Die hier vorgestellten Analysen zeigen, dass es Unterschiede im zeitlichen Verlauf der COVID-19-Pandemie zwischen den Kreisen in Deutschland gibt und dass diese Unterschiede mit sozioökonomischen Merkmalen dieser Kreise korrelieren. Diese explorative Studie ist weltweit eine der ersten, die über einen längeren Zeitraum die Entwicklung von regionalen Infektionszahlen in Beziehung zu sozioökonomischen Faktoren gesetzt hat. Die Ergebnisse fügen sich jedoch in die in der Einleitung zitierten bisherigen Studienergebnisse aus verschiedenen Ländern ein und bestätigen sozial differenzielle regionale Muster in der Ausbreitung von SARS-CoV‑2 einerseits und zeitliche sowie indikatorenspezifische Abweichungen andererseits.
Eine Erklärung für die gefundenen Ausbreitungsmuster ist allein auf Basis der gezeigten korrelativen Daten nicht möglich. Auch in der Literatur finden sich nur wenige direkte Untersuchungen zu möglichen Mechanismen, die zwischen regionalen sozioökonomischen Merkmalen und Infektionsrisiken vermitteln. Wahrscheinlich ist, dass die gefundenen Zusammenhänge sowohl durch individuelle Risiken der Bewohnerinnen und Bewohner bestimmter Regionen (kompositionelle Effekte) als auch durch kontextuelle Eigenschaften (kontextuelle Effekte) dieser Regionen erklärt werden. Bislang gibt es nur wenige Studien mit Individualdaten, die zudem teilweise dieselben Daten aus einer Untersuchung im Vereinigten Königreich verwendet haben (UK-Biobank-Studie). Sie betrachteten individuelle soziale Unterschiede in der Inzidenz oder der Wahrscheinlichkeit eines positiven Ergebnisses eines COVID-19-Tests [3, 26, 38,39,40,41]. Alle Studien fanden höhere Inzidenzen oder Testpositivraten bei Menschen mit niedrigerem SEP, sodass kompositionelle Effekte plausibel erscheinen, sofern Menschen mit niedrigem SEP auch gehäuft in Regionen mit niedrigem SEP auf der regionalen Ebene wohnen. Auch kontextuelle Faktoren könnten eine Rolle spielen, zu nennen ist beispielsweise die Wohnqualität, die Organisation des öffentlichen Personennahverkehrs, aber auch regionale Maßnahmen des Infektionsschutzes.
Im Folgenden möchten wir kurz beschreiben, was bislang über diese Mechanismen bekannt ist. Eine strikte Trennung zwischen Kontext und Komposition bzw. regionalen und individuellen Ungleichheiten nehmen wir dabei nicht vor, sondern orientieren uns an einem der wenigen theoretischen Modelle zur Erklärung sozialer Ungleichheiten bei Infektionskrankheiten. Das Modell von Quinn und Kumar greift zwar auf Erfahrungen früherer Pandemien zurück, bietet aber eine Systematik an, die auch bei COVID-19 hilfreich ist [8]. Die Autorinnen differenzieren vor allem 2 Prozesse: sozioökonomische Unterschiede in a) der Expositionswahrscheinlichkeit und b) in der Suszeptibilität für eine Infektion.
Die Expositionswahrscheinlichkeit wird bei einer Erkrankung, die vor allem im Kontakt von Mensch zu Mensch übertragen wird, durch die Anzahl, Frequenz und Dichte der sozialen Kontakte, individuelle Schutzmaßnahmen (z. B. Tragen von Masken, Hygieneverhalten) sowie Eigenschaften der Orte, an denen Kontakte stattfinden (z. B. Innenräume), bestimmt. Die sozioökonomische Position hat bekanntermaßen einen Einfluss auf diese Größen [8, 42]. Quinn und Kumar führen in diesem Zusammenhang Unterschiede in der Bevölkerungsdichte, Unterschiede im Zugang zu Basishygiene (Wasser, sanitäre Anlagen) und arbeitsbezogene Kontakte als Hauptpfade an. Alle 3 Pfade könnten auch bei SARS-CoV‑2 eine Rolle spielen.
Zunächst ist bekannt, dass die Wohnsituation sowohl innerhalb der eigenen Wohnung als auch im näheren Umfeld um die Wohnung mit ökonomischen Ressourcen zusammenhängt und dass ärmere Menschen häufiger in beengten Wohnverhältnissen und in Gegenden mit hoher Einwohnerdichte wohnen [42]. Zugleich sind dies Faktoren, die mit dem Infektionsgeschehen assoziiert sind: Eine hohe Einwohnerdichte in Nachbarschaften und beengte Wohnverhältnisse in den Haushalten scheinen das Infektionsrisiko mit SARS-CoV‑2 signifikant zu erhöhen [2, 43, 44], so wie es auch in dieser Analyse gefunden wurde. Ebenso gibt es Hinweise darauf, dass bauliche Unterschiede zwischen ärmeren und reicheren Gegenden bestehen und dass Einrichtungen des täglichen Lebens (z. B. Supermärkte, Restaurants) in ärmeren Stadtvierteln weniger Fläche pro Besucher haben, was das Abstandhalten („physical distancing“) erschwert [27].
Der zweite Erklärungspfad dürfte in der gegenwärtigen Situation in Deutschland einen geringeren Einfluss haben, da der Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Anlagen weitgehend gegeben sein dürfte. Ausnahme ist die Situation wohnungsloser Menschen und möglicherweise auch derjenigen, die in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften leben. Legt man diesen Aspekt jedoch weiter aus als im ursprünglichen Modell und zählt hierzu auch die Verfügbarkeit von Material zum persönlichen Infektionsschutz, wie z. B. Masken mit hoher Schutzwirkung oder Desinfektionsmittel, so könnte ein geringeres Einkommen diese Verfügbarkeit durchaus einschränken, was wiederum höhere Expositionsrisiken bedeuten könnte.
Der Beruf ist ein Lebensbereich, in dem eine Vielzahl sozialer Kontakte stattfindet. Naturgemäß sind in einer Pandemie Berufsgruppen mit direktem Kontakt zu Patienten:innen, Kunden:innen, Klienten:innen oder Kollegen:innen gefährdeter als Berufsgruppen, die physische Distanz halten können [45]. Allerdings ist der Zusammenhang mit der sozioökonomischen Position komplex und nicht immer eindeutig gerichtet. Zwar ist bekannt, dass Berufe mit einer hohen sozialen Kontaktrate oft auch schlechter entlohnt werden (z. B. Altenpflege, Gastronomie, einfache Produktionsberufe; [7]), allerdings ist dies nicht durchgängig so (z. B. Ärzt:innen, Lehrpersonal). Zudem waren Teile des Dienstleistungssektors während der Pandemie besonders von Betriebsschließungen betroffen, was berufliche Expositionen insgesamt reduziert haben dürfte.
Ein weiterer Aspekt ist die Möglichkeit, während einer Infektionswelle flexibel und von zu Hause aus arbeiten zu können und so Empfehlungen zur physischen Distanzierung durch die Reduzierung der Mobilität und beruflicher Kontakte umsetzen zu können. Möglichkeiten zum Homeoffice haben vor allem sozial bessergestellte Berufsgruppen mit höheren Bildungsabschlüssen und höherem Einkommen [46]. In einer statistischen Modellierung auf Basis von Daten aus großstädtischen Regionen in den USA ließen sich höhere Infektionsraten in sozial benachteiligten Gruppen darauf zurückführen, dass Personen dieser Gruppen ihre Mobilität – wahrscheinlich berufsbedingt – weniger stark einschränken konnten [27]. Relevant ist auch, mit welchem Transportmittel der Weg zur Arbeitsstätte (bzw. zur Schule oder zur Ausbildungsstätte) zurückgelegt wird. Erfolgt dies mit dem öffentlichen Nahverkehr, könnte die Wahrscheinlichkeit einer Exposition ebenfalls steigen. Hier gibt es erste Hinweise darauf, dass Menschen in ärmeren Regionen auch während der Pandemie häufiger den Personennahverkehr nutzten [16].
Im Modell von Quinn und Kumar nicht direkt angesprochen ist das individuelle Hygiene- und Schutzverhalten, das aber ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf Expositionsrisiken hat. Eigenschutz setzt jedoch angemessenen Zugang zu Informationen sowie individuelle Kompetenz im Umgang mit diesen Informationen voraus – genauso wie die Bereitschaft, die Handlungsweisen dann auch auszuführen. Eine hohe Gesundheitskompetenz und Adhärenz sind wiederum mit Merkmalen wie Bildung oder Sprachkenntnissen assoziiert, sodass auch über diesen Weg ungleiche Expositionsrisiken entstehen könnten [47].
Kommt es zu einer Exposition, d. h. zu einem Erregerkontakt, wird die Frage der Suszeptibilität, also der Empfänglichkeit für eine Infektion, entscheidend. Auch hier machen Quinn und Kumar mögliche Unterschiede aus, die insbesondere aus der sozial ungleichen Verteilung von Risikofaktoren und Vorerkrankungen resultieren. Die sozioökonomische Ungleichheit von Krankheitsrisiken ist ein seit Langem bekanntes Phänomen der Bevölkerungsgesundheit und viele Risikofaktoren und manifeste Krankheiten treten demnach häufiger bei Menschen auf, die über weniger soziale und ökonomische Ressourcen verfügen als der Durchschnitt der Bevölkerung [7]. Das betrifft auch Risiken oder Erkrankungen, von denen angenommen wird, dass sie mit COVID-19 assoziiert sind, wie beispielsweise Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht, chronischer Stress, verminderte Immunfunktionen, Herz-Kreislauf-Krankheiten oder chronische Lungenerkrankungen [7]. Direkte Untersuchungen im Kontext von SARS-CoV-2-Neuinfektionen hierzu liegen unseres Wissens jedoch nicht vor. Einzelne Untersuchungen gibt es lediglich zu schwereren Verläufen der Erkrankung, bei denen Risikofaktoren und Vorerkrankungen einen Teil des sozialen Gradienten bei schweren Verläufen erklärten [48].
In welchem Ausmaß die einzelnen Prozesse die hier gefundenen zeitlichen Muster tatsächlich beeinflusst haben, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht eindeutig zu beantworten. Insbesondere der Befund der Umkehr des sozialen Gradienten im Verlauf der Pandemie muss weiter untersucht werden. Jedoch scheint ein solcher Effekt nicht untypisch zu sein, wie Studien zu anderen Infektionskrankheiten nahelegen. Manabe et al. [49] untersuchten beispielsweise Patienten, die sich in der H1N1-Pandemie 2009/2010 mit der Influenza A angesteckt hatten, und verglichen solche, die in der frühen Phase der Pandemie in Mexiko infiziert wurden, mit solchen, die in späteren Phasen erkrankten. Diejenigen, die in späteren Phasen infiziert wurden, waren signifikant häufiger arm und berichteten in Interviews, dass sie kaum Zugang zu Informationen über die Erkrankung und Schutzmaßnahmen hätten. Diese Studie deutet darauf hin, dass bestimmte Infektionsschutzmaßnahmen sozial differenziell wirken. So wäre es möglich, dass in Regionen mit hoher sozioökonomischer Position Infektionsschutzmaßnahmen mit der Zeit stärkere Effekte hatten bzw. in diesen Regionen bessere Bedingungen für die Umsetzung der Maßnahmen herrschten (z. B. mehr Testzentren, bessere Aufklärung, mehr Möglichkeiten der Arbeit im Homeoffice).
