Seit Aufkommen moderner Krankheitsklassifikationen der US-amerikanischen Fachgesellschaft der Psychiaterinnen und Psychiater (American Psychiatric Association, APA; [26]) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO; [27]) lassen sich Pendelbewegungen zwischen einer Fokussierung des Krankheitsverständnisses einerseits auf das starke Verlangen und die Kontrollminderung im Umgang mit der Droge (Sucht) und andererseits auf Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik (Abhängigkeit) beobachten. Was als theoretischer Streit anmuten kann, hat durchaus relevante sozialpolitische Implikationen.
Edwards [23] fokussierte auf die Alkoholentzugssymptomatik, die sich unter anderem nach einer Untersuchung bei seinen Studierenden bei jeder Person zeigte, die über längere Zeit hochprozentigen Alkohol konsumiert hatte. Edwards’ Fokus lag damit auf den Wirkungen des Alkohols auf das zentrale Nervensystem, wo er neurobiologische Anpassungsvorgänge fand, die unter den Bedingungen des fortgesetzten Alkoholkonsums zur Herstellung eines neuen Gleichgewichts, einer sogenannten Homöostase führen. Wird der Alkoholkonsum plötzlich unterbrochen, kommt es dementsprechend zu einem Ungleichgewicht in der zentralnervösen Erregungsverarbeitung und damit zu Entzugserscheinungen.
Der Schwerpunkt der Diskussion verschob sich somit zu einer „somatisch verankerten Drogenabhängigkeit“, die oft fälschlich auch als „körperlich“ bezeichnet wird. Falsch ist diese Bezeichnung dann, wenn der körperlichen Abhängigkeit eine vermeintlich unkörperliche, „psychische“ Abhängigkeit entgegengestellt wird. Denn Letztere bezieht sich auf Symptome wie das Alkoholverlangen und die Kontrollminderung, denen ebenso wie Entzugssymptomen neurobiologische Korrelate im zentralen Nervensystem zugeordnet werden können, beispielsweise im sogenannten dopaminergen Belohnungssystem und im präfrontalen Kortex [28].
Mit dem Begriff der Sucht (im Englischen meist mit der Bezeichnung „addiction“ thematisiert) fokussierte sich die Diskussion demgegenüber auf das starke Verlangen und die erlebte Kontrollminderung der Betroffenen. Bei dieser Sichtweise können allerdings die alten Degenerationshypothesen wieder anklingen, indem den erkrankten Personen unterstellt wird, dass es ihnen an „Willensstärke“ mangele bzw. dass sie „zu impulsiv“ seien und sich somit zu sehr von ihren vermeintlich „primitiven“ Gefühlen und ihrem Verlangen steuern ließen [9].
Während die International Classification of Diseases (ICD-10) von 2004 als Krankheitsklassifikation der WHO [27] noch unter dem Einfluss von Suchtforschern wie Edwards und anderen das Konzept der Abhängigkeit („dependence“) vertritt, widmet sich die APA mit dem Diagnostic and Statistical Manual (DSM‑5, 2013; [26]) dem Suchtkonzept und gibt den Begriff der „dependence“ ganz auf. Sie spricht stattdessen von „Substanzgebrauchsstörungen“, die sich bruchlos vom schädlichen Konsum bis zur schweren Gebrauchsstörung entwickeln sollen. Allerdings wurde diesem Konzept vorgeworfen, dass es den schlecht definierten Begriff des „schädlichen Gebrauchs“ mit dem klinisch relativ gut abgrenzbaren Begriff der „Abhängigkeit“ vermengt [29].
Der schädliche Gebrauch ist deswegen schwer zu klassifizieren, weil Fragen der Illegalisierung einer Droge zu sozialen Problemen und Einschränkungen führen können, die bei einer Gesetzesänderung nicht mehr gegeben wären. So sind der Zeitaufwand zur Beschaffung einer Droge und die negativen sozialen Folgen deren Konsums nicht unabhängig vom gesetzlichen Umgang und der Strafverfolgung beim Gebrauch einer Droge. Am DSM‑5 wurde dementsprechend kritisiert, dass ein zu breiter Begriff der Substanzgebrauchsstörung zur Pathologisierung größerer Bevölkerungsgruppen führen kann und dass stattdessen eine Fokussierung auf die schwerer betroffenen Individuen notwendig sei, da nach wie vor ein Großteil dieser Patientinnen und Patienten nicht adäquat versorgt wird [29, 30].