Einleitung

Der Bedarf aktueller Daten zur psychischen Gesundheit der Bevölkerung ist in der COVID-19-Pandemie außerordentlich deutlich geworden [1, 2]. Aufgrund der großen Häufigkeit und Krankheitslast psychischer Störungen sowie der Potenziale der Förderung psychischer Gesundheit stellen diese Daten auch außerhalb von Krisen ein zentrales Feld der Gesundheitsberichterstattung dar. Da eine solche jedoch in vielen Ländern noch nicht systematisch aufgebaut ist, fordert der Mental Health Action Plan der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Einrichtung nationaler Informationssysteme zur psychischen Gesundheit auf [3].

Im Jahr 2019 hat das Robert Koch-Institut (RKI) in Orientierung an internationalen Beispielen mit dem Aufbau einer „Mental Health Surveillance“ (MHS) für Deutschland begonnen [4]. Der Surveillance-Ansatz umfasst die kontinuierliche Erhebung, Analyse und Interpretation sowie Berichterstattung von Daten als Grundlage einer evidenzbasierten Planung und Evaluation von Public-Health-Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Bevölkerungsgesundheit [5]. Für die Mental Health Surveillance in Deutschland trafen Expertinnen und Experten bzw. Stakeholder von Public Mental Health im Zuge eines systematischen Konsentierungsprozesses eine Auswahl von Indikatoren, die hoch relevante Aspekte der gesundheitlichen Lage abbilden [6], darunter neben vollendeten Suiziden auch Suizidversuche. Suizidversuche werden, im Vergleich zu anderen suizidalen Verhaltensweisen wie Suizidgedanken oder -plänen als stärkster Prädiktor vollendeter Suizide eingeschätzt [7, 8]. Daher kommt der Informationssammlung zur Häufigkeit und Verteilung von Suizidversuchen in der Bevölkerung eine zentrale Rolle in der Suizidprävention zu, wie auch deren Ernennung zu einem der Europäischen Gesundheitsindikatoren (European Core Health Indicators; [9]) belegt. Während Angaben zu vollendeten Suiziden aus der Todesursachenstatistik gewonnen werden können [10], steht zur Surveillance von Suizidversuchen bisher keine etablierte Datenquelle zur Verfügung.

Erfassung und Häufigkeit von Suizidversuchen und psychiatrischen Notfällen

Um die Häufigkeit von Suizidversuchen in einer Bevölkerung zu schätzen, werden sowohl selbstberichtete Angaben von Suizidversuchen in repräsentativen Befragungsstudien erhoben als auch Routinedaten der Dokumentation medizinischer Behandlungen von Suizidversuchen herangezogen [8, 11]. Für Deutschland wird die Lebenszeitprävalenz von Suizidversuchen auf Basis eines repräsentativen Surveys (Erhebungszeitraum 2009–2012) auf 3,3 % geschätzt [12].

Wenn Teilnehmende in Befragungsstudien einen Suizidversuch berichten, kann dessen Angabe gegenüber anderen Datenquellen als vergleichsweise valide betrachtet werden. Allerdings ist die Durchführung von Befragungen insbesondere bei seltenen Ereignissen ressourcenintensiv und zur Erfassung kontinuierlicher Zeitreihen weniger geeignet. Zugleich ist von einer Unterschätzung der tatsächlichen Anzahl in der Bevölkerung auszugehen, da Personen einerseits nicht bereit sein könnten, einen Suizidversuch auch tatsächlich in der Befragung zu berichten (Reporting-Bias) und andererseits besonders hoch belastete Personen weniger bereit sind, an Studien teilzunehmen (Selection-Bias) [13].

Vorteile bieten demgegenüber Schätzungen der Anzahl von Suizidversuchen auf Basis der Routinedokumentation des Gesundheitssystems. Diese werden im Versorgungsalltag generiert und eignen sich bei strukturierter Erhebung für eine datensparsame und aufwandsschonende Mental Health Surveillance. Bei Verfügbarkeit der Daten in Echtzeit ist eine stetige und zeitnahe Detektion von zeitlichen Veränderungen unterschiedlicher Gesundheitsoutcomes möglich [14]. Routinedaten der medizinischen Versorgung, insbesondere von Notaufnahmen, werden bereits von einigen Ländern zur Surveillance von Suizidversuchen genutzt [11, 15] und ihre Nutzung wird von der WHO explizit empfohlen [16]. In Deutschland liegen aus Sekundärdatenanalysen einzelner Kliniken bereits erste Befunde für einzelne Berichtsjahre vor. Dabei wird die Gesamtzahl psychiatrischer Notfälle in Notaufnahmen pro Jahr auf ca. 1,5 Mio. geschätzt [17] sowie eine Prävalenz von 5–9 % angegeben [18,19,20,21].

Ein psychiatrischer Notfall wird definiert als ein medizinischer Zustand, bei dem das Vorliegen einer psychischen Störung zu einer gesundheitlichen Schädigung des Betroffenen und/oder einer Drittperson führt, sodass eine unmittelbare Diagnostik und Behandlung erforderlich ist [22]. Suizidale Verhaltensweisen werden zu deren häufigsten Ursachen gezählt [17, 18]. Entsprechend wird der Anteil von Suizidversuchen an allen psychiatrischen Notfällen in vorliegenden Studien mit 6–28 % angegeben [19, 21]. Während die Alters- und Geschlechterverteilung für Suizidversuche in Notaufnahmen bisher nicht beschrieben wurde, zeigt sich für psychiatrische Notfälle ein erhöhter Anteil an Männern (bis zu 62 %) und ein Durchschnittsalter von 40 bis 43 Jahren [18, 20, 21].

Insgesamt zeigt sich der Forschungsstand zu Suizidversuchen inkonsistent und lückenhaft sowie schwer über die Zeit vergleichbar aufgrund von Abweichungen in Falldefinitionen, Beobachtungszeiträumen und berichteten Kennwerten, welche z. T. ausschließlich in Bezug zur übergeordneten Gruppe der psychiatrischen Notfälle gemacht werden. Die Entwicklung einer systematischen und flächendeckenden Erfassung von Suizidversuchen bzw. psychiatrischen Notfällen auf Basis von Notaufnahmedaten wird daher explizit gefordert [17, 19]. Zu deren Entwicklung sollten Suizidversuche auf Basis von Notaufnahmedaten zunächst als Teilgruppe psychiatrischer Notfälle betrachtet werden, da so eine bessere Einordnung in die bisher vorliegende Literatur erfolgen und die Eignung der Datenquelle präziser eingeschätzt werden kann.

Seit 2018 pilotiert das RKI ein System zur Verarbeitung und Analyse von Routinedaten aus Notaufnahmen [23]. Zur Identifizierung spezifischer Surveillance-Indikatoren werden sogenannte Syndromdefinitionen genutzt. Als Syndrome werden die Sammlung von Symptomen oder klinischen Angaben und deren Zusammenführung in Kategorien bezeichnet [24]. Da Routinedaten nicht primär für Forschungszwecke erhoben werden, können mithilfe dieser Syndromdefinitionen jene Informationen aus der Notaufnahmedokumentation abgeleitet werden, welche für die Surveillance eines abgrenzbaren Anwendungsfalles benötigt werden [14]. Die Validität von Syndromdefinitionen determiniert als Basis der syndromischen Surveillance maßgeblich deren Nutzbarkeit bzw. Fähigkeit, Fälle mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erkennen. Bisher wurden in diesem Rahmen Syndromdefinitionen für die Surveillance spezifischer übertragbarer Krankheiten wie gastrointestinaler Infektionen [25] und akuter Atemwegserkrankungen [26] entwickelt.

Syndromdefinitionen für psychiatrische Notfälle und Suizidversuche in Notaufnahmedaten

Internationale Arbeiten fokussieren die Validierung von Syndromdefinitionen zur Abbildung diverser Anwendungsfälle psychischer Gesundheit, ohne jedoch den Prozess der Entwicklung detailliert darzustellen [24, 27, 28], sodass keinem standardisierten Vorgehen zur Erstellung von Syndromdefinitionen gefolgt werden kann. Zur Prüfung der Nutzbarkeit der am RKI verfügbaren Daten aus Notaufnahmen zum Zweck der Mental Health Surveillance von Suizidversuchen und psychiatrischen Notfällen ist es daher in einem ersten Schritt nötig, Syndromdefinitionen strukturiert zu entwickeln und dabei relevante Informationsquellen und vorhandene Codierungssysteme aus Deutschland einzubeziehen.

Ein Ziel der Arbeit ist die deskriptive Exploration und Auswertung von Syndromdefinitionen für die Surveillance von psychiatrischen Notfällen und Suizidversuchen. Durch den Vergleich mit der Literatur z. B. in Bezug auf die Häufigkeit von Fällen oder Fallcharakteristika soll weiterhin eine erste Einschätzung über die Aussagekraft der Syndromdefinitionen getroffen werden. Ihr Einsatz zum Zweck von Mental Health Surveillance wird in Bezug auf Stärken und Limitationen sowie weiteren Forschungsbedarf diskutiert.

Methoden

Setting und Studienpopulation

Für die vorliegende Arbeit wurden Daten aus der Routinedokumentation von Notaufnahmen genutzt, welche am ESEG-Projekt (Erkennung und Sicherung Epidemischer Gefahrenlagen; [29]) bzw. am AKTIN-Notaufnahmeregister [30] teilnehmen.

Als Einschlusskriterium wurde die Vollständigkeit der Daten mit lückenloser Erhebung für den gesamten Studienzeitraum berücksichtigt. Zusätzlich mussten in den Notaufnahmen entweder Diagnosen oder Vorstellungsgründe erhoben werden. Die Dokumentation in Notaufnahmen folgt in Deutschland keinem verpflichtenden Standard. Es sind mehrere Berufsgruppen (Pflege- und ärztliches Personal, Controlling) daran beteiligt und relevante Informationen liegen meist in unterschiedlichen Softwaresystemen vor [31]. Zur einrichtungsübergreifenden Auswertung wurden strukturiert vorliegende Daten aus ESEG und AKTIN zunächst in ein einheitliches, standardisiertes Format, entsprechend dem Notaufnahme-Kerndatenmodell (NoKeDa; [32]) überführt. Ein Datenpunkt im Datensatz entspricht einer Vorstellung in einer Notaufnahme. Wiederkehrende Notaufnahmevorstellungen von ein und derselben Person können nicht zugeordnet werden.

Folgende Variablen wurden berücksichtigt: Vorstellungsdatum (in Kalenderwochen und Monaten), Alter (in Altersgruppen), Geschlecht (männlich, weiblich), Dringlichkeit nach Manchester-Triage-System (MTS; [33]) oder dem Emergency Severity Index [34], Diagnose (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10th Revision, ICD-10-Code als 4‑Steller; [35]) und Zusatzkennzeichen zur Diagnosesicherheit sowie Vorstellungsgrund nach MTS (besteht grundsätzlich aus der Variable MTS-Präsentation zur Eingrenzung des Beschwerdebildes und der Variable MTS-Indikator zur Spezifizierung des Symptoms) oder gemäß „Presenting Complaint List“ des Canadian Emergency Department Information System (CEDIS-PCL; [36, 37]). Während für die Dringlichkeit und den Vorstellungsgrund nach MTS und CEDIS-PCL jeweils nur ein Wert pro Notaufnahmevorstellung vergeben werden kann, ist bei der Diagnose die Vergabe von mehreren Werten erlaubt.

Ethik und Datenschutz

Die im NoKeDa-Datenmodell vorgegebene Granularität der Daten ermöglicht eine anonymisierte Übermittlung an das RKI. Im Rahmen des ESEG-Projekts wurde ein positives Datenschutzvotum vom Datenschutzbeauftragten des RKI und vom Datenschutzbeauftragten des Landes Hessen eingeholt. Das Ethik-Komitee der Ärztekammer Hessen entschied, dass aufgrund der anonymisierten Natur der Daten kein Ethikvotum notwendig sei. Das AKTIN-Notaufnahmeregister erhielt ein positives Ethikvotum der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (160/15).

Alle Notaufnahmen, die die Einschlusskriterien erfüllten, wurden um explizite Zustimmung zur Nutzung ihrer Daten für die Mental Health Surveillance gebeten. Die Nutzung der Daten aus dem AKTIN-Notaufnahmeregister wurde durch das wissenschaftliche Gremium genehmigt (Projekt-ID 2021-003). In diesem Rahmen wurde die in NoKeDa vorgesehene Granularität der Daten weiter vergröbert, um eine mögliche Reidentifizierung der Patientinnen und Patienten vollständig auszuschließen und deren besonderem Schutzbedarf Rechnung zu tragen.

Syndromdefinition

Die vergebenen Diagnosen (inkl. Zusatzkennzeichen) und Vorstellungsgründe aus den Notaufnahmedaten wurden auf Werte durchsucht, die nach Einschätzung eines interdisziplinären Teams der Fächer Epidemiologie und Psychologie bei Hinweisen auf Suizidalität, auf einen psychiatrischen Notfall oder dem Vorliegen einer psychischen Symptomatik vergeben werden könnten. Zur Orientierung bei der Auswahl dienten ebenfalls deutsche Veröffentlichungen zur Erfassung von Suizidversuchen oder psychiatrischen Notfällen im Setting der Notaufnahme [18, 20, 21]. Zusätzlich wurden 5 eingeladene Notaufnahmeleiterinnen und -leiter zur Dokumentationspraxis bei psychiatrischen Notfällen und Suizidversuchen befragt.

Alle ausgewählten Werte wurden anschließend in Syndromdefinitionen zusammengeführt. Die Identifikation einer Notaufnahmevorstellung als Fall erfolgte, sofern mindestens einer der in Tab. 1 für die Variablen MTS-Präsentation/MTS-Indikator oder CEDIS-PCL oder ICD-10-Diagnose aufgelisteten Werte vorlag.

Tab. 1 Für die Syndromdefinitionen Suizidversuche, psychiatrische Notfälle und psychische Symptomatik ausgewählte Variablen für MTS-Präsentation und Indikator, CEDIS-PCL und ICD-10-Diagnose

Deskriptive Auswertungen

Jene durch die Syndromdefinitionen erkannten Fälle wurden deskriptiv, stratifiziert nach Alter, Geschlecht und Dringlichkeit ausgewertet. Um die Fälle differenzierter zu charakterisieren und die interne Konsistenz einzuschätzen, wurden die 5 am häufigsten vergebenen Werte für die Variablen Diagnose und Vorstellungsgrund dargestellt.

Die Datenanalyse erfolgte mithilfe der Statistiksoftware R (Version 3.6.1) [38] und des Pakets tidyverse [39].

Ergebnisse

Für den Zeitraum von 01.01.2018 bis 28.03.2021 wurde eine finale Studienpopulation von 1.516.883 Notaufnahmevorstellungen aus 12 Notaufnahmen inkludiert. Für alle erfassten Vorstellungen lagen jeweils Angaben zu Alter und Geschlecht vor. Informationen zur Dringlichkeit lagen für 89,3 % der Vorstellungen vor. 53,9 % der Fälle erhielten mindestens eine Diagnose, die Datenvollständigkeit für den Vorstellungsgrund lag bei 88,5 %.

Zur Identifikation von relevanten Fällen wurden 3 Syndromdefinitionen gebildet: Suizidversuche, psychiatrische Notfälle und psychische Symptomatik (Tab. 1). Die Syndromdefinition psychische Symptomatik beinhaltet alle Werte, die bereits zur Abbildung psychiatrischer Notfälle verwendet wurden, und jene, die als zu unspezifisch zur Abbildung psychiatrischer Notfälle galten. Dazu gehören bspw. die Diagnosecodes der Gruppen T36–50 und R44–R46, deren Einschluss aufgrund der Literatur erfolgte und durch die Befragung der Notaufnahmeleitenden bestätigt wurde. In der Gruppe der psychiatrischen Notfälle sind wiederum alle Werte der Syndromdefinition für Suizidversuche miteingeschlossen.

Unter Anwendung der Syndromdefinition Suizidversuche wurden 5133 Patientinnen und Patienten (0,3 % aller Notaufnahmevorstellungen) identifiziert (Tab. 2). 31.085 (2,1 %) Notaufnahmevorstellungen wurden als psychiatrische Notfälle klassifiziert und insgesamt 34.230 (2,3 %) Vorstellungen entsprachen den Kriterien der psychischen Symptomatik. Somit wurden 16,5 % der psychiatrischen Notfälle als Suizidversuch klassifiziert. Während 53,4 % aller Fälle von Suizidversuchen Männer betrafen, lag deren Anteil mit 58,9 % bei psychiatrischen Notfällen und 58,2 % bei psychischer Symptomatik höher. In der Gruppe der Suizidversuche wurden die meisten Fälle mit einer Dringlichkeitsstufe von 2 („sehr dringend“) codiert (24,8 %), während die Dringlichkeitsstufe 3 („dringend“) mit 25,9 % und 26,8 % bei den psychiatrischen Notfällen und der psychischen Symptomatik am häufigsten dokumentiert wurde. Insgesamt waren 45,9 % der Notaufnahmevorstellungen aufgrund eines Suizidversuches jünger als 35 Jahre und 48,9 % der psychiatrischen Notfälle wurden mit einem Alter zwischen 25 und 54 Jahren vorstellig (Tab. 2). Der relative Anteil weiblicher Fälle an Suizidversuchen ist im Jugendalter (15–19 Jahre) mit 5,8 % fast doppelt so hoch wie der Anteil männlicher Fälle (3,0 %) (Abb. 1).

Tab. 2 Charakteristika der Notaufnahmevorstellungen aus den 12 ausgewählten Notaufnahmen zwischen 01.01.2018 und 28.03.2021, stratifiziert nach Syndromdefinitionen
Abb. 1
figure 1

Eigene Darstellung: Verteilung der durch Syndromdefinition Suizidversuche erkannten Fälle nach Geschlecht und Altersgruppen

Die am häufigsten vergebene Diagnose innerhalb der Gruppe Suizidversuche war R45.8 („Sonstige Symptome, die die Stimmung betreffen – inkl. Suizidalität, Suizidgedanken“) mit einem Anteil von 12,9 % an allen vergebenen Diagnosen in dieser Gruppe (Tab. 3). Weitere 12,0 % der Diagnosen waren mit Alkohol assoziiert (F10.0 – „Akute Intoxikation“ und F10.2 – „Abhängigkeitssyndrom“). Für 66,0 % der Patientinnen und Patienten in der Gruppe Suizidversuche wurde der CEDIS-Vorstellungsgrund „Depression/Suizidalität/absichtliche Selbstschädigung“ vergeben, während in Notaufnahmen, die MTS nutzen, 64,0 % der Suizidversuche über die Variable „Selbstverletzung“ erfasst wurden. Am zweithäufigsten wurde entsprechend für 27,7 % der Suizidversuche „Einnahme einer Überdosierung“ (CEDIS-PCL) und für 24,7 % „Überdosierung und Vergiftung“ (MTS) als Vorstellungsgrund eingetragen. Die 3 häufigsten vergebenen MTS-Indikatoren für Suizidversuche waren „Unstillbare kleine Blutung“, „Hohes Risiko (künftiger) Eigengefährdung“ und „Mäßiges Risiko (künftiger) Eigengefährdung“.

Tab. 3 Die 5 jeweils häufigsten Diagnosen und Vorstellungsgründe in der Gruppe der Suizidversuche (N = 5133) und deren Anzahl, sowie deren relativer Anteil an allen angegebenen ICD-10-Diagnosen (N = 4899)a, CEDIS-PCL-Codes (N = 4221), MTS-Präsentationen (N = 873) und MTS-Indikatoren (N = 797)

Insgesamt wurden für Suizidversuche anteilig an den gesamten Notaufnahmevorstellungen pro Monat zwischen 0,2 % und 0,4 % Fälle erkannt. Für psychiatrische Notfälle und psychische Symptomatik bewegten sich Fälle anteilig zwischen 1,4 % und 2,2 % bzw. zwischen 1,5 % und 2,4 % (Ergebnisse nicht dargestellt).

Diskussion

In der vorliegenden Arbeit wurden erstmalig Syndromdefinitionen für eine Mental Health Surveillance mit Notaufnahmedaten in Deutschland für die Indikatoren psychiatrische Notfälle, Suizidversuche und psychische Symptomatik erstellt und exploriert. Dabei konnte die prinzipielle Durchführbarkeit einer syndromischen Surveillance von psychiatrischen Notfällen und Suizidversuchen aufzeigt werden.

Der Anteil der psychiatrischen Notfälle an allen Notaufnahmevorstellungen fiel in der vorliegenden Arbeit mit 2,1 % geringer aus als in anderen Arbeiten, die diesen auf 5–9 % schätzten [18, 20, 21]. Der Anteil von Suizidversuchen an allen Notaufnahmevorstellungen lag in der vorliegenden Analyse bei 0,3 %. Während ein Bevölkerungssurvey der WHO aus dem Jahr 2013 eine 12-Monats-Prävalenz von 0,3 % berichtete [8], ermittelte eine Befragung in 74 deutschen Notaufnahmen einen Anteil der Suizidversuche von 2 % [19] und liegt damit über dem hier identifizierten Anteil. Wie hoch der Anteil von Suizidversuchen an der übergeordneten Gruppe psychiatrischer Notfälle ist, wird in anderen Arbeiten sowohl höher als auch geringer eingeschätzt. So wurden in der vorliegenden Analyse 16,5 % der psychiatrischen Notfälle als Suizidversuche identifiziert, während bei Kropp et al. [18] für 6 % und bei Freudenmann et al. [20] für 20 % (im Jahr 2000) bzw. 28 % (im Jahr 2010) der psychiatrischen Notfälle ein Suizidversuch als Vorstellungsgrund angegeben wurde.

Die Altersverteilung zeigte sich in Übereinstimmung mit der Literatur, in der ein Durchschnittsalter von 44 Jahren [18] und 39 Jahren [21] für psychiatrische Notfälle berichtet wurde. 20,9 % der psychiatrischen Notfälle waren unter 25 Jahren alt, was mit dem Befund von Kirchner et al. [21] zu ambulant verbliebenen psychiatrischen Notfällen übereinstimmt.

Eine Geschlechterverteilung von 58,9 % Männern und 41,1 % Frauen für psychiatrische Notfälle in der Notaufnahme wurde ermittelt, welche unterschiedlich zu den Verteilungen in den anderen Arbeiten mit 52 % Männern und 48 % Frauen [18] sowie 49 % Männer und 51 % Frauen [21] ausfielen.

In der Gruppe der Suizidversuche entfallen 12,0 % aller vergebenen Diagnosen auf alkoholbezogene Codierungen (F10.0 + F10.2), deren Relevanz im Setting der Notaufnahme in anderen Arbeiten ebenfalls aufgezeigt wurde [18].

Durch die Syndromdefinition der psychischen Symptomatik konnten nur 3145 (0,2 %) mehr Fälle gegenüber den psychiatrischen Notfällen identifiziert werden. Daher kann nicht von einer hinreichenden Trennschärfe dieser Differenzierung ausgegangen werden.

Zusammenfassend zeigen sich Suizidversuche als bedeutsamer und häufiger Vorstellungsgrund innerhalb der psychiatrischen Notfälle mit hier niedrigerer Anzahl identifizierter Fälle im Vergleich zu anderen Arbeiten. Die Verteilung psychiatrischer Notfälle über die Altersgruppen (gesamt und nach Geschlecht) stimmt weitgehend mit der Literatur überein. Abweichungen finden sich lediglich in den Geschlechteranteilen in Bezug auf alle Vorstellungen. Zudem konnte die Relevanz alkoholassoziierter Diagnosen für Suizidversuche im Setting der Notaufnahme repliziert werden. Bei der Interpretation und Einordnung gegenüber der Literatur ist zu beachten, dass Abweichungen auch durch den Einbezug der Daten mehrerer Kliniken in der vorliegenden Arbeit bei Vergleich mit Angaben aus meist nur einer Klinik in der Literatur sowie in der Auswahl eines anderen Beobachtungszeitraums begründet sein können.

Die Syndromdefinitionen können kontinuierlich Fälle abbilden und somit die Beschreibung von Veränderungen und Trends zum Zweck einer Surveillance ermöglichen. Dabei können Schwankungen der Fallzahlen im Zeitverlauf unterschiedlichste Ursachen haben, deren differenzierte Untersuchung über die Zielsetzung der vorliegenden Publikation hinausgeht. Besonders dringlich erscheinen in diesem Kontext die Analysen von Entwicklungen der Fallzahlen und Patientencharakteristika vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie, die nachweislich zu starken Veränderungen im Versorgungsgeschehen der Notaufnahmen geführt hat [40, 41]. Ob und wie stark auch psychiatrische Notfälle davon betroffen sind, wird in bislang vorliegenden Arbeiten unterschiedlich eingeschätzt [42,43,44,45].

Stärken und Limitationen

In Bezug auf die genutzte Datenquelle ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu beachten, dass nur 12 Notaufnahmen eingeschlossen wurden. Deren Auswahl basierte auf freiwilliger Teilnahme [30] und ist somit ggf. nicht repräsentativ für alle Notaufnahmen in Deutschland. Zusätzlich ist das Notaufnahmekollektiv als Ganzes nicht repräsentativ für die deutsche Allgemeinbevölkerung (bspw. in Bezug auf die Altersstruktur und durch die Erfassung von Notaufnahmevorstellungen anstatt von Personen).

Bei der Beurteilung der Validität der Routinedaten in Hinblick auf die Abbildung des klinischen Geschehens ergeben sich außerdem folgende Limitationen: Die Dokumentation kann durch strukturelle Gegebenheiten in der Notaufnahme beeinflusst sein, was z. B. zu fehlenden Werten oder einer unvollständigen Datenübermittlung führen kann. Jegliche Änderung in der Dokumentationspraxis kann die Datenqualität beeinflussen und muss als Ursache veränderter Fallzahlen über die Zeit in Betracht gezogen werden [31]. Im Datenmodell NoKeDa ist zudem bisher nur die Nutzung von strukturierten Angaben vorgesehen, Informationen in Form von Freitextangaben (z. B. in der Anamnese) können nicht genutzt werden. Da Diagnosen und Vorstellungründe nicht für 100 % der Notaufnahmevorstellungen vorliegen, variiert die Wahrscheinlichkeit der Identifikation von Fällen je nach Vollständigkeit der beiden Variablen.

Zu einer möglichen Überschätzung von Suizidversuchen kann beitragen, dass schwere Selbstverletzungen (engl.: „self-harm“) als Suizidversuch gewertet wurden, auch wenn über die eingeschlossenen Codes ein suizidales Motiv nicht abgeleitet werden kann, da diese die Intentionalität nicht spezifizieren. Diese Schwierigkeit in der Datengrundlage ist bekannt [8] und wird z. B. im irischen Surveillance-System durch die Bezeichnung als Self-harm Registry reflektiert [46]. In Anlehnung an die dort getroffene Definition werden auch hier Handlungen von Selbstverletzungen mit variierend starker suizidaler Intention eingeschlossen. Nach Aussage einzelner Notaufnahmeleitenden werden Suizidversuche häufig mit der unspezifischen Diagnose R45.8 („Sonstige Symptome, die die Stimmung betreffen – inkl. Suizidalität, Suizidgedanken“) dokumentiert, wobei dieser Code Suizidalität nicht auf Suizidversuche eingrenzt. Möglicherweise erklärt dies die vergleichsweise hohe Anzahl von Suizidversuchen in der Altersgruppe 0–9 Jahre. Die Ergebnisse zur Dringlichkeit der hier identifizierten Fälle weisen allerdings darauf hin, dass es sich um gravierende Selbstverletzungen oder Suizidalität handelt. Zudem sind diese auch im Kindesalter nicht gänzlich auszuschließen [47, 48].

Weiterhin wurde im Rahmen des Austausches mit Klinikerinnen und Klinikern aus der Notaufnahme von einer eher zurückhaltenden Vergabe von Diagnosen psychischer und Verhaltensstörungen berichtet, da die Behandelnden mögliche negative Konsequenzen der dokumentierten „F-Diagnose“ (ICD-10 F00–F99 = Psychische und Verhaltensstörungen) für die Patientinnen und Patienten vermeiden wollten. Derartige Fehlklassifikationen müssen vor dem Hintergrund der Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit psychischen Störungen verstanden werden. Sie stellen eine allgemeine Schwierigkeit bei der Etablierung einer Mental Health Surveillance dar [49].

Da die Dokumentation in der Notaufnahme häufig auf die Erfassung der Verletzung und weniger auf die Ursache der Hauptbeschwerde fokussiert, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass psychische Störungen in der Notaufnahme nicht vollständig erfasst oder unterschätzt werden [50], zumal davon Betroffene vorwiegend nur dann vorstellig werden, wenn begleitende somatische Beschwerden auftreten. Auch für den Indikator der Suizidversuche ist anzunehmen, dass dessen Häufigkeit in der Bevölkerung höher liegt als im Setting Notaufnahme, da nur ein gewisser Teil der Suizidversuche zu Verletzungen führt, die medizinisch versorgt werden müssen. Auf der anderen Seite kann es vorkommen, dass ein Fall in der Notaufnahme noch als Suizidversuch gezählt wird, anschließend aber im stationären Setting verstirbt [8]. Zur Überschätzung der Fallzahlen kann außerdem beitragen, dass aufgrund der anonymen Datenstruktur in dieser Auswertung die Vorstellungen und nicht die Personen gezählt werden. Dabei ist bekannt, dass Personen mit psychischen und Verhaltensstörungen wiederholt vorstellig werden, insbesondere bei alkoholassoziierten Problemlagen [51]. Primäres Ziel der Notaufnahme-Surveillance ist demnach nicht die Identifikation von Indikatoren auf Einzelfallebene zur Darstellung von sektoren- oder bevölkerungsbezogenen Prävalenzen, sondern vordergründig die Beschreibung von zeitlichen Veränderungen in der Notaufnahme.

Forschungsbedarf und Ausblick

Die Optimierung der Syndromdefinitionen durch weitere Validierungsstrategien am Beispiel internationaler Evaluierungsstudien [24, 27, 28] und unter Verwendung weiterer Datenquellen als Referenzwert (z. B. aus Rettungsdienst oder stationärer Behandlung) kann eine Unter- oder Überschätzung der identifizierten Fälle innerhalb der Notaufnahmepopulation verringern. Um die Vergleichbarkeit mit anderen Datenquellen zu verbessern, sollten die Analysen auf Kliniken beschränkt werden, die für alle Notaufnahmevorstellungen vollständige Daten liefern. Grundsätzlich könnten auch vertiefte Kenntnisse des Codierungsprozesses in Notaufnahmen zu einer Weiterentwicklung der Syndromdefinitionen (z. B. bzgl. des Einschlusses relevanter Variablen) beitragen. Der Einschluss weiterer Notaufnahmen in die Mental Health Surveillance kann die Repräsentativität der Daten stärken und eine umfassendere bzw. verlässlichere Abbildung der Indikatoren unterstützten.

Zum Zweck der Mental Health Surveillance erlauben die entwickelten Syndromdefinitionen die Abbildung von Suizidversuchen und psychiatrischen Notfällen in Echtzeit aus mehreren interdisziplinären Notaufnahmen in Deutschland. So können zeitliche Veränderungen in Echtzeit in mehreren Kliniken beobachtet werden. Diese systematische und kontinuierliche Erfassung von Indikationsbereichen der psychischen Gesundheit trägt insofern zu einer Erweiterung der derzeitigen Forschungsmöglichkeiten bei. Damit ist die Grundlage für den Auf- und Ausbau einer Surveillance gelegt und kann als Ausgangspunkt für vertiefende Untersuchungen von Trends dienen.

Sofern die Daten zur stetigen Beobachtung und differenzierten Analyse zeitlicher Veränderungen von Suizidversuchen genutzt werden, können Präventions- bzw. Interventionsbedarfe in spezifischen Personengruppen identifiziert oder auch mögliche Effekte von Maßnahmen abgebildet werden. Auf dieser Basis könnte z. B. ein Beitrag zur Evidenzbasierung des nationalen Suizidpräventionsprogramms [52] geleistet und damit im besten Fall langfristig die Krankheitslast durch Suizidversuche sowie Sterblichkeit an Suiziden verringert werden.