Hintergrund

Diabetes mellitus stellt eine Erkrankung von hoher Public-Health-Relevanz in Deutschland und weltweit dar. Bundesweite Gesundheitsstudien des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigen, dass schätzungsweise 9,2 % der 18- bis 79-jährigen Erwachsenen einen ärztlich diagnostizierten oder unerkannten Diabetes aufweisen [1]. Die jährliche Anzahl Neuerkrankter wird auf rund 500.000 geschätzt [2, 3]. Hochrechnungen prognostizieren, dass die Zahl der Personen mit bekanntem Diabetes in Deutschland aufgrund der demografischen Entwicklung weiter ansteigen wird [4]. Hieraus folgt eine steigende individuelle und gesellschaftliche Krankheitslast, zu welcher Begleit- und Folgeerkrankungen von Diabetes erheblich beitragen [5]. Erwachsene mit Diabetes haben im Vergleich zu Personen ohne Diabetes ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen [6]. Zusätzlich führen langjährig erhöhte Blutzuckerspiegel zu diabetesspezifischen Komplikationen aufgrund von Schädigungen kleiner Blutgefäße sowie des Nervensystems [7]. Diese mikrovaskulären Komplikationen umfassen die diabetische Nierenerkrankung (Nephropathie) mit erhöhtem Risiko für Nierenversagen und Dialysepflicht [8], die diabetische Retinopathie mit Verschlechterung des Sehvermögens bis hin zur Erblindung [9] sowie die diabetische Polyneuropathie und das diabetische Fußsyndrom (DFS) mit erhöhtem Risiko für Amputationen [10]. Das DFS wird sowohl durch die periphere Neuropathie als auch eine periphere arterielle Verschlusskrankheit begünstigt.

Das Vorliegen von Komplikationen, insbesondere einer diabetischen Nierenerkrankung, ist mit einer erhöhten Mortalität assoziiert [11] und die Therapie des Diabetes hat zum Ziel, Komplikationen zu vermeiden und damit das Sterberisiko zu reduzieren. Einschätzungen zur Häufigkeit von diabetesspezifischen Folgeerkrankungen sind daher relevante Kennzahlen (Indikatoren) zur Beurteilung der Versorgungsqualität von Personen mit Diabetes. Allerdings sind in Deutschland periodisch wiederkehrende und über die Zeit vergleichbare Analysen bislang auf Daten aus den Disease-Management-Programmen (DMP) für Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 in Nordrhein-Westfalen begrenzt [12]. Darüber hinaus ist die Datenlage sehr heterogen und basiert auf punktuellen Analysen mit unterschiedlichen Datenquellen und Erhebungsmethoden. Hierzu zählen bundesweite und regionale epidemiologische Studien, die jedoch meist nur in großen Abständen durchgeführt werden, in ihrer Fallzahl eingeschränkt sind und schwer kranke oder auch institutionalisierte Personen nicht repräsentativ erfassen [13, 14]. Ebenso sind Leistungsdaten einzelner Krankenkassen Selektionseffekten ausgesetzt und stehen zumeist nicht regelmäßig zur Verfügung. Diabetesregister auf regionaler Ebene und die bundesweite Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation erlauben keine vollständige Erfassung von Erwachsenen mit Diabetes in Deutschland [15] und auch Analysen zu regionalen Unterschieden in der Häufigkeit mikrovaskulärer Komplikationen von Diabetes sind bislang nicht verfügbar.

Die Diabetes-Surveillance, welche gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) am RKI aufgebaut wird, hat zum Ziel, das Krankheits- und Versorgungsgeschehen des Diabetes in Deutschland systematisch und fortlaufend abzubilden [16]. Gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Beirat des Projekts wurden 40 Indikatoren bzw. Indikatorengruppen ausgewählt und 4 Handlungsfeldern zugeordnet. Das Handlungsfeld 3 „Diabeteskomplikationen reduzieren“ umfasst Indikatoren zu mikrovaskulären Komplikationen.

