Wie kann der Zugang zu den gerade beschriebenen Initiativen für deutsche Akteur:innen konkret aussehen? Wie lässt sich einerseits vom Wissen und den Erfahrungen zum Thema Gesundheitsdaten in den Nachbarländern profitieren und andererseits eigenes Wissen und eigene Positionen in den europäischen Raum zurückgeben?
Den Zugang zum Austausch auf der Ebene der europäischen Politik dürften sich unmittelbar insbesondere Vertreter:innen von Regierungseinrichtungen (Bundes- oder Landesministerien, aber auch Bundesoberbehörden), Bundesverbänden und großen Organisationen verschaffen können. Dies kann einerseits direkt über die europäischen Institutionen erfolgen (z. B. über die entsprechenden Generaldirektionen der Europäischen Kommission oder über das EU-Parlament) oder auf dem Weg über die Bundesregierung. Das starke Engagement der Regierung für das Thema Gesundheitsdaten während der vergangenen Ratspräsidentschaft hat hierfür sicherlich einen guten Nährboden bereitet. Die Möglichkeiten auf dieser Ebene bestehen vor allen Dingen in der Schaffung und Verbesserung von Rahmenbedingungen, sei es in der Gesetzgebung oder in der Finanzierung (insb. von Forschung und Innovation).
Die Bottom-up-Initiativen sind hingegen eher an konkreten Problemen und Fragestellungen orientiert und bieten somit einen unmittelbaren Nutzen, z. B. im Sinne von umsetzbaren Konzepten, finanzieller Förderung oder auch gemeinsamen Publikationen. In Verbundprojekten können mit finanzieller Unterstützung eigene Ideen entwickelt, getestet und implementiert werden, während man gleichzeitig von den Erfahrungen anderer profitiert. Ein Projektkonsortium mit Partnern aus mehreren Mitgliedsstaaten und Beiratsmitgliedern aus der ganzen Welt stellt schon für sich genommen ein Forum für wechselseitiges Lernen und Ideenaustausch dar. Allerdings ist der Zugang zu diesen Projekten nicht leicht. Auf der einen Seite stehen komplexe Vorgaben beispielsweise hinsichtlich der Antragsverfahren und des Berichtswesens im Projekt. Auf der anderen Seite hat der Wettbewerb um EU-Fördermittel – insbesondere in den großen Rahmenprogrammen – in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Ausschreibungen zu einzelnen Themen mit über 100 Einreichungen im Vergleich zu 3–5 geförderten Projekten sind keine Seltenheit.
Im Vergleich dazu zeichnen sich die Netzwerke dadurch aus, dass sie meist ohne größere Hürden struktureller oder finanzieller Art zugänglich sind. Sie bieten also eine niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit zu den laufenden Diskussionen rund um das Thema Gesundheitsdaten auf der EU-Ebene, aber auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Über Konsultationen, Positionspapiere oder auch direkte Kontakte findet außerdem ein Rückfluss von Ideen und Positionen in den hochrangigen politischen Rahmen, insbesondere in die Entscheidungsprozesse der Europäischen Kommission, statt. Ein Beispiel hierfür sind die Konsultationen zu den Arbeitsprogrammen der beschriebenen Rahmenprogramme, über die sich in einem gewissen Umfang eigene Themen in der europäischen Innovationsförderung platzieren lassen. Mit Blick auf die Verbundprojekte erfüllen die Netzwerke außerdem eine weitere Funktion als kreatives Umfeld, in dem gemeinsame Projektideen und -anträge entstehen. Strategisch gesehen ist es daher sinnvoll, sich zunächst in Richtung der Netzwerke zu orientieren und über diese dann Zugang zu den Verbundprojekten zu suchen, da sich hier Menschen und Organisationen mit Antragserfahrung und mit detaillierteren Kenntnissen der aktuellen inhaltlichen Diskussion auf der EU-Ebene finden.
Data Matters – Ein Beispiel für EU-finanzierten Erfahrungsaustausch
Abschließend soll anhand eines Beispiels sowohl ein Eindruck vom greifbaren Nutzen europäischer Kooperation vermittelt als auch gezeigt werden, wie eine eigene Zugangsstrategie (hier für Partnerorganisationen aus drei EU-Ländern) aussehen kann. Das Beispiel ist ein EU-finanziertes Projekt zum Erfahrungsaustausch zwischen europäischen Regionen aus den Jahren 2019 und 2020. Inhaltlich ging es um die bessere Nutzung von Gesundheitsdaten für politische Entscheidungsfindung, Präventions- und Versorgungsplanung sowie die datengestützte Verbesserung von Programmen und Gesundheitsdiensten.
Mit der Initiative „Digital Health Europe“ [25] hat die Europäische Kommission im Zeitraum 2019 und 2020 bereits zum zweiten Mal den Erfahrungsaustausch und den Transfer von Lösungen im Bereich digitale Gesundheitsversorgung unterstützt. Die Initiative hat hierzu unter anderem rund 45 sogenannte Twinnings organisiert und finanziert. Im Rahmen dieser Twinnings trafen Regionen mit vorhandenen Ideen, Konzepten, Produkten oder Dienstleistungen zur digitalen Versorgung auf „Zwillingsregionen“, die diese Innovationen im eigenen Kontext umsetzen wollten. Finanziert wurden dabei sowohl gemeinsame Treffen und Reisetätigkeit als auch Lizenzgebühren oder Kosten für externe Dienstleister.
Eine der geförderten Maßnahmen war ein Erfahrungsaustausch zwischen 3 europäischen Partnern zum Thema Gesundheitsdaten. Unter dem Titel „Data matters – better data to advance research, disease prevention and personalised health and care“ beteiligten sich Organisationen aus Estland, Spanien und Deutschland, um gegenseitig von Lösungen und Erfahrungen in den Bereichen 1) Dateninfrastruktur, 2) Datenintegration und -Linkage sowie 3) Datenanalyse unter Anwendung von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz zu lernen.
Das estnische Sozialministerium stellte dabei für das erste Thema die nationalen Bestrebungen für eine Dateninfrastruktur vor, mit deren Hilfe eine bessere Integration verschiedener Sektoren des Gesundheits‑, Sozial- und Bildungssystems erreicht werden soll. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die estnische E‑Government-Infrastruktur X‑Road [26], die den Datenaustausch zwischen Einrichtungen des öffentlichen und des privaten Sektors ebenso ermöglicht wie die Anbindung von Nutzerinterfaces für Bürger:innen, Unternehmen und öffentliche Bedienstete. Dabei funktioniert X‑Road als eine Art Middleware (anwendungsneutrale Programme zur Kommunikation zwischen verschiedenen Anwendungen), die insbesondere die Sicherheit der Kommunikationswege, die Authentisierung der Nutzer:innen und die Protokollierung von Datenzugriffen übernimmt. X‑Road, seine bestehenden Anwendungsfälle und die Verwendung für eine stärkere Integration von Gesundheits- und Sozialdaten wurden dabei den Twinning-Teilnehmer:innen im Rahmen eines zweitägigen Treffens in Tallinn vorgestellt. Ein weiteres Ergebnis dieses Treffens war eine Auflistung wesentlicher regulativer, finanzieller und technischer Barrieren für bessere Datenintegration in Estland, Deutschland und Spanien. Diese wies viele Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern auf (beispielsweise hinsichtlich der negativen Folgen unterschiedlicher Auslegungen der EU-Datenschutzrichtlinie), aber auch einige Unterschiede (insbesondere hinsichtlich des Vertrauens von Bürger:innen in staatliche Stellen, das in Spanien und Estland höher zu sein scheint als in Deutschland).
Aus Deutschland beteiligte sich für das zweite Thema das Kölner Netzwerk CoRe-Net [27] mit seiner Forschungsdatenbank aus Routinedaten von 4 beteiligten gesetzlichen Krankenversicherungen, Primärdaten verschiedener Studien sowie Strukturdaten [28]. Diese Datenbank wurde in den Jahren 2018 bis 2020 in der ersten Phase des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Netzwerks erstellt und steht seit diesem Jahr zur Verfügung. Die Nutzung der Daten erfolgt zunächst durch 2 Projekte, die Teil von CoRe-Net sind und sich mit der Versorgung im letzten Lebensjahr sowie mit psychischen Komorbiditäten bei koronaren Herzerkrankungen befassen und diese für den Kölner Kontext erforschen. Darüber hinaus steht die CoRe-Net-Datenbank auf Antrag für weitere Forschungsprojekte, Auswertungen zu einzelnen Forschungsfragen und andere Anwendungsszenarien wie kommunale Versorgungsberichte zur Verfügung. Das Twinning-Treffen in Köln befasste sich darüber hinaus mit der Entwicklung eines Logikmodells zur Herleitung von Effekten einer stärker integrierten Gesundheits- und Sozialversorgung, das in allen 3 nationalen Kontexten gleichermaßen zum Einsatz kommen kann.
Der spanische Projektpartner für das dritte Thema war der kommunale Gesundheitsversorger der katalanischen Stadt Badalona, BSA – Badalona Serveis Assistencials, der sein Data Lab für die Analyse komplexer und großvolumiger Gesundheitsdatensätze ebenso vorstellte wie eine Reihe von Forschungsprojekten, die in diesem Data Lab durchgeführt wurden. Über das Data Lab führt BSA Daten aus verschiedenen, heterogenen Quellen zusammen, die elektronische Patientenakten, Routine- bzw. Abrechnungsdaten, aber auch Ärzt:innenbriefe im Freitext und Daten aus von Bürger:innen genutzten Gesundheits-Apps umfassen. Diese Daten werden zusammengeführt, für die Auswertung vorbereitet und dann mit Methoden des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz ausgewertet. Anwendungsfälle sind Auswertungen zu nicht wahrgenommenen ambulanten Terminen, zur effizienteren Nutzung von Operationsräumen oder zum Einsatz von Fallmanager:innen in der Versorgung von Schlaganfallpatient:innen. Wegen der Coronapandemie musste ein ursprünglich geplanter Besuch der Twinning-Partner in Badalona ausfallen und wurde durch ein virtuelles Treffen ersetzt.
Neben den 3 Treffen zu den thematischen Schwerpunkten fanden zu deren Vor- und Nachbereitung außerdem mehrere Videokonferenzen statt. Insgesamt beteiligten sich mehr als 50 Personen an diesem Austausch, der insgesamt 14 Monate dauerte. Nach Abschluss der Initiative einigten sich die beteiligten Akteure darauf, die in vielen Punkten lediglich begonnene Arbeit (beispielsweise am oben beschriebenen Logikmodell) sowie den inhaltlichen Austausch nach Ende der EU-Förderung mit eigenen Mitteln fortzuführen. Hierzu wird im Jahr 2021 eine Arbeitsgruppe (Special Interest Group) „Data Matters“ im Rahmen der International Foundation for Integrated Care (IFIC) eingerichtet. Diese Gruppe steht dann auch weiteren Teilnehmer:innen mit Interesse am Thema offen. Mittelfristig sollen aus dieser Gruppe heraus entsprechende Projektanträge für europäische Förderprogramme entwickelt werden.