In Deutschland könnte das stärkere Infektionsgeschehen in sozial bessergestellten Regionen zudem während der ersten Welle und zu Beginn der zweiten Welle ferner damit zusammenhängen, dass diese Regionen wirtschaftlich aktiver und über Wirtschaftsbeziehungen und Pendlerverflechtungen stärker miteinander im Austausch sind. Dies könnte gerade zu Beginn einer Infektionswelle, wenn Eindämmungsmaßnahmen wie Kontaktbeschränkungen noch nicht bzw. weniger stark in Kraft sind, zu höherer Mobilität und Virusübertragungen beitragen. Diese mit der Arbeit zusammenhängenden Punkte könnten die in dieser Auswertung gefundenen höheren Infektionsraten in Gebieten mit hoher Beschäftigtenquote bzw. die gegenläufigen Trends in Gebieten mit hoher, durch Arbeitslosigkeit getriebener Armut erklären. Dass Beschäftigung bedeutsam ist, legen auch die Auswertungen für die Beschäftigtenquoten nach Wirtschaftssektoren nahe. Da Produktionsunternehmen im Herbst/Winter 2020/2021 weitgehend in normalem Umfang an der Betriebsstätte tätig sein konnten, während im Dienstleistungssektor viele Betriebe geschlossen waren (z. B. Restaurants) oder ein hoher Anteil der Beschäftigten ins Homeoffice wechselte, erscheint es denkbar, dass soziale Kontakte im Arbeitskontext Inzidenzzahlen insgesamt beeinflusst haben.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung müssen jedoch vorsichtig interpretiert werden. Die Stärke der Studie liegt in der Verwendung amtlicher Daten in Zeitreihen, ihre Schwäche in einigen methodischen Nachteilen. Die wichtigste Limitation ist das ökologische Design. Rückschlüsse auf individuelle Zusammenhänge konnten daher nicht gezogen werden. Ebenso war es nicht möglich relevante Drittvariablen (Moderatoren, Mediatoren, Confounder (Störgrößen)) wie das Geschlecht, den individuellen Gesundheitszustand oder konkurrierende regionale Einflüsse (z. B. lokale politische Eindämmungsmaßnahmen) zu berücksichtigen. Die einfache grafische Aufbereitung der Daten muss zudem in Zukunft durch komplexere statistische Methoden ergänzt werden. Damit könnten auffällige zeitliche Schwankungen der Inzidenzdaten präziser identifiziert und weitere verfügbare Indikatoren als mögliche Störgrößen berücksichtig werden (inkl. Inzidenz aus Nachbarregionen). Außerdem ist zu bedenken, dass die gewählten Gebietseinheiten (Kreise) vergleichsweise groß sind. Es ist wahrscheinlich, dass regionale Cluster eher einen kleinräumigen Charakter haben und z. B. einzelne Stadtviertel und nicht das gesamte Stadtgebiet betreffen. Es muss zudem berücksichtigt werden, dass der Outcome dieser Analyse laborbestätigte und an das RKI gemeldete COVID-19-Fälle waren. Es ist dabei von einer Untererfassung an Infektionen auszugehen, die möglicherweise abweichende sozioökonomische Verteilungsmuster aufweisen könnte. Ein weiteres Problem ist die fehlende Aktualität der Sozial- und Wirtschaftsdaten der INKAR-Datenbank, die größtenteils im Jahr 2017 erhoben wurden. Auch wenn diese Indikatoren zeitlich relativ stabil sind, ist nicht auszuschließen, dass es durch Änderungen bis zum Jahr 2020 zu Fehlklassifikationen von Gebieten gekommen sein könnte. Letztlich ist noch anzumerken, dass wir uns ausschließlich auf das Ausbruchsgeschehen bzw. die Inzidenz konzentriert haben, um Aussagen zur Dynamik der Infektion machen zu können. Weitere wichtige Aspekte wie der Schweregrad einer COVID-19-Erkrankung (inkl. Mortalität), die ebenfalls mit sozioökonomischer Benachteiligung assoziiert sind, waren nicht Gegenstand dieser Betrachtung.