Insgesamt war das COVID-19-Infektionsgeschehen in Deutschland durch unterschiedliche Phasen geprägt, die durch 2 unterschiedlich schwer verlaufende COVID-19-Wellen im Frühjahr und Herbst und einer Sommerplateauphase mit eher milden Verläufen charakterisiert waren.
Der erste laborbestätigte Fall mit einer SARS-CoV-2-Infektion wurde in Deutschland in MW 5/2020 übermittelt [1, 13, 14]. Innerhalb der folgenden Wochen wurden weitere Fälle mit einer Exposition im Ausland bekannt. Darunter befanden sich aus China repatriierte Personen [14, 15], aber auch Einreisende aus Urlaubsgebieten (u. a. Skigebiete in Italien und Österreich; [16, 17]). Sie spielten zum Teil eine tragende Rolle für das Infektionsgeschehen auf regionaler Ebene [16], was den vergleichsweise hohen Anteil importierter Fälle zu Beginn der Pandemie erklärt. Mitte Februar folgten Ausbrüche in Zusammenhang mit lokalen Feiern (z. B. Karneval), die zu erhöhten Fallzahlen in einzelnen Kreisen führten (u. a. LK Heinsberg, LK Tirschenreuth; [15, 16, 18, 19]) und den Beginn der ersten COVID-19-Welle einleiteten.
In der Phase 1 waren alle Bundesländer betroffen, wobei lokale Feiern und die Nähe zu Grenzregionen mit einem erhöhten Infektionsgeschehen eine wichtige Rolle für regionale Ausbreitung spielten [14, 20]. Ausbruchsgeschehen traten nun auch vermehrt in stationären Einrichtungen auf. Laut Buda et al. sind stationäre Ausbruchssettings mit einer höheren Anzahl an Fällen assoziiert [8], was sich auch im zunehmenden Anteil an Fällen höheren Alters in Phase 1 widerspiegelte.
Mit dem Ende der ersten Welle begann die Phase 2, in der alle Bundesländer nur sehr niedrige Inzidenzen meldeten. Insgesamt gab es in Phase 2 nur wenige Vorgaben für kontaktreduzierende Maßnahmen. Dagegen wurden jedoch zusätzliche, niedrigschwellige und kostenlose Testmöglichkeiten für aus dem Ausland Einreisende ab KW 31/2020 geschaffen, welche erst mit dem Ende der Sommerferien in allen Bundesländern in KW 38/2020 für Einreisende aus Nichtrisikogebieten eingestellt wurden [21]. Die zunehmende Reisetätigkeit in den Sommermonaten und die zunehmend zur Verfügung stehenden Testmöglichkeiten spiegelten sich u. a. im Anstieg von Fällen mit einer wahrscheinlichen Exposition im Ausland und der Anzahl an Ausbrüchen im Freizeitbereich wider. Im Vergleich zu den anderen Phasen wurde in Phase 2 der jüngste Altersmedian (33 Jahre) unter den übermittelten COVID-19-Fällen verzeichnet. Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass diese reiseassoziierten Fälle vergleichsweise jünger waren und durch die sensitive Teststrategie an den Flughäfen im Sommer (im Vergleich zur Phase 0) auch (ebenfalls vermehrt junge) asymptomatische Fälle erkannt wurden [22]. Auch die großen Ausbrüche in Betrieben mit überwiegend jungen Beschäftigten (u. a. in Fleisch verarbeitenden Betrieben, wie bspw. in Gütersloh, oder unter Erntehelfern, wie bspw. im Kreis Dingolfing-Landau) trugen hierzu bei [14, 23, 24].
Die Phase 3 war insbesondere geprägt durch autochthone Fälle sowie eine sechsmal höhere Anzahl an Ausbrüchen im Wochenmittel als in der ersten Welle. Wurden zu Beginn der Phase eher Fälle unter 60 Jahren diagnostiziert, nahmen im weiteren Verlauf mit der Anzahl an Ausbrüchen in stationären Einrichtungen auch die Fälle unter älteren Personen und damit auch unter Personen mit hohem Risiko für einen schweren Verlauf zu. Der hohe Anteil an unbekannten Expositionsorten und Ausbruchssettings spricht zudem für ein zunehmend diffuses Infektionsgeschehen, in dem Infektionsketten nur noch unzureichend ermittelt werden konnten.
Mit Blick auf die Krankheitsverläufe war der Anteil hospitalisierter Fälle mit 32 % in Phase 0 am höchsten. Jedoch wurden in dieser Phase bestätigte COVID-19-Fälle zum Zweck der Beobachtung im Krankenhaus isoliert, daher spiegelt die hohe Hospitalisierungsquote hier eher eine infektionshygienische Maßnahme wider [11]. Dieses Vorgehen änderte sich zunehmend mit dem Anstieg der Fallzahlen und der steigenden Belastung der Krankenhauskapazitäten während der ersten Welle. Der im Vergleich zur zweiten Welle höhere Anteil schwerer und kritischer Fälle kann jedoch nur zum Teil auf die niedrigschwellige Hospitalisierung von COVID-19-Fällen zurückgeführt werden. Vielmehr ist von multiplen Einflüssen auszugehen.
Dabei ist beispielsweise die veränderte Teststrategie zu berücksichtigen. Zu Beginn der Phase 1 befanden sich die Testkapazitäten noch im Auf- bzw. Ausbau [4, 25, 26]. Mit der Einführung von Reihentestungen (z. B. am Flughafen ab KW 31/2020) und der Verfügbarkeit von Antigenschnelltests in Krankenhäusern und Alten- und Pflegeheimen ab KW 42/2020 (Phase 3) wurden in Deutschland jedoch auch Fälle mit nur geringer Symptomatik (mit und ohne schweren Verlauf) in den Meldedaten gemäß IfSG besser erfasst. Dagegen wurden in der syndromischen Krankenhaus-Surveillance ICOSARI in allen Phasen nur schwer erkrankte COVID-19-Fälle mit respiratorischer Symptomatik (SARI) betrachtet. Damit sind in diesem System stabilere Aussagen zum Anteil kritischer Verläufe in den verschiedenen Phasen möglich, unabhängig von der gewählten Teststrategie und den Empfehlungen zur niedrigschwelligen Krankenhausaufnahme.
Dennoch zeigte sich auch im ICOSARI-System ein etwas höherer Anteil intensivpflichtiger und beatmeter COVID-SARI-Fälle, was mit Erfahrungen aus europäischen Ländern und den USA übereinstimmt [27]. Dies wird insbesondere auf verbesserte Behandlungskonzepte u. a. durch eine verstärkte Nutzung nichtmechanischer Beatmung in späteren Phasen (insbesondere Phase 3) zurückgeführt [28,29,30]. Zudem wurde in Deutschland während der zweiten Welle ein System zur Verlegung von intensivmedizinisch behandelten Patienten etabliert, um die Überlastung einzelner Krankenhäuser zu vermeiden (Kleeblattsystem; [31]). Dies zeigte sich im ICOSARI-System in der kürzeren Hospitalisierungsdauer von beatmeten COVID-SARI-Patienten mit einer späteren Verlegung. Ergänzend zu diesen Punkten haben möglichweise auch die ab KW 53/2020 eingeführten Impfungen im Abklingen der zweiten Welle zu einer verringerten Krankheitsschwere in der Altersgruppe ab 80 Jahren beigetragen [32].
Die Altersverteilung bei kritischen Krankheitsverläufen blieb in den Phasen 1 bis 3 weitestgehend stabil. Während vor allem COVID-SARI-Fälle der Altersgruppe 60 bis 79 Jahre intensivmedizinisch behandelt oder beatmet wurden, war der Anteil verstorbener COVID-SARI-Fälle in der Altersgruppe ab 80 Jahre besonders hoch. Jedoch wurde deutlich, dass auch jüngere Altersgruppen von kritischen Verläufen betroffen waren: So wurde aus der Altersgruppe 35 bis 59 Jahre während der ersten und zweiten Welle jeder 3. hospitalisierte COVID-SARI-Patient intensivmedizinisch behandelt, jeder 5. wurde mechanisch beatmet und etwa jeder 20. COVID-SARI-Patient der Altersgruppe 35 bis 59 Jahre verstarb während des Krankenhausaufenthalts.
Insgesamt decken sich die Ergebnisse zur Altersverteilung mit den ersten Auswertungen zur Krankheitsschwere im Meldesystem bzw. unter hospitalisierten COVID-SARI-Fällen sowie mit Analysen im internationalen Vergleich [4, 11, 33,34,35,36]. So stellten auch Ioannidis et al. bei der Untersuchung von COVID-19-Todesfällen in Europa und den USA fest, dass sich die Altersverteilungen der ersten und zweiten COVID-19-Welle kaum unterschieden und Alter ein wesentlicher Risikofaktor für einen schweren Verlauf ist [34].
Unabhängig von den Phasen wurden weibliche und männliche Fälle in ähnlichem Umfang übermittelt. Insgesamt waren jedoch männliche Fälle häufiger von schweren Verläufen betroffen, was sich insbesondere unter den intensivpflichtigen und den beatmungspflichtigen COVID-SARI-Fällen im Krankenhaus-Sentinel ICOSARI widerspiegelte. Dies wird zum Teil auf geschlechtsspezifische Alterungsprozesse im Immunsystem zurückgeführt, auch wenn hier noch weitere Analysen erforderlich sind [37].
Limitationen
Die vorliegende Auswertung basiert auf der Bewertung von Surveillance-Daten und unterliegt damit einigen Limitationen. Wie bereits vielfach beschrieben sind die Meldungen gemäß IfSG abhängig von den zugrunde liegenden Kapazitäten in Laboren, Gesundheitsämtern und Landesgesundheitsbehörden [2, 4] und damit anfällig für Verzögerungen. Durch den gewählten Datenstand (11.05.2021) wurde versucht, den Einfluss von Nachmeldungen – insbesondere zu schwer erkrankten Fällen – zu reduzieren. Darüber hinaus hängen die Meldungen gemäß IfSG auch von der Inanspruchnahme der Testmöglichkeiten durch die Bevölkerung und der in Deutschland angewendeten Teststrategie ab. Dennoch deutet der bereits zu Beginn relativ hohe Anteil milder Fälle auf eine sensitive Teststrategie und eine gute Erfassung des Gesamtgeschehens im Meldesystem hin [4, 25, 26].
Ausbruchssettings sind durch die Gesundheitsämter teilweise schwer zu erheben. Vollständigkeit und Qualität hängen zum einen von verfügbaren Kapazitäten für Ermittlungstätigkeiten vor Ort ab. Zum anderen ist es für Erkrankte aufgrund der zum Teil eher unspezifischen Symptomatik und eines möglicherweise schleichenden Beginns der Erkrankung nicht immer möglich, im Nachhinein den wahrscheinlichen Zeitpunkt der Infektion anzugeben [8]. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass insbesondere leicht zu ermittelnde Settings, wie bspw. der private Haushalt, aufgrund besserer Nachverfolgbarkeit häufiger ermittelt wurden. Bei der Erfassung in der Meldesoftware kann zudem nur zwischen vorgegebenen Kategorien ausgewählt werden. So fallen z. B. Ausbrüche in Fleisch verarbeitenden Betrieben unter das Setting Arbeitsplatz [8].
Im Rahmen der syndromischen Krankenhaus-Surveillance wurde eine etablierte SARI-Falldefinition durch ICD-10-Codes für eine laborbestätigte COVID-19-Erkrankung ergänzt [5, 6]. Zwar wurden im Frühling 2020 COVID-19-Fälle möglicherweise noch untererfasst. Aufgrund der bereits zu Beginn insgesamt gezielten Testung von schweren Fällen mit respiratorischer Symptomatik und des ab Juli systematischen Screenings von Neuaufnahmen in den ICOSARI-Krankenhäusern ist hier jedoch von einer eher guten Erfassung in ICOSARI auszugehen. Der Fokus auf ausschließlich COVID-19-Fälle mit einer schweren respiratorischen Symptomatik lässt zwar keine Aussagen zu Fällen ohne respiratorische Symptomatik zu. Im Gegensatz zu Meldungen gemäß IfSG erfolgt die Erfassung in ICOSARI jedoch unabhängig von der bundesweiten Teststrategie [2] und deckt sich daher gut mit den Ergebnissen anderer Analysen zu hospitalisierten COVID-19-Fällen und schweren Verläufen in Deutschland [28, 33, 38]. Darüber hinaus kann es jedoch bei hoher regionaler Belastung des Gesundheitssystems – insbesondere während der Phase 3 – durch die Festlegung von Schwerpunktkliniken und innerdeutschen Verlegungen (Kleeblattkonzept) zu einer Verzerrung der Anzahl an COVID-19-Patienten im ICOSARI-System gekommen sein [31].
Mit dem Abklingen der zweiten Welle zu Beginn des Jahres 2021 stieg der Anteil der besorgniserregenden Virusvariante (Variant of Concern, VOC) B.1.1.7 in Deutschland, lag aber bis zur KW 8/2021 noch unter 50 % [39]. Es ist davon auszugehen, dass der Einfluss der VOC im Jahr 2020 eine untergeordnete Rolle spielte. Nicht ganz ausgeschlossen werden kann aber ein Einfluss auf einzelne Stadt- und Landkreise in Sachsen, die in Phase 3 eine hohe Inzidenz aufwiesen. Diese lagen vor allem an der Grenze zur Tschechischen Republik, in der am Ende das Jahres 2020 bereits eine erhöhte Zirkulation von VOC (insbesondere B.1.1.7) vermutet wurde.