Vor diesem Hintergrund wurden in der vorliegenden Arbeit in einem ersten Schritt erstmals Prävalenzschätzungen mikrovaskulärer Komplikationen bei Personen mit dokumentiertem Diabetes auf Basis von Versichertendaten aller gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) vorgenommen. Zur Beurteilung der Datenqualität und Eignung der Daten für die Surveillance wurden die Daten im zweiten Schritt mit vorliegenden Schätzungen aus Deutschland und anderen Ländern mit einer etablierten Diabetes-Surveillance oder einem Diabetesregister verglichen.

Methoden

Abrechnungsdaten aller GKV-Versicherten

Seit 2012 ermöglicht die Datentransparenzverordnung (DaTraV) den Zugriff auf die Abrechnungsdaten aller GKV-Versicherten [17]. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), welches seit dem Jahr 2020 Teil des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist, wurde mit der Administration der Daten der ca. 70 Mio. GKV-Versicherten beauftragt. Basis bilden die Daten des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA). Der Datensatz enthält neben Stammdaten ambulante und stationäre Diagnosedaten der GKV-Versicherten, welche von nutzungsberechtigten Gruppen gemäß strengen Datenschutzregelungen ausgewertet werden können und in aggregierter Form an den Antragsteller übermittelt werden.

Für eine erste Analyse zur Prävalenz von dokumentierten mikrovaskulären Komplikationen bei GKV-Versicherten mit Diabetes wurden Daten der Berichtsjahre 2012 und 2013 ausgewertet (Abb. 1). Daten aus 2 aufeinanderfolgenden Jahren erlaubten Einblick in die Stabilität der Dokumentationen. Ausgeschlossen von der Analyse wurden alle Personen, welche weniger als 360 Tage im jeweiligen Jahr versichert waren, ihren Wohnsitz im Ausland hatten oder Selbstzahler nach §53 (4) und §13 (2) Sozialgesetzbuch V waren [22]. Weiterhin wurden die Daten auf Inkonsistenzen bezüglich des Geschlechts und Alters geprüft und mit der Versichertenstatistik [18, 19] des jeweiligen Jahres abgeglichen.

Abb. 1
figure 1

Flowchart der Analyse für die Berichtsjahre 2012 und 2013. m2Q = in mindestens zwei Quartalen eine ambulant gesicherte Diagnose oder eine stationäre Haupt- oder Nebendiagnose

Definition von GKV-Versicherten mit Diabetes (Nenner)

Als Nenner für die Auswertungen der mikrovaskulären Komplikationsraten wurde die Diabetespopulation auf Basis der Diagnosedaten, welche gemäß der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10-GM; [20]) codiert wurden, definiert. Eingeschlossen wurden wie bei anderen Analysen zu Diabetes aus GKV-Daten die ICD-Diagnosen E10.- bis E14.- [2, 3, 21]. Der Schwangerschaftsdiabetes wurde nicht berücksichtigt. Die Falldefinition eines dokumentierten Diabetes mellitus gründete sich auf folgende Kriterien: Dokumentation einer gesicherten ambulanten Diagnose E10.- bis E14.- in mindestens zwei Quartalen oder Dokumentation einer stationären Haupt- oder Nebendiagnose E10.- bis E14.- (m2Q-Kriterium) im jeweiligen Berichtsjahr [3, 21].

Definition von GKV-Versicherten mit mikrovaskulären Komplikationen von Diabetes (Zähler)

Aufgrund uneinheitlicher Aufgreifkriterien in der Literatur wurden diese auf Basis früherer Analysen einzelner Krankenkassen sowie Erfahrungen aus dem Kooperationsprojekt „Messung der Versorgungsqualität auf Basis von Routinedaten“ entwickelt (Tab. 1, [22]). Das Vorliegen einer mikrovaskulären Komplikation wurde definiert als die mindestens einmalige Dokumentation der entsprechenden ICD-Diagnose im ambulanten („gesichert“) oder stationären Bereich (m1Q). Gemäß Codierrichtline [23] sollte der Sekundärschlüssel der diabetischen Retinopathie (H36.0), Nephropathie (N08.3) oder Polyneuropathie (G63.2) zusammen mit der Diabetesdiagnose (Primärdiagnoseschlüssel) codiert werden. Das DFS wurde gemäß ICD als spezifische Subkategorie codiert. Die chronische Niereninsuffizienz und die Dialysebehandlung bei Diabetes wurden definiert, wenn zusätzlich zum Diabetes die ICD-Diagnosen N18.- bzw. Z49.1, Z49.2 oder Z99.2 vorlagen (Tab. 1).

Tab. 1 Aufgreifkriterien der mikrovaskulären Komplikationen (ICD-10-Codes)

Statistische Analysen

Die Nenner- und Zählerpopulation wurden stratifiziert nach 5‑Jahres-Altersgruppen und Geschlecht mittels SQL-Skript abgefragt (siehe Online-Zusatzmaterial zu diesem Artikel) und die Ergebnisse aggregiert übermittelt. Anschließend wurde der Anteil der GKV-Versicherten mit jeweiligen Komplikationen als Quotient aus der Anzahl der Personen mit Komplikation (Zähler) und der Personen mit dokumentiertem Diabetes (Nenner) für jede Altersgruppe und getrennt nach Geschlecht berechnet. Die so geschätzte Prävalenz der mikrovaskulären Komplikationen bei GKV-Versicherten mit Diabetes wurde grafisch dargestellt. Auf die Angabe der Konfidenzintervalle wurde aufgrund der hohen Fallzahl verzichtet.

Vergleichsanalysen

Zum Abgleich der ermittelten Ergebnisse wurden publizierte Prävalenzschätzungen zu den mikrovaskulären Komplikationen aus Routine- oder Registerdaten für Deutschland im Zeitraum ab 2010 herangezogen. Zusätzlich wurden Ergebnisse aus Ländern mit etablierten Diabetesregistern oder Surveillance-Aktivitäten zu Diabetes gegenübergestellt, welche im Rahmen einer Studie zur Gesundheitsberichterstattung über nichtübertragbare Erkrankungen [24] betrachtet wurden und regelmäßig Prävalenzschätzungen zu mikrovaskulären Komplikationen veröffentlichen.

Ergebnisse

Diabetesprävalenz

Insgesamt wurden 65,6 (2012) beziehungsweise 65,8 (2013) Mio. Personen in die Analyse zur Prävalenzschätzung von Diabetes eingeschlossen (Abb. 1). In beiden Berichtsjahren wurden rund 4 Mio. Personen hauptsächlich aufgrund einer Versicherungszeit von unter 360 Tagen im Jahr ausgeschlossen. Betroffen von diesem Ausschluss waren vor allem Personen, die im Berichtsjahr verstorben oder geboren sind sowie zwischen der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung gewechselt sind. Beim Abgleich mit der Statistik aller GKV-Versicherten zeigt sich besonders eine Abweichung für die Altersgruppen der über 85-Jährigen (Tab. 2).

Tab. 2 Vergleich der Analysepopulation mit den gesetzlich Krankenversicherten (exemplarisch für 2012)

Gemäß dem m2Q-Kriterium wurde bei 6,5 (2012) beziehungsweise 6,6 (2013) Mio. Personen ein Diabetes dokumentiert, welche den Nenner für die Schätzungen zur Prävalenz von mikrovaskulären Komplikationen bilden (Abb. 1).

Prävalenzen der Komplikationen aus DaTraV-Daten

Die chronische Niereninsuffizienz stellt die am häufigsten dokumentierte Komplikation bei GKV-Versicherten mit Diabetes dar, gefolgt von diabetischer Polyneuropathie, diabetischer Nephropathie, diabetischer Retinopathie, DFS und Dialysebehandlung (Tab. 3). Für alle Komplikationen zeigt sich bei Männern eine höhere Prävalenz als bei Frauen. Weiterhin zeigen sich mit Ausnahme der Dialysebehandlung für alle Komplikationen im Berichtsjahr 2013 leicht höhere Prävalenzschätzungen als im Berichtsjahr 2012.

Tab. 3 Prävalenzen von mikrovaskulären Komplikationen bei Diabetes mellitus nach Geschlecht für die Berichtsjahre 2012 und 2013 (beobachtete Werte)

Nach Altersgruppen dargestellte Schätzungen zur Prävalenz der diabetischen Retinopathie und diabetischen Nephropathie zeigen jeweils einen zweigipfligen Verlauf mit einem Maximum in den Altersgruppen 30–34 Jahre und 75–79 beziehungsweise 80–84 Jahre (Abb. 2a, b). Bei der diabetischen Retinopathie sinkt die geschätzte Prävalenz jenseits des 80. Lebensjahres stark ab. Ein Absinken der Prävalenz der diabetischen Nephropathie ist ab einem Alter von 85 Jahren zu beobachten. Für die chronische Niereninsuffizienz bei Personen mit Diabetes ergibt sich für die Altersgruppen unter 50 Jahren ein zur Nephropathie vergleichbares Bild (Abb. 2c). Jenseits des 50. Lebensjahres steigen Prävalenzschätzungen der Niereninsuffizienz mit zunehmendem Alter deutlich steiler an als bei der diabetischen Nephropathie. Die Dialysebehandlung zeigt bis zum 60. Lebensjahr eine relativ konstante Prävalenz und steigt anschließend bis zur Altersgruppe 80–84 Jahre an (Abb. 2d). Die geschätzte Prävalenz von Polyneuropathie (Abb. 2e) und DFS (Abb. 2f) steigt annährend linear mit zunehmendem Lebensalter an. Jenseits des 80. Lebensjahres ist für die Polyneuropathie ein Rückgang der geschätzten Prävalenz zu beobachten. Unter Personen mit dokumentiertem Diabetes sind Männer in allen Altersgruppen deutlich häufiger von Komplikationen betroffen als Frauen.

Abb. 2
figure 2

Prävalenz von mikrovaskulären Komplikationen unter GKV-Versicherten mit dokumentiertem Diabetes mellitus. Dargestellt sind die geschätzten Prävalenzen (in Prozent) für eine diabetische Retinopathie (a), diabetische Nephropathie (b), chronische Niereninsuffizienz (c), Dialysebehandlung (d), diabetische Polyneuropathie (e) und das diabetische Fußsyndrom (f) bei GKV-Versicherten mit dokumentiertem Diabetes

Prävalenz der Komplikationen aus weiteren Datenquellen

Ergebnisse zur Prävalenz der untersuchten diabetesspezifischen Komplikationen in Deutschland auf Basis von Schätzungen aus anderen Datenquellen sind in Tab. 4 zusammengestellt. Aufgrund der großen Unterschiede hinsichtlich der zugrunde liegenden Population und der Falldefinitionen ist die Vergleichbarkeit nur eingeschränkt möglich. Insbesondere für die diabetische Retinopathie und Nephropathie variieren die in früheren Analysen von Routinedaten gewählten Aufgreifkriterien und werden daher unter der Überschrift: „diabetische Augenerkrankung“ bzw. „diabetische Nierenerkrankung“ zusammengefasst. Zur weiteren Einordnung wurden Ergebnisse zu mikrovaskulären Komplikationen aus Ländern mit regelmäßiger Erfassung und Berichterstattung herangezogen. Im Gegensatz zu den Ergebnissen der aktuellen Analyse liegen die Vergleichsdaten zumeist nach Diabetestyp stratifiziert vor.

Tab. 4 Vergleich mit Prävalenzen diabetischer Komplikationen aus Register- und Routinedaten im In- und Ausland

Diskussion

Die vorliegende Arbeit nutzt erstmals den nach DaTraV verfügbaren GKV-Datensatz zur Prävalenzschätzung von mikrovaskulären Komplikationen bei Personen mit dokumentiertem Diabetes. Daten von 65 Mio. GKV-Versicherten erlaubten eine detaillierte Auswertung nach Alter und Geschlecht. Aufgreifkriterien zur Definition von Diabetes wurden vergleichbar zu aktuellen Analysen von Abrechnungsdaten zur Häufigkeit des Diabetes gewählt [2, 3, 21]. Um die Dokumentationsstabilität zu beurteilen, wurden Analysen für 2 aufeinanderfolgende Jahre durchgeführt.

Diabetische Retinopathie

Im Vergleich zu den Ergebnissen aus Tab. 4 fallen Gesamteinschätzungen zur Prävalenz der diabetischen Retinopathie in der vorliegenden Arbeit niedriger aus. Während Analysen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und der DAK vergleichbare Schätzungen zeigen, liegen diese aus regionalen AOK-Daten (Hessen und Baden-Württemberg) deutlich höher, was teilweise auf die weiter gefassten Aufgreifkriterien zurückzuführen sein dürfte. Ergebnisse aus der DMP-Dokumentation sowie Register- und Surveillance-Daten gelangen zu Prävalenzschätzungen, die höher liegen und für Typ-2-Diabetes zwischen 9–30 % und für Typ-1-Diabetes zwischen 24–67 % variieren (Tab. 4). Eine internationale Übersichtsarbeit zeigt vergleichbare Prävalenzen der Retinopathie mit 25 % für den Typ-2-Diabetes und etwas höhere Prävalenzen von 77 % für Typ-1-Diabetes [25]. Der konsistent berichtete Unterschied zwischen den Diabetestypen könnte den zweigipfligen Verlauf in den DaTraV-Daten erklären, da in jüngeren Altersgruppen der Typ-1-Diabetes anteilmäßig überwiegt. Weiterhin zeigt sich in der Analyse der DaTraV-Daten ein starker Prävalenzrückgang jenseits des 80. Lebensjahres, welcher sich bei alterstratifizierten Schätzungen des DMP in Nordrhein-Westfalen oder dem schwedischen Diabetesregister so nicht darstellt [12, 26]. Möglicherweise reflektiert dies eine Veränderung der Versorgungspraxis oder des Inanspruchnahmeverhaltens von diabetesspezifischen Früherkennungsuntersuchungen. Somit ist nicht auszuschließen, dass in höheren Altersgruppen die diabetische Retinopathie nicht in jedem Jahr dokumentiert wird. Die Prävalenz der Retinopathie zeigt sich stabil im Vergleich der Jahre 2012 und 2013. Allerdings sind vertiefende Analysen notwendig, um beispielsweise die Persistenz der Diagnosen im Längsschnitt zu analysieren, was eine bessere Abschätzung der Prävalenz auch für Personen in höherem Alter erlaubt und somit eine validere Bestimmung der Prävalenz der Retinopathie ermöglichen könnte.

Diabetische Nierenerkrankung

Bei der diabetischen Nierenerkrankung gilt es, zu unterscheiden zwischen einer diabetischen Nephropathie, welche ätiologisch auf einen Diabetes zurückzuführen ist, und einer chronischen Niereninsuffizienz, zu welcher weitere Risikofaktoren wie ein Bluthochdruck beitragen. Entsprechend liegen Prävalenzschätzungen der chronischen Niereninsuffizienz konsistent höher als zur Prävalenz der diabetischen Nephropathie. In der vorliegenden Arbeit zeigt sich eine beinahe deckungsgleiche Prävalenz der diabetischen Nephropathie und der Niereninsuffizienz in den Altersgruppen unter 50 Jahren. Darüber steigt die Prävalenz der Niereninsuffizienz deutlich stärker an. Vermutlich sind hier Komorbiditäten wie Hypertonie deutlich häufiger zu berücksichtigen [14].

Für die diabetische Nephropathie zeigen die Analysen der DaTraV- und DAK-Daten bei gleichen Aufgreifkriterien vergleichbare Prävalenzschätzungen (Tab. 4). Prävalenzschätzungen aus Routine- und Surveillance-Daten für die chronische Niereninsuffizienz variieren bei Personen mit Typ-2-Diabetes zwischen 9–28 % und für Typ-1-Diabetes zwischen 11–17 % (Tab. 4) und sind mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit vergleichbar. Schätzungen aus Versichertendaten sowie der DMP-Dokumentation sind niedriger als Register- oder Surveillance-Daten in Deutschland und anderen Ländern. Dabei ist zu beachten, dass bei Letzteren die Niereninsuffizienz mittels Labordaten zur Mikro- und Makroalbuminurie oder geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) erhoben wurden und somit eine unerkannte Morbidität berücksichtigen. Internationale Studien zeigen, dass ca. 20 % der Personen mit Diabetes eine eGFR <60 ml/min/1,73 m2 aufweisen, was vergleichbar mit den hier vorgestellten Schätzungen ist, allerdings bereits deutlich mehr Personen mit Diabetes eine Albuminurie aufweisen [8]. Im Vergleich der Berichtsjahre 2012 und 2013 zeigen die DaTraV-Daten eine leichte Zunahme der Prävalenz der Niereninsuffizienz bei Personen mit Diabetes, welche sich in vergleichbarer Größenordnung in den Auswertungen des DMP wiederfindet.

Für die Dialysebehandlung zeigen sich über alle Datenquellen hinweg Ergebnisse, die mit den hier vorgelegten Prävalenzschätzungen übereinstimmen. Personen mit Typ-1-Diabetes sind dabei konsistent häufiger betroffen als Personen mit Typ-2-Diabetes. Die Schätzungen aus Daten der AOK-Hessen sind etwas höher, was wahrscheinlich auf das weiter gefasste Aufgreifkriterium zurückzuführen ist, welches Personen mit Nierentransplantation (Z94.0, T86.1), in Dialysevorbereitung (Z49.0) und weitere Leistungsziffern miteinschließt. Die in der aktuellen Analyse für das Jahr 2013 ermittelte absolute Anzahl von Personen mit Diabetes und bestehender Dialysepflicht (n = 36.408) entspricht 44 % aller im Jahr 2013 behandelten Dialysepatienten [27]. Dies steht in Einklang mit früheren Studien [28,29,30].

Diabetische Polyneuropathie und diabetisches Fußsyndrom

Die Prävalenzschätzungen für Polyneuropathie und DFS aus Routine- und Surveillance-Daten variieren zwischen 14–28 % beziehungsweise 3–11 % (Tab. 4). Die Auswertungen aus den Daten der AOK (WIdO) und DAK sind dabei für die Polyneuropathie vergleichbar mit den hier vorgestellten Ergebnissen, liegen allerdings deutlich unter den DMP-Schätzungen. Abweichungen finden sich vor allem in den höheren Altersgruppen, für welche die Prävalenz der Polyneuropathie aus DaTraV-Daten möglicherweise unterschätzt wird, da analog zur Retinopathie die Diagnose möglicherweise nicht jedes Jahr gestellt wird. Die Analyse der Daten der AOK-Hessen zeigt höhere Prävalenzschätzungen, die wahrscheinlich durch das weiter gefasste Aufgreifkriterium bedingt sind. Auch weitere Studien außerhalb Deutschlands zeigen erhebliche Schwankungen in der Prävalenzschätzung der diabetischen Neuropathie, welche für Typ-2-Diabetes 8–51 % und für Typ-1-Diabetes 11–50 % betrug [10]. Die Prävalenzschätzung des DFS aus den DaTraV-Daten ist vergleichbar mit den Register- und Surveillance-Daten (Tab. 4) sowie dem DMP. Gemäß einer internationalen Übersichtsarbeit liegt die Prävalenz des DFS bei 6,3 % in vergleichbarer Größenordnung [31]. In den Auswertungen der Versichertendaten lässt sich zwischen der Auswertung des WIdO im Jahr 2010 (2,7 %) und der DAK im Jahr 2015 (10,9 %) ein deutlicher Anstieg feststellen, welcher sich auch in den DMP-Daten darstellt. Auch die Analyse der DaTraV-Daten zeigt eine höhere Prävalenz in 2013 gegenüber 2012, was möglicherweise auf die geänderte Rahmenempfehlung zur Verordnung von podologischen Leistungen zurückführen ist und die Codierung des DFS einfordert [32].

Limitationen und Stärken

Die Auswertungen basieren auf Daten aller GKV-Versicherten. Personen der privaten Krankenversicherung wurden nicht berücksichtigt. Da es sich um die dokumentierten Diagnosen zu Abrechnungszwecken handelt, sind Dokumentationsbias und -fehler nicht auszuschließen [33]. Der Vergleich mit anderen Auswertungen aus Routinedaten zeigt, dass die Prävalenzschätzungen mikrovaskulärer Komplikationen stark von der Definition des Aufgreifkriteriums sowie der Analysepopulation abhängen und sich für Typ-1- und Typ-2-Diabetes teilweise erheblich unterscheiden. Eine Unterscheidung der Diabetestypen ist aufgrund der häufigen Codierung der unspezifischen Diabetesdiagnose (E14.-) erschwert [3] und konnte daher in der vorliegenden Arbeit nicht durchgeführt werden. Eine unerkannte Morbidität basierend auf Untersuchungsergebnissen, wie beispielsweise der augenärztlichen Untersuchung zur Diagnose der Retinopathie oder der Bestimmung der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR), konnte nicht berücksichtigt werden. Jedoch ermöglicht der Datensatz detaillierte Analysen nach Alter und Geschlecht sowie perspektivisch nach Region auch für seltene Erkrankungen oder Folgeerkrankungen. Zudem zeigt sich für die meisten Komplikationen eine relativ hohe Stabilität in der Dokumentation, da sich die Prävalenzschätzungen nur gering zwischen den Berichtsjahren 2012 und 2013 unterscheiden. Allerdings kann im Rahmen dieser Studie die Persistenz der Diagnose über die beiden Berichtsjahre nicht erfasst werden, was bedeutet, dass eine Diagnose im Vorjahr in der querschnittlichen Betrachtung nicht berücksichtigt wird, sofern diese nicht im aktuellen Berichtsjahr erneut gestellt wird.

Schlussfolgerung

Die Versichertendaten gemäß Datentransparenzverordnung erlauben prinzipiell eine detaillierte Prävalenzschätzung diabetischer Komplikationen. Da die Daten jährlich zur Verfügung stehen, eignen sich diese grundsätzlich zur Surveillance von Krankheiten. Allerdings zeigt sich ein differenziertes Bild der Codierpraxis. Diagnosen, welche eng an Leistungen geknüpft sind, wie die Dialyse, die chronische Niereninsuffizienz oder das diabetische Fußsyndrom, weisen eine relativ hohe Codierqualität auf und die Prävalenzschätzungen stehen im Einklang mit Schätzungen aus anderen Datenquellen. Im Gegensatz zeigt sich für die Retinopathie und Polyneuropathie möglicherweise eine Unterschätzung.

Routinedaten bieten vielversprechende Möglichkeiten zur Abschätzung epidemiologischer Kennzahlen. Allerdings müssen die Limitation der jeweiligen Datenquelle bei der Einordnung berücksichtigt werden und vertiefende Analysen von Versichertendaten sind notwendig, um die Validität der Schätzungen abzusichern. In der klinischen Praxis wäre es hilfreich, Codierstandards zu vereinheitlichen, um die Datenqualität für epidemiologische Auswertungen zu erhöhen. Möglicherweise können Initiativen wie die elektronische Patientenakte zu einer standardisierten Codierung von Diagnosen beitragen und Analysen zur Versorgungsqualität fördern.

Im Rahmen der Diabetes-Surveillance sind weitere explorative Analysen von Routinedaten einzelner Krankenkassen geplant mit dem Ziel, Algorithmen zur Differenzierung zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes und die Prävalenzschätzungen von diabetischen Komplikationen, insbesondere der Retinopathie, zu verbessern.