Hintergrund

Der Berliner Giftnotruf wurde 1963 in Anlehnung an die US-amerikanischen „Poison Control Centers“ als „Beratungsstelle für Vergiftungserscheinungen und Embryonaltoxikologie“ in der Städtischen Kinderklinik Charlottenburg gegründet. Im Jahr 1972 wurde er dem Bezirksamt Charlottenburg und 1992 der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit zugeordnet [1]. Der Zuständigkeitsbereich des Giftnotrufs erweiterte sich 1994 auf das Land Brandenburg, nachdem eine entsprechende Vereinbarung geschlossen wurde. Innerhalb der Berliner Senatsverwaltung wurde die Einrichtung 1995 in den Berliner Betrieb für Zentrale Gesundheitliche Aufgaben (BBGes) integriert. Nachdem die Embryonaltoxikologie im Jahr 2002 ein eigenständiger Fachbereich innerhalb des BBGes geworden war, führte man die Beratungsstelle für Vergiftungserscheinungen und den Fachbereich Klinische Toxikologie und Pharmakologie des BBGes im Jahr 2003 in einem Institut für Toxikologie zusammen [2, 3]. Um Synergieeffekte zwischen der Forschung, der klinischen Medizin und der über Jahrzehnte aufgebauten Erfahrung der Einrichtung nutzbar zu machen, wurde der Giftnotruf im Jahr 2012 in die Charité – Universitätsmedizin Berlin überführt. Seit Anfang 2019 ist der Giftnotruf innerhalb der Charité ein eigenständiger Arbeitsbereich des Instituts für Klinische Pharmakologie und Toxikologie [4], wodurch gezielt eine Schnittstelle zur Forschung und Lehre geschaffen wurde.

Der Giftnotruf in Berlin berät seit fast 60 Jahren Privatpersonen, Apotheken, Schulen, Kindergärten, die Polizei und Rettungskräfte sowie auch medizinisches Fachpersonal zu sämtlichen toxikologischen Fragestellungen. Mit jährlich ca. 45.000 Beratungen zu Humanexpositionen, ca. 1500 prophylaktischen Fragestellungen und ca. 500 Anrufen zu Vergiftungen bei (Haus‑)Tieren ist die Einrichtung bezogen auf die Beratungszahlen das am häufigsten frequentierte Giftinformationszentrum (GIZ) Deutschlands. Das offizielle Einzugsgebiet des Giftnotrufs der Charité ist mit den ca. 6 Mio. Einwohner*innen der Länder Berlin und Brandenburg das zweitkleinste der 8 deutschen Giftinformationszentren. Den Berliner Giftnotruf erreichen jedoch auch zahlreiche Anrufe von außerhalb des eigentlichen Einzugsgebiets und sogar aus dem Ausland.

Die rein telefonische Beratung erfolgt beim Giftnotruf der Charité im Rahmen eines 24-stündigen Schichtdienstes an 365 Tagen im Jahr. Auch wenn das Tagesgeschäft der Einrichtung in erster Linie durch Risikoeinschätzung und Beratung bei akuten Vergiftungs(verdachts)fällen geprägt ist, gehört auch die Aufklärung der Bevölkerung im Rahmen der Präventionsarbeit zu den Aufgaben des Giftnotrufs [5]. Die Information der Bevölkerung ist als besonders wichtiger Auftrag anzusehen, da hierdurch prospektiv auf das Vergiftungsgeschehen Einfluss genommen werden kann. Dabei ist es wichtig, die Intoxikationsvorfälle im jeweiligen Einzugsgebiet des Giftinformationszentrums über längere Zeiträume zu analysieren, um Trends und Neuerungen frühzeitig erkennen zu können und entsprechende Informationskampagnen abzuleiten. Diesem Erfordernis für die Bundesländer Berlin und Brandenburg nachzukommen, ist u. a. ein Ziel der vorliegenden Untersuchung.

Studien aus verschiedenen Ländern, wie z. B. den Vereinigten Staaten von Amerika [6,7,8,9,10,11], Polen [12, 13], Finnland [14], Weißrussland [15], China [16] und Afrika [17,18,19], haben gezeigt, dass sich Unterschiede bezüglich der Vergiftungsvorkommnisse im städtischen und ländlichen Raum feststellen lassen. Somit ist insbesondere die Variable „Herkunft des Anrufs“ (Stadt oder Land) im Rahmen einer zielgerichteten Aufklärungsarbeit zu berücksichtigen. Nach Kenntnis der Autorin und des Autors wurde für Deutschland zu diesem Thema bisher noch keine Studie veröffentlicht. Folglich stellt sich die Frage, ob sich auch hierzulande regionale Unterschiede zwischen Stadt und Land zeigen. Erkenntnisse darüber können beispielsweise bei der Umsetzung von zielgruppenorientierter Aufklärungsarbeit genutzt werden. Neben der longitudinalen deskriptiven Beschreibung der Anfragen aus den Bundesländern Berlin und Brandenburg steht demnach die Überprüfung zweier ausgewählter Arbeitshypothesen im Fokus der vorliegenden Arbeit:

Hypothese 1.

Vergiftet sich eine Person auf dem Land, ist ein vergleichsweise längerer Anfahrtsweg zur nächstgelegenen Hausarztpraxis bzw. Rettungsstelle anzunehmen. Statistische Erhebungen zeigen, dass in vielen ländlichen Regionen die nächste Hausarztpraxis über 10 km und das nächste somatische (allgemeine) Krankenhaus bis zu 20 km entfernt sein können [20]. Aufgrund der geringeren medizinischen Anbindung auf dem Land [21] liegt die Vermutung nahe, dass Privatpersonen in ländlichen Regionen eher die telefonischen Angebote des Giftnotrufs nutzen als Privatpersonen im urbanen Raum.

Hypothese 2.

Aus mehreren Studien geht hervor, dass sich Personen auf dem Land mit anderen Substanzen vergiften, als Stadtbewohner [6,7,8, 10,11,12, 14,15,16,17,18,19]. Dieser Zusammenhang wird auch in der vorliegenden Arbeit angenommen.

Methoden

Grundlage der vorliegenden Untersuchung waren Falldaten des Giftnotrufs aus den Bundesländern Berlin und Brandenburg von 1999 bis 2018.

Für die Unterteilung der Falldaten in Anfragen aus ländlichen und urbanen Regionen wurde die Definition des Bundesinstitutes für Bau‑, Stadt- und Raumforschung (BBSR) herangezogen, wonach „… ein Stadt- oder Landkreis als ländlich [gilt], wenn … die Einwohner*innendichte im Gebiet unter 150 Einwohner*innen pro km2 [liegt]“ [22]. Dieser Definition zufolge gehört der Großteil Brandenburgs zum ländlichen Raum. Das Bundesland Berlin sowie alle Städte und Gemeinden im Bundesland Brandenburg mit ≥ 150 Einwohner*innen pro km2 [23] wurden zur „Stadt“ gezählt. Darüber hinaus wurden alle Gemeinden, welche offiziell zum Berliner Umland („Speckgürtel“) gehören [24], als urbanes Gebiet betrachtet und daher der „Stadt“ zugeordnet. Die einzelnen Städte und Gemeinden wurden anhand der im Giftnotruf dokumentierten Vorwahl identifiziert.

Jede Beratung im Giftnotruf der Charité wird über einen standardisierten Dokumentationsbogen protokolliert. Nach erfolgreicher Qualitätskontrolle hinsichtlich der Vollständigkeit und Plausibilität der dokumentierten Informationen werden die Daten digital erfasst und in einer Oracle-Datenbank gespeichert. Für die Auswertung der Falldaten war zunächst eine Datenharmonisierung erforderlich, da der standardisierte Protokollbogen über die letzten 2 Jahrzehnte geringfügige Modifikationen erfahren hat. Durch interne Interviews und eine systematische Analyse älterer und neuerer Falldaten konnten diese zeitweisen Anpassungen identifiziert und im Rahmen der Untersuchung berücksichtigt werden.

In einem nächsten Schritt wurden alle Fälle ohne genaue Ortsvorwahl, alle Anfragen präventiver Natur oder zu Vergiftungen bei (Haus‑)Tieren, Anrufe über vertraglich vereinbarte Rufumleitungen sowie alle Fälle, bei denen kein Gespräch zustande kam, ausgeschlossen. Im Ergebnis konnte in der Analyse eine Gesamtfallzahl von n = 251.554 berücksichtigt werden. Im Giftnotruf der Charité werden zusammengehörige Beratungen, welche denselben Vorfall betreffen, als „Fall“ zusammengeführt. Somit entspricht die genannte Stichprobengröße nicht der Gesamtzahl aller eingegangen Anrufe, sondern spiegelt die Anzahl an Fallkomplexen in der Datenbank wider.

Im darauffolgenden Arbeitsschritt wurde eine explorative Datenanalyse mit ersten deskriptiven Auswertungen über die „KNIME Analytics Platform“ (KNIME AG, Zürich, Schweiz) [25] durchgeführt. Für die bivariate Analyse der Zusammenhänge zwischen den Merkmalen „Herkunft des Anrufs“ (Stadt oder Land) und „Hintergrund der anfragenden Person“ (privat oder beruflich) bzw. „Herkunft des Anrufs“ und „Noxenkategorie“ wurde mittels der Software IBM SPSS Statistics V25 (IBM Corporation, Armonk, New York, USA) [26] ein Pearson χ2-Unabhängigkeitstest [27] durchgeführt und es wurden entsprechende Kreuztabellen erstellt. Da bei der Kategorie „Hintergrund der anfragenden Person“ (privat oder beruflich) insgesamt 101 Datensätze aufgrund fehlender Angaben zur anrufenden Person nicht verwertet werden konnten, betrug die Anzahl der hier ausgewerteten Fälle n = 251.453. Für die Auswertung des empfohlenen Prozederes nach „Hintergrund der anfragenden Person“ wurden die Anrufe von Privatpersonen unverändert übernommen und die ursprünglich erfassten Kategorien „Krankenhaus“, „Praxis“, „Rettungsdienst“, „anderes GIZ“ in der neuen Kategorie „Medizinisches Fachpersonal“ zusammengefasst. Unter der Kategorie „Weitere“ finden sich z. B. Anrufe der Polizei, anderer öffentlicher Institutionen oder von Pflegeheimen. Bei symptomlosen Expositionen bzw. leichten Vergiftungsfällen mit fehlender Dokumentation des angeratenen Prozederes wurden folgende Annahmen getroffen: Bei Anrufen aus Krankenhäusern oder Praxen entspricht das Prozedere bei fehlenden Werten „Geht nach Hause“. Werden Privatpersonen beraten, ist das weitere Vorgehen bei fehlenden Werten gleich „Bleibt zu Hause“.

Es werden 12 Noxenkategorien unterschieden: Medikamente, PublikumsmittelFootnote 1, Pflanzen, Tiere, Pilze, Lebensmittel, Genussmittel, Chemikalien/berufliche ExpositionenFootnote 2, Fremdkörper, Drogen, Schädlingsbekämpfungsmittel und SonstigeFootnote 3. Bei der Auswertung der Datenbankeinträge zur „Noxenkategorie“ galt es zu beachten, dass Mehrfachselektionen, z. B. bei Mischintoxikationen, möglich sind. Dementsprechend konnte es bei dieser Variablen vorkommen, dass bei der Auswertung eines Falls mehrere Noxenkategorien gleichzeitig angesprochen wurden. Im Rahmen der statistischen Testung wurden alle in der Datenbank erfassten Noxen berücksichtigt. Bei 566 Fällen war die Noxe nicht bekannt, sodass diese Fälle komplett ausgeschlossen werden mussten. Insgesamt konnten somit n = 250.988 Fälle mit 254.741 erfassten Noxen in die Auswertung einfließen. Die Stärke der Zusammenhänge zwischen den Variablen „Herkunft des Anrufs“ und „Hintergrund der anfragenden Person“ bzw. „Herkunft des Anrufs“ und „Noxenkategorie“ wurde über Cramers V ermittelt. Da es sich um eine explorative Datenanalyse handelte und keine Rückschlüsse von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit gezogen werden sollten, wurde nicht für multiples Testen adjustiert.

Ergebnisse

Entwicklung der Vergiftungsanfragen 1999–2018

In den letzten 20 Jahren wurden beim Giftnotruf über 250.000 Fälle (Humanexpositionen) aus dem Einzugsgebiet Berlin-Brandenburg beraten. Den zeitlichen Verlauf betrachtend kann festgestellt werden, dass das jährliche Beratungsvolumen stetig zunahm. Während im Jahr 1999 noch 10.194 Beratungen durchgeführt wurden, waren es im Jahr 2018 bereits 15.084 (Abb. 1 und 2). Dies entspricht einer Zunahme um rund 48,0 %. Nur im Zeitraum von 2002–2004 und im Jahr 2008 sind Rückgange der Beratungszahlen festzustellen. Der Anteil der Ratsuchenden aus beiden Bundesländern blieb jedoch über alle Jahre hinweg mit ca. 76–80 % aus Berlin und ca. 20–24 % aus Brandenburg nahezu konstant.

Abb. 1
figure 1

Entwicklung der Beratungsfallzahlen beim Giftnotruf Berlin-Brandenburg, einzeln für beide Bundesländer von 1999–2018. (Quelle: eigene Darstellung)

Abb. 2
figure 2

Entwicklung der Beratungsfallzahlen beim Giftnotruf Berlin-Brandenburg nach Altersgruppen von 1999–2018. (Quelle: eigene Darstellung)

Bei den Altersgruppen der betroffenen Personen ist ein Trend erkennbar. Während sich die Anzahl der Anrufe zu Vergiftungs(verdachts)fällen bei Neugeborenen, Säuglingen, Kleinkindern, Schulkindern sowie Jugendlichen im hier untersuchten Einzugsgebiet des Giftnotrufs in den letzten 20 Jahren nicht erheblich gewandelt hat (+33,8 %), ist bei der Altersgruppe der Erwachsenen eine Steigerung der Beratungszahlen von 1999 bis 2018 um 60,3 % und bei den Senioren sogar um 220,1 % zu verzeichnen (Abb. 2).

Im Giftnotruf der Charité werden alle Noxen kategorial in der Datenbank erfasst, sodass auch die Entwicklung der Anfragen zu den einzelnen Noxenkategorien über die vergangen 2 Jahrzehnte betrachtet werden kann. Deutlich zu erkennen ist hierbei, dass Medikamente und Publikumsmittel über alle Jahre hinweg am häufigsten in Vergiftungsfälle involviert waren (siehe Datentabelle in Abb. 3). In 7 von 10 Fällen fand im Giftnotruf eine Beratung zu Medikamenten oder Publikumsmitteln statt.

Abb. 3
figure 3

Relative Veränderung der Beratungsfallzahlen für die 12 Noxenkategorien beim Giftnotruf Berlin-Brandenburg (1999–2018). Die Tabelle zeigt die jeweilige absolute Fallzahl pro Jahr und Noxenkategorie. Chem./berufl.: Chemikalien/berufliche Exposition; Publikumsmittel: alle industriellen Erzeugnisse, mit denen Menschen außerhalb ihres Arbeitsumfeldes in Kontakt kommen (z. B. Wasch- und Reinigungsmittel), hier ohne Schädlingsbekämpfungsmittel, die separat erfasst werden; Sonstige: z. B. Kampfstoffe, Rauch, Dämpfe, kontaminiertes Wasser. (Quelle: eigene Darstellung)

Bei fast allen Noxenkategorien ist über den Zeitverlauf eine positive durchschnittliche Wachstumsrate der Anfragen pro Jahr festzustellen (Abb. 3). Der größte jährliche Zuwachs ist dabei bei den illegalen Drogen (+6,31 %) zu verzeichnen. Lediglich bei den Kategorien „Lebensmittel“ und „Schädlingsbekämpfungsmittel“ ist mit negativen durchschnittlichen Wachstumsraten von −0,72 % bzw. −0,13 % pro Jahr ein leichter Rückgang zu beobachten. Die höchste Volatilität der Beratungszahlen liegt bei den Pilzen vor.

Zum Abschluss einer jeden Beratung im Giftnotruf wird eine Empfehlung für die weitere Vorgehensweise gegeben. Je nach Hintergrund der anfragenden Person (privat oder beruflich) differiert zumeist auch das empfohlene Prozedere (Abb. 4). Deutlich wird, dass Privatpersonen nach einer Beratung durch den Giftnotruf in den meisten Fällen keine weitere medizinische Behandlung empfohlen wurde. Der Mehrzahl von Privatpersonen aus Berlin und Brandenburg (86,8 %) konnte bezüglich der betroffenen Person geraten werden, zu Hause zu bleiben bzw. sich nach Hause zu begeben.

Abb. 4
figure 4

Empfohlenes Prozedere nach Hintergrund der anfragenden Person (privat oder beruflich) beim Giftnotruf Berlin-Brandenburg (1999–2018). Medizinisches Fachpersonal: Mitarbeiter*innen aus Krankenhaus, Praxis, Rettungsdienst, anderem Giftinformationszentrum; Weitere: z. B. Polizei, öffentliche Institutionen und Pflegeheime. (Quelle: eigene Darstellung)

Auch wenn Personen in einer Arztpraxis vorstellig werden oder sich bereits in einer Klinik befinden, kann durch eine Beratung des Giftnotrufs relativ häufig (23,3 %) entschieden werden, dass die betroffenen Personen keiner weiteren ärztlichen Behandlung bedürfen (Abb. 4). Bei der Kategorie „Weitere“, innerhalb der alle Kontaktaufnahmen durch z. B. die Polizei, öffentliche Institutionen und Pflegeheime erfasst werden, liegt der Anteil der Betroffenen, welche zu Hause bleiben bzw. nach Hause gehen können, bei 47,2 %.

Stadt-Land-Unterschiede

Die relativen Häufigkeiten der Beratungsfälle zeigen im Stadt-Land-Vergleich Besonderheiten. Bei der Variablen „Hintergrund der anfragenden Person“ ist auffällig, dass der relative Anteil anfragender Privatpersonen vom „Land“ 25,3 % niedriger liegt als bei den Anfragen aus der „Stadt“ (Tab. 1). Demgegenüber ist der relative Anteil des medizinischen Fachpersonals (Krankenhaus, Praxis, Rettungsdienst, anderes GIZ) vom Land deutlich erhöht. Insbesondere bei Rettungsdienstanfragen liegt der relative Anteil um 160,5 % höher im Vergleich zur Stadt. Mittels Pearsons χ2-Unabhängigkeitstest kann ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen den Merkmalen „Herkunft des Anrufs“ (Stadt oder Land) und „Hintergrund der anfragenden Person“ (privat oder beruflich) gezeigt werden (n = 251.453; χ2 = 2072,846; df = 5; p < 0,0001; Cramers V = 0,091).

Tab. 1 Anzahl und relativer Anteil der Beratungsfälle beim Giftnotruf Berlin-Brandenburg 1999–2018 nach Hintergrund der anfragenden Person (privat oder beruflich) und Herkunft des Anrufs (Stadt oder Land)

Bei der Betrachtung des Merkmals „Noxenkategorie“ und seiner relativen Häufigkeiten sind zwischen „Stadt“ und „Land“ (Tab. 2) ebenfalls Unterschiede ersichtlich. Hier zeigen sich für den ländlichen Raum gegenüber dem städtischen Gebiet höhere relative Anteile vor allem bei den Noxenkategorien „Schädlingsbekämpfungsmittel“ (+126,7 %), „Pilz“ (+100,1 %), „Tier“ (+49,2 %) sowie „Pflanze“ (+45,3 %). Einen geringeren relativen Anteil von Anfragen gegenüber der „Stadt“ kann hingegen bei den Noxenkategorien „Lebensmittel“ (−60,3 %), „Fremdkörper“ (−40,8 %), „Genussmittel“ (−33,1 %) und „Droge“ (−26,3 %) festgestellt werden. Der durchgeführte χ2-Unabhängigkeitstest sowie die Berechnung von Cramers V ergeben einen statistisch signifikanten, wenn auch schwachen Zusammenhang zwischen der Herkunft der anrufenden Person (Stadt oder Land) und der in den Vergiftungs(un)fall involvierten Noxenkategorie (n = 254.741; χ2 = 1413,817; df = 11; p < 0,0001; Cramers V = 0,074).

Tab. 2 Anzahl und relativer Anteil der Beratungsfälle beim Giftnotruf Berlin-Brandenburg 1999–2018 nach angefragter Noxenkategorie und Herkunft des Anrufs (Stadt oder Land)

Diskussion

Ziel der Untersuchung war es, die Beratungsanfragen der letzten 20 Jahre in den Bundesländern Berlin und Brandenburg darzustellen, erste Anhaltspunkte bezüglich der möglichen Unterschiede beim Vergiftungsgeschehen in diesen Regionen zu erhalten und letztlich Implikationen für eine zielgruppenspezifischere Präventionsarbeit abzuleiten. Es konnte gezeigt werden, dass die Anfragen sowohl aus Berlin als auch aus Brandenburg über die letzten Jahre stetig zugenommen haben. Lediglich in den Jahren 2002–2004 und in 2008 waren Rückgänge zu beobachten. Als Ursache für den Rückgang 2002–2004 können strukturelle und personelle Veränderungen der Einrichtung in den Jahren 2002 und 2003 genannt werden [29], der Grund für die Abnahme im Jahr 2008 ist unbekannt.

Die insgesamt gestiegenen Beratungszahlen sind jedoch nicht notwendigerweise als eine generelle Zunahme von Vergiftungsvorkommnissen zu interpretieren, sondern können auch mit einem wachsenden Bekanntheitsgrad des Giftnotrufes erklärt werden. Auffällig ist hierbei jedoch, dass sich die Fallzahlen bei der Altersgruppe der „Erwachsenen“ und „Senioren“ in besonderem Maße erhöht haben. Ursächlich hierfür dürften u. a. die zunehmende Inanspruchnahme des Giftnotrufs durch Pflegeheime [30] sowie der demografische Wandel in Deutschland sein [31]. Aufgrund des demografischen Wandels rücken andere Einrichtungen, wie das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), den Schutz älterer Menschen bereits mehr in den Mittelpunkt und weisen auf die spezifischen Risiken hin, denen Senioren ausgesetzt sind [32, 33]. Der Giftnotruf der Charité sollte dieser Entwicklung ebenfalls Rechnung tragen und seine Informationsmaterialien zielgruppengerecht anpassen.

Über den Zeitraum von 20 Jahren hinweg betrachtet wurde in 7 von 10 Fällen eine Beratung zu Vergiftungs(verdachts)fällen mit Medikamenten oder Publikumsmitteln durchgeführt. Diese Erkenntnis deckt sich auch mit den Beobachtungen anderer Giftinformationszentren [34, 35]. Demzufolge muss die Aufklärungsarbeit vor allem auf den korrekten Gebrauch und eine sichere Aufbewahrung von Medikamenten und Haushaltsprodukten ausgerichtet werden. Weiterhin konnte ein leichter Anstieg der Anfragen zu illegalen Drogen festgestellt werden, welche vermutlich mit dem generell steigenden Konsum von illegalen Rauschmitteln in Deutschland assoziiert ist [36]. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Anfragen zu vermuteten Intoxikationen mit Drogen im analysierten Datensatz häufiger in städtischen Regionen dokumentiert sind. US-Studien haben jedoch gezeigt, dass tödliche Vergiftungsfälle mit Drogen schon längst nicht mehr nur ein Problem in Städten sind, sondern auch zunehmend in ländlichen Regionen auftreten [7, 10].

Die größten Schwankungen (Volatilität) der Beratungszahlen waren bei den Anfragen zu Pilzen zu beobachten. Diese können mit unterschiedlichen saisonalen Wetterverhältnissen erklärt werden, welche sich stark auf das Vorkommen einzelner Pilzsorten sowie auf den Ertrag und die Dauer der jeweiligen Pilzsaison auswirken [37]. Zur Vermeidung von Pilzvergiftungen wäre es für den Giftnotruf ratsam, sich zu Beginn der jährlichen Pilzsaison in Fachkreisen auszutauschen sowie das Wissen um die Gefahren des Verzehrs selbst gesammelter Pilze dauerhaft in die Bevölkerung zu tragen.

Beim empfohlenen Prozedere nach einer telefonischen Beratung zeigten sich Unterschiede im Hinblick auf den jeweiligen „Hintergrund der anfragenden Person“ (privat oder beruflich). So wurde bei 86,8 % der anrufenden Privatpersonen entschieden, dass keine weitere medizinische Behandlung der betroffenen Person notwendig ist. Stammte der Anruf von medizinischem Fachpersonal bzw. von „weiteren“ Personen waren es hingegen 23,3 % bzw. 47,2 %. Bei den Privatpersonen handelte es sich demnach in erster Linie um Expositionen, welche mit den richtigen Erstmaßnahmen leicht zu behandeln waren.

Da der Giftnotruf der Charité eine rein telefonische Beratungsstelle ist, kann bei einem erhöhten Anrufaufkommen wertvolle Zeit bis zur Empfehlung der Erstmaßnahmen verstreichen. Deshalb sollten Veröffentlichungen des Giftnotrufs für Privatpersonen Informationen zu den häufigsten Vergiftungs(verdachts)fällen sowie zu deren Behandlung enthalten (z. B. die häufig gestellten Fragen, FAQs). Darüber hinaus könnte das Onlineangebot der Einrichtung ausgebaut werden, um den Anforderungen der zunehmend digitalaffinen Nutzer*innen zukünftig gerechter zu werden.

Die Stadt-Land-Gegenüberstellung zeigte, dass sich die ursprüngliche Annahme, es würden mehr Privatpersonen aus dem ländlichen Raum den Giftnotruf nutzen (Hypothese 1), nicht bestätigt werden konnte. Obwohl die Stärke des Zusammenhangs mit einem Cramers V zwischen 0,05 und 0,1 schwach ausgeprägt gewesen ist [38], stellte sich heraus, dass tendenziell mehr Privatpersonen aus der Stadt anrufen. Im Gegensatz hierzu nehmen medizinische Fachkreise in ländlichen Regionen die Beratung des Giftnotrufs vergleichsweise häufiger in Anspruch, als ihre Kolleg*innen im städtischen Raum. Insbesondere der relativ höhere Anteil von Rettungsdienstanfragen aus der ländlichen Region war auffällig. Möglicherweise sind für den höheren Anteil des medizinischen Fachpersonals unter den Anfragenden die weiteren Anfahrtswege auf dem Land ursächlich, welche die Menschen dort häufiger veranlassen „sicherheitshalber“ den Rettungsdienst zu alarmieren oder direkt selbst die nächste Notaufnahme bzw. Arztpraxis aufzusuchen. Ein weiterer Erklärungsansatz für den verhältnismäßig geringeren Anteil der Privatanrufer*innen vom Land könnte auch der niedrigere Bekanntheitsgrad der Giftnotrufnummer bei der ländlichen Bevölkerung sein.

Im Rahmen des Stadt-Land-Vergleichs konnte weiterhin festgestellt werden, dass der Giftnotruf der Charité zu den Noxenkategorien „Schädlingsbekämpfungsmittel“, „Pilz“, „Tier“ sowie „Pflanze“ im Vergleich zur Stadt mehr Anfragen aus ländlichen Regionen erhält. Diese Unterschiede liegen vermutlich darin begründet, dass die Flora und Fauna zwischen Stadt und Land merklich differiert, Menschen in ländlichen Regionen sich womöglich mehr in der Natur aufhalten und im ländlichen Raum wesentlich mehr Pestizide eingesetzt werden [39]. Hingegen gehen aus dem urbanen Raum beispielsweise mehr Anrufe zu (verdorbenen) Lebensmitteln ein. So ist bekannt, dass die Stadtbevölkerung nachweislich einen schwächeren Bezug zur Urproduktion von Lebensmitteln hat und diese häufiger entsorgt als die Bewohner*innen ländlicher Regionen [40, 41]. Somit sind Stadtbewohner*innen vermutlich unsicherer, was den Umgang mit (verdorbenen) Lebensmitteln betrifft, wodurch sie den Giftnotruf diesbezüglich häufiger konsultieren.

Insgesamt konnten im Zuge des Stadt-Land-Vergleichs statistisch signifikante, wenn auch schwache Zusammenhänge zwischen den Merkmalen „Herkunft des Anrufs“ (Stadt oder Land) und „Hintergrund der anfragenden Person“ (privat oder beruflich) bzw. zwischen „Herkunft des Anrufs“ und der „Noxenkategorie“ nachgewiesen werden, was Hypothese 2 bestätigt.

Dieses Ergebnis belegt allerdings nur einen generellen Unterschied und erlaubt keine kausale Aussage darüber, welche der Kategorien der Merkmale „Hintergrund der anfragenden Person“ (privat oder beruflich) bzw. „Noxenkategorie“ konkret die Differenz zwischen Stadt und Land begründet. In internationalen Forschungsarbeiten wurde die Nutzung der Giftinformationszentren durch Personen mit unterschiedlichem Hintergrund (privat oder beruflich) in der Stadt und auf dem Land noch nicht untersucht. Bezüglich der Noxen konnten hingegen bereits einige Unterschiede belegt werden [6,7,8, 10, 11, 15, 19]. Hier ist jedoch noch mehr wissenschaftliche Aktivität erforderlich, um weitere, insbesondere neue Noxenkategorien abzudecken und die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den deutschsprachigen Raum überprüfen zu können.

Das Alter, das Geschlecht sowie die Vergiftungsumstände (Vergiftungsmodi) der betroffenen Personen unterscheiden sich anderen Forschungsarbeiten zufolge ebenfalls zwischen Stadt- und Landbevölkerung [12, 14, 16, 18]. Für Deutschland liegen hierzu bisher keine Erkenntnisse vor, weshalb auch an dieser Stelle zusätzlicher Forschungsbedarf besteht.

Limitationen der Untersuchung

Eine Limitation des durchgeführten Stadt-Land-Vergleichs stellt die Tatsache dar, dass die ausgewerteten Fälle keiner repräsentativen Stichprobe entsprechen und lediglich die Tendenzen in der Region Berlin-Brandenburg widerspiegeln. Die Vergiftungs(verdachts)fälle anderer Großstädte und ländlicher Regionen in Deutschland konnten nicht in die Analyse einbezogen werden. Eine weitere Einschränkung liegt in dem Sachverhalt begründet, dass die Angabe zur „Herkunft des Anrufs“ im Giftnotruf der Charité lediglich zur anrufenden und nicht zur betroffenen Person erfasst wird. Dies kann insbesondere bei Anfragen durch medizinisches Fachpersonal, welches für seine Patient*innen anruft, zu Abweichungen führen. Da 99,1 % aller Berliner*innen und 63,5 % aller Brandenburger*innen ihr nächstgelegenes Krankenhaus jedoch innerhalb von 15 min Fahrzeit erreichen [42], dürften die hieraus folgenden Limitationen das Ergebnis der Analyse nicht relevant beeinflussen.

Darüber hinaus muss beachtet werden, dass nicht alle toxikologischen Beratungen der Berliner und Brandenburger Bevölkerung durch den Giftnotruf der Charité abgedeckt werden. Ein gewisser Teil wird auch durch andere Giftinformationszentren bedient. Um dieses Defizit auszugleichen, wäre es empfehlenswert, die Daten anderer Giftinformationszentren in zukünftige Studien einzubeziehen, um einen gepoolten Datensatz zu erhalten.

Ferner gehört Deutschland mit 232 Einwohner*innen je km2 im internationalen Vergleich zu den Staaten mit der größten Bevölkerungsdichte [43, 44]. Folglich dürften hierzulande die Stadt-Land-Unterschiede schwächer ausgeprägt sein, als in dünner und flächiger besiedelten Ländern, wie z. B. den USA mit 33 Einwohner*innen je km2 [45]. Dieser Umstand, aber auch unterschiedliche Stadt-Land-Definitionen sollten bei jeder Gegenüberstellung der Ergebnisse mit anderen Studien beachtet werden.

Eine weitere Limitation der Untersuchung stellt der sehr begrenzte Umfang der betrachteten Variablen dar. Um aussagekräftigere Ergebnisse zu erhalten, wäre eine umfassendere Analyse erforderlich, die ein breiteres Spektrum an zu untersuchenden Einflussfaktoren abdeckt. Sowohl teilweise lückenhafte Datenbankeinträge als auch das teils niedrige Skalenniveau der herangezogenen Daten sind weitere mögliche Schwächen der Analyse. Positiv festzuhalten ist allerdings die große Fallzahl des für die Analyse verwendeten Datensatzes sowie die vergleichsweise lange longitudinale Datenverfügbarkeit.

Fazit

Die Vergiftungsanfragen aus dem Raum Berlin-Brandenburg wurden über einen Zeitraum von 20 Jahren betrachtet. Hierbei wurde erstmalig ein Stand-Land-Vergleich mit Daten eines in Deutschland ansässigen Giftnotrufs durchgeführt. Es konnten einige Tendenzen aufgezeigt werden, die Rückschlüsse auf das Vergiftungsgeschehen in den betrachteten Regionen zulassen. Weiterhin konnten Unterschiede zwischen den Anfragen aus der Stadt und denen aus dem ländlichen Raum dargestellt werden, sowohl im Hinblick auf den „Hintergrund der anfragenden Person“ (privat oder beruflich) als auch in Bezug auf die Noxenkategorie. Die nach erfolgter Beratung abgeleiteten Empfehlungen geben zudem Hinweise darauf, in welchem Ausmaß die Existenz eines Giftnotrufes möglicherweise unnötige Arztkontakte vermeidet und damit klassische medizinische Versorgungsstrukturen entlasten kann.