnosen gab es im Jahr 2019 10,9 Mio. (95 % KI: 10.574.732–11.274.436) inzidente Krankheitsfälle sowie knapp 174.903 (95 % KI: 166.422–183.390) Todesfälle in Deutschland, bei denen der Konsum von Alkohol eine mögliche Ursache darstellte (alkoholbezogene Krankheits- bzw. Todesfälle). Dies entspricht ca. 3,0 % aller inzidenten Krankheitsfälle bzw. 18,3 % aller Todesfälle. Dabei ist zu beachten, dass in unserer Modellierungsstudie nicht alle Erkrankungen berücksichtigt wurden, die mit Alkohol in Bezug stehen. Circa ein Viertel dieser alkoholbezogenen Krankheits- und Todesfälle waren auf den Konsum von Alkohol zurückzuführen (alkoholbedingte Inzidenz: 2.906.428, 95 % KI: 2.228.037–3.537.265; alkoholbedingte Mortalität: 41.235, 95 % KI: 38.125–45.085). Unfälle und Verletzungen machten dabei mit einer alkoholbedingten Inzidenz von knapp 1,7 Mio. (95 % KI: 1.062.814–2.289.701) Fällen den größten Anteil aus, gefolgt von ca. 880.000 (95 % KI: 811.229–964.687) Fällen von Alkoholabhängigkeit, 240.000 (95 % KI: 51.907–426.130) Infektionskrankheiten, 51.500 (95 % KI: 48.592–55.860) Neuerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, 25.700 (95 % KI: 20.955–30.615) Fällen von Leberzirrhose und Pankreatitis sowie 8250 (95 % KI: 6001–10.743) Fällen von Epilepsie. Eine Übersicht über Inzidenzen und Mortalität der berücksichtigten Erkrankungen und Verletzungen sind im Onlinematerial 2 verfügbar.

Die vermeidbaren inzidenten Erkrankungs- sowie Todesfälle für die jeweiligen Szenarien der Verbrauchssteuererhöhungen sind in Tab. 2 dargestellt (für eine vollständige Übersicht, siehe Onlinematerial 3). Entsprechend den 3 Szenarien hätten 40.150 (95 % KI: 33.305–48.749), 100.300 (95 % KI: 83.227–121.959) bzw. 200.400 (95 % KI: 166.228–244.150) neue alkoholbedingte Erkrankungs- und Verletzungsfälle sowie 560 (95 % KI: 472–701), 1400 (95 % KI: 1179–1742) bzw. 2800 (95 % KI: 2347–3471) Todesfälle vermieden werden können, wenn die derzeitigen Alkoholsteuern um jeweils 20 %, 50 % oder 100 % erhöht worden wären. Unter Berücksichtigung aller alkoholbedingten Erkrankungen sowie Verletzungen könnten durch eine Verdopplung der Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke in Deutschland schätzungsweise 6,9 % der alkoholbedingten inzidenten Krankheitsfälle und 6,7 % der Todesfälle vermieden werden (Tab. 2). Unter der Annahme, die Mehrkosten einer Steuererhöhung übertrugen sich vollständig auf die Konsumierenden, würde eine Verdopplung der Alkoholsteuern zu einer absoluten Preissteigerung von 10 Cent je Liter Bier und 5,21 € je Liter Spirituosen führen. Für Wein würde der Preis je Liter um 27 Cent steigen, wobei im Referenzszenario für Wein die gleiche Verbrauchssteuer wie für Bier angenommen wurde (siehe Methodik).

Tab. 2 Vermeidbare alkoholbedingte Neuerkrankungen und Verletzungen sowie Todesfälle für die 3 Szenarien einer Verbrauchssteuererhöhung (um 20 %, 50 % oder 100 %) auf alkoholische Getränke in Deutschland (2019)

Gemäß den Ergebnissen der Sensitivitätsanalyse, in der angenommen wurde, dass nur 80 % der Mehrkosten einer Steuererhöhung auf die Konsumierenden übertragen werden würden, hätten bei einer Verdopplung der Verbrauchssteuern bis zu 139.000 (95 % KI: 115.549–171.137) alkoholbedingte Erkrankungs- und Verletzungsfälle sowie 1900 (95 % KI: 1647–2398) Todesfälle vermieden werden können (siehe Onlinematerial 4). Dies entspricht 4,8 % (95 % KI: 0,0–5,9 %) der alkoholbedingten inzidenten Krankheitsfälle bzw. 4,7 % (95 % KI: 0,0–5,9 %) der alkoholbedingten Todesfälle.

Abb. 1 veranschaulicht die prozentuale Verteilung der potenziell vermeidbaren Krankheits- sowie Todesfälle je Diagnose bei einer Verbrauchssteuererhöhung von 100 %. Alkoholabhängigkeit stellt den größten Anteil an potenziell vermeidbaren, inzidenten Krankheitsfällen dar (54,3 %). Alkoholbedingte Verletzungen und Unfälle waren für ca. ein Drittel der potenziell vermeidbaren Krankheitsfälle verantwortlich (35,9 %), wohingegen die verbleibenden Krankheitskategorien nur etwa einem Zehntel entsprachen. Die meisten Todesfälle hätten bei Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems vermieden werden können (47,0 %), gefolgt von Alkoholabhängigkeit (27,5 %), Leberzirrhosen und Pankreatitis (12,8 %) sowie Verletzungen und Unfällen (11,8 %). Knapp 1 % der vermeidbaren Todesfälle ließen sich auf Epilepsie zurückführen.

Abb. 1
figure 1

Anteile vermeidbarer alkoholbedingter Krankheits- sowie Todesfälle nach Krankheitskategorie im Szenario einer Alkoholsteuererhöhung um 100 %. HIV humane Immundefizienzviruskrankheit, 100 % AB: Erkrankungen sind zu 100 % alkoholbedingt, d. h. vollständig auf Alkohol zurückführbar (Eigene Abbildung)

Diskussion

Der Konsum von Alkohol ist ein bedeutsamer veränderbarer Risikofaktor für die Krankheitslast in Deutschland. Die Ergebnisse unserer Modellierungsstudie zeigen, dass durch eine Verdoppelung der derzeitigen spezifischen Verbrauchssteuern auf Bier, Wein und Spirituosen die alkoholbedingte Krankheitslast in Deutschland substanziell reduziert werden könnte. Demnach hätten 2019 mehr als 200.000 oder 6,9 % der alkoholbedingten inzidenten Krankheits- und Verletzungsfälle sowie 2800 oder 6,7 % der alkoholbedingten Todesfälle vermieden werden können. Diese Zahlen berücksichtigen dabei nicht die potenziell vermiedenen Krebserkrankungen sowie Todesfälle (für Schätzungen vermeidbarer alkoholbedingter Krebserkrankungen in Deutschland, siehe [4, 40]) oder die durch Alkohol verursachten Todesfälle bei Infektionskrankheiten, die erst nach längerer Latenzzeit auftreten. Eine Verdopplung der derzeitigen getränkespezifischen Verbrauchssteuern, die einen bedeutenden Beitrag zur Reduzierung der alkoholbedingten Krankheitslast leisten kann, würde die Verkaufspreise für Bier um nur etwa 4 % und für Spirituosen um ca. 30 % erhöhen.

Die Ergebnisse unserer Modellierungsstudie veranschaulichen das bisher ungenutzte Potenzial erhöhter Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke in Deutschland für eine Reduzierung der alkoholbedingten Krankheitslast. Darüber hinaus spielen höhere Verbrauchssteuern ebenfalls eine wichtige Rolle für den Bundeshaushalt. Die jährlichen volkswirtschaftlichen Kosten des riskanten Alkoholkonsums in Deutschland werden auf ca. 39,3 Mrd. € geschätzt [41]. Den hohen ökonomischen sowie gesellschaftlichen Kosten von Alkohol steht dabei eine liberale Alkoholpolitik gegenüber, in der evidenzbasierte Empfehlungen der WHO zur Reduzierung der alkoholbedingten Krankheitslast nur unzureichend berücksichtigt werden. Erst 2020 veröffentlichte die WHO Empfehlungen zur Umsetzung effektiver Besteuerungen von Alkohol [11], von denen wesentliche Elemente derzeit keine Beachtung im deutschen Alkoholsteuersystem finden. Hierzu zählt unter anderem eine inflationsgebundene Besteuerung von Alkohol, wodurch bei steigender Inflation eine effektive Preiserhöhung aufgrund der Alkoholsteuern beibehalten wird (siehe [42]). Ferner sollten die Verbrauchssteuern auf dem Alkoholgehalt des jeweiligen alkoholischen Getränks basieren. In einer WHO-Publikation wurde geschätzt, dass in Deutschland ca. 19 % aller alkoholbedingten Todesfälle vermieden werden könnten, wenn es einen Mindeststeueranteil von 15 % auf den Einzelhandelspreis gäbe und der Preis pro Einheit Alkohol sich nicht nach Getränkeart unterscheiden würde [43]. In diesem Szenario würden insbesondere die Verbrauchssteuern auf Bier und Wein substanziell steigen, weshalb diese Schätzungen deutlich höher ausfallen als in unserer Studie.

Neben der Besteuerung von Alkohol gibt es weitere kosteneffektive Maßnahmen, die zu einer Reduktion des Alkoholkonsums sowie der alkoholbedingten Krankheitslast beitragen können. So kann beispielsweise ein Mindestpreis auf alkoholische Getränke bzw. ein Mindestpreis pro Einheit Alkohol zu einer bedeutsamen Reduktion des Pro-Kopf-Konsums sowie der alkoholbedingten Krankheitslast führen [11, 44]. Die Einführung eines Mindestpreises pro Einheit Alkohol (ca. 60 Cent pro 8 g Reinalkohol) in Schottland 2018 und Wales 2020 bedingte dort jeweils einen Rückgang von Alkoholkäufen um etwa 8 % im Jahr 2020 [45].

Limitationen

Um die vermeidbare alkoholbedingte Krankheitslast in den verschiedenen Szenarien zu schätzen, wurden Annahmen zu den Modellparametern getroffen. Diese Annahmen ermöglichten die Modellierung potenziell vermeidbarer Krankheits- und Todesfälle, schränken allerdings die Interpretation und Generalisierbarkeit der Ergebnisse ein. Unser Modell berücksichtigt alters- und geschlechtsspezifische Informationen zum Alkoholkonsum und zur alkoholbedingten Krankheitslast, wohingegen die Verteilung der Getränkepräferenz sowie Preiselastizitäten über diese Gruppen hinweg als gleich angenommen wurden. Während eine kürzlich veröffentlichte Modellierungsstudie keine Hinweise auf substanzielle Geschlechterunterschiede in Bezug auf Preiselastizitäten fand [46], unterscheidet sich die Getränkepräferenz zwischen Frauen und Männern, was angesichts getränkespezifischer Preiselastizitäten wiederum Auswirkungen auf den geschätzten verringerten Alkoholkonsum und damit auf die resultierende vermeidbare Krankheitsinzidenz sowie Mortalität haben kann. Weiterhin wurden sogenannte Kreuzelastizitäten zwischen alkoholischen Getränken sowie zwischen diesen und anderen Substanzen nicht berücksichtigt, da aus den vorliegenden Studien nicht eindeutig erkennbar ist, inwiefern eine Preiserhöhung eines Getränks mit der Veränderung der Konsumnachfrage anderer Getränke oder Substanzen einhergeht [47].

Eine weitere Annahme war, dass die Veränderungen der Verbrauchssteuern vollständig auf die Konsumierenden übertragen werden. Darüber hinaus wurden nur 3 Getränketypen modelliert und Schaumweine, die in Deutschland einer gesonderten Verbrauchssteuer unterliegen [17], nicht getrennt von stillen Weinen berücksichtigt. Die Qualität der in der Modellierung berücksichtigten Alkoholkonsumdaten schätzen wir insgesamt als gut ein, da der registrierte Alkoholkonsum größtenteils durch Steuerdaten ermittelt wird [1]. Lediglich die Berücksichtigung von geschlechts- und altersspezifischen Daten des Alkoholkonsums kann zu Verzerrungen führen, da diese mittels Umfragedaten geschätzt werden, welche den Pro-Kopf-Konsum in der Regel substanziell unterschätzen [48]. Dies würde die Ergebnisse jedoch nur dann beeinflussen, wenn diese Untererfassung systematisch zwischen den Alters- und Geschlechtergruppen variieren würde.

Fazit

In kaum einem anderen europäischen Land wird so viel Alkohol konsumiert wie in Deutschland, was zu einer erheblichen alkoholbedingten Krankheitslast führt. Unsere Modellierungsstudie hat gezeigt, dass kurzfristig einer von 15 alkoholbedingten Erkrankungs- sowie Todesfällen potenziell vermieden werden könnte, wenn die derzeitigen Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke verdoppelt würden. Alkoholbedingte Erkrankungen sind vermeidbar und eine sinnvolle Besteuerung alkoholischer Getränke erscheint als eine hierfür geeignete Maßnahme, wie unsere sowie weitere Studien gezeigt haben [4, 10, 12, 21, 40, 43, 49]. Verbrauchssteuern auf alkoholische Getränke sollten als Gesundheitssteuer verstanden werden und ihre Etablierung insbesondere in Deutschland eine Priorität für die öffentliche Gesundheit sein.