Zusammenfassung
Für Jugendliche mit extremer Adipositas gibt es bislang kein überzeugendes, wissenschaftsbasiertes Behandlungs- und Betreuungskonzept, weder in Deutschland noch in anderen Ländern. Die betroffenen Jugendlichen haben ein erhöhtes Risiko für zahlreiche somatische Folgeerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2, orthopädische Störungen und das Schlafapnoesyndrom. Auch psychische Störungen wie Depression und Angststörungen, soziale Phobien und selbstverletzendes Verhalten können sich aufgrund der funktionellen Beeinträchtigungen und der Stigmatisierung entwickeln. Soziale Isolation einschließlich Schulvermeidung und Arbeitslosigkeit können die Folge sein. Trotz dieser negativen Auswirkungen der extremen Adipositas im Jugendalter sind diese Jugendlichen medizinisch schwer zu erreichen und zu behandeln. Nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten sucht aktiv nach einer Behandlung.
In Kenntnis dieser Schwierigkeiten wurde von 2012–2019 die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte JA-Studie (Jugendliche mit extremer Adipositas) durchgeführt mit dem Ziel, die Versorgungskonzepte für diese vernachlässigte Gruppe von Jugendlichen zu verbessern. In unserem Beitrag zeigen wir mögliche Versorgungswege auf. Diese bestehen in der Begleitung der Jugendlichen und der Behandlung von Komorbiditäten, einer nachhaltigen Lebensstilintervention in einem geschützten Umfeld sowie einer Therapie zur Gewichtsreduktion durch Adipositaschirurgie. Übergeordnete Ziele für die Patienten bestehen dabei in einer Steigerung des Selbstwertgefühls, in der frühzeitigen Diagnose und Behandlung von Folgeerkrankungen und in einer Integration in den Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt.
Abstract
There is no convincing, science-based treatment or care concept for adolescents with severe obesity in Germany or other countries. The affected young people have an increased risk of numerous somatic comorbidities (e.g. type 2 diabetes mellitus, orthopaedic disorders and sleep apnoea syndrome), mental disorders (e.g. depression and anxiety disorders, social phobia and self-harming behaviour), as well as social isolation (e.g. avoidance of school and unemployment), which develops due to functional impairments and stigmatisation. Despite the negative effects of severe obesity in adolescence, these young people are medically difficult to reach and treat. Only a small percentage of patients actively seek treatment.
Aware of these difficulties, the German multi-centre Youth with Extreme Obesity (YES) Study (funded by the German Ministry of Education and Science; 01 GI 1120 A and B) was carried out between 2012 and 2019 with the aim of improving care concepts for this neglected group of young people. In our article, we show possible supply routes. These consist of accompanying the adolescents and treating their comorbidities, sustainable lifestyle interventions in a protected environment and treatment for weight reduction through bariatric surgery. The overriding goals for patients are an increase in self-esteem, early diagnosis and treatment of secondary diseases and integration into the training and labour market.
Definition und Prävalenz der extremen Adipositas bei Jugendlichen
Bei Erwachsenen wird von Adipositas ab einem Body-Mass-Index (BMI) >30 kg/m2 gesprochen. Die Adipositas kann dabei noch in verschiedene Grade unterteilt werden: Grad 1 (30,0–34,9 kg/m2), Grad 2 (35,0–39,9 kg/m2) und Grad 3 (≥40,0 kg/m2). Im Kindes- und Jugendalter müssen bei der Beurteilung des BMI die physiologischen alters-, entwicklungs- und geschlechtsspezifischen Veränderungen der Körpermasse in den Wachstumsphasen berücksichtigt werden. Die Bewertung des BMI im Kindes- und Jugendalter erfolgt unter Zuhilfenahme der alters- und geschlechtsspezifischen Perzentilwerte [1]. Adipositas und extreme Adipositas liegen bei einem BMI ≥97. Perzentil bzw. ≥99,5. Perzentil vor [2].
Basierend auf einer älteren Referenzstichprobe [1] haben Kurth und Schaffrath Rosario im Jahr 2007 für Deutschland in einer repräsentativen Stichprobe von Kindern und Jugendlichen eine Prävalenz der extremen Adipositas in Höhe von 2,5 % beobachtet. Auf dieser Basis wurde damals geschätzt, dass in Deutschland ca. 200.000 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 14 und 21 Jahren eine extreme Adipositas haben [3]. Es gibt Hinweise darauf, dass in Deutschland wie in anderen Ländern die Prävalenz der extremen Adipositas bei Jugendlichen aktuell ansteigt [4, 5]. Neuere Untersuchungen zeigen, dass bei einer kleinen Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit extremer Adipositas eine definierte genetische Ursache diagnostiziert werden kann, die möglicherweise eine pharmakologische Therapie in Aussicht stellt [6].
Extreme Adipositas – eine chronische Erkrankung
Wenn man die Definition für eine „chronische Erkrankung“ heranzieht, unter der eine länger andauernde, schwer heilbare Krankheit verstanden wird, dann erfüllt die extreme Adipositas bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen diese Kriterien (ICD 10: E66.85; [7]). Bei der extremen Adipositas bestehen Leistungsansprüche gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder der privaten Krankenversicherung. Die extreme Adipositas bei Jugendlichen ist nicht heilbar und verbunden mit zahlreichen Folgeerkrankungen und deutlichen körperlichen Funktionseinschränkungen. Besonders erwähnenswert sind das Schlafapnoesyndrom, kardiovaskuläre Störungen, die Insulinresistenz und das deutlich erhöhte Risiko für die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ 2.
Neben der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) gibt es seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine weitere Klassifikation, die dazu dient, den funktionalen Gesundheitszustand, den Grad der Behinderung, die soziale Beeinträchtigung und relevante Umgebungsfaktoren eines Menschen zu beschreiben: die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Die ICF klassifiziert Komponenten von Gesundheit wie Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) sowie Umweltfaktoren. Sie ist ressourcenorientiert und nimmt bezüglich der Ätiologie einen neutralen Blickwinkel ein. Ein wesentliches Zielkriterium medizinischer, pädagogischer und psychosozialer Maßnahmen ist nach der ICF die gesellschaftliche Teilhabe des behinderten Menschen. Jugendliche mit extremer Adipositas, die an einer mit extremer Adipositas assoziierten Teilhabeeinschränkung leiden, können als behindert gelten, wodurch ihnen Leistungen zur Teilhabe aus dem SGB IX zustünden.
Eine Übersicht über Leistungen und Maßnahmen für Jugendliche mit extremer Adipositas inklusive Kostenträger, Zuständigkeit und sozialgesetzlicher Grundlage ist in der Tab. 1 zusammengefasst (siehe auch [8] und [9]).
Gesundheitsbezogene Lebensqualität, Stigmatisierung und Diskriminierung
Adipositas im Kindes- und Jugendalter ist assoziiert mit Stigmatisierung, Diskriminierung, psychischen Auffälligkeiten/Störungen, Defiziten in sozialen Fertigkeiten und schulischen Belangen, Unzufriedenheit mit dem Körper sowie Beeinträchtigung des Selbstwertes und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität [10]. Jugendliche mit Adipositas weisen unabhängig vom Sozialstatus und der Schulbildung eine niedrigere gesundheitsbezogene Lebensqualität auf als normalgewichtige Gleichaltrige [11]. Bei LehrerInnen wurden negative Einstellungen gegenüber Schülern mit einem höheren Gewicht beobachtet [12]. Auch für den Einstieg ins Berufsleben gibt es Hinweise, dass Diskriminierungen vorliegen. Es wurde beispielsweise in einer experimentellen Studie beobachtet, dass ein Bewerbungsschreiben seltener beantwortet wurde, wenn ein Foto einer Person mit höherem Gewicht angefügt war [13].
Ergebnisse von verhaltenstherapeutisch basierten Schulungsprogrammen
Trotz der schwerwiegenden gesundheitlichen und psychischen Auswirkungen der extremen Adipositas im Jugendalter sind die betroffenen Jugendlichen medizinisch schwer zu erreichen und zu behandeln. Nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten sucht aktiv nach einer Behandlung. Die Gründe hierfür sind kaum verstanden und liegen vermutlich in dem jungen Alter, einer überwiegend niedrigen Bildung, einem niedrigen Sozialstatus, funktionellen Beeinträchtigungen infolge eingeschränkter körperlicher Mobilität, in psychischen Begleiterkrankungen und erfolglosen Versuchen, Gewicht abzunehmen, und der entstandenen Frustration. Letztlich ist auch zu diskutieren, inwieweit sich die Betroffenen von Ärzten verstanden wissen. Negative Erfahrungen mit dem medizinischen Versorgungssystem könnten zu einer geringeren Inanspruchnahme führen.
Die Analyse der publizierten Studiendaten zeigt, dass es für Jugendliche mit extremer Adipositas keine ausreichend wirksamen verhaltenstherapeutischen Therapieprogramme gibt [14,15,16,17,18]. Die extreme Adipositas hat in Bezug auf eine dauerhafte Gewichtsreduktion im Rahmen der konventionellen Behandlungsprogramme eine sehr schlechte Prognose. Die betroffenen Patienten sind sozial und beruflich nur schwer zu integrieren und sind deshalb isoliert.
Die unzureichende Wirksamkeit von kurzzeitigen Therapiemaßnahmen (z. B. wenige Wochen stationäre Reha oder wenige Monate ambulante Therapie) sind in aktuellen Auswertungen der Ergebnisse solcher Maßnahmen gut dokumentiert [19]. Die meisten Jugendlichen mit extremer Adipositas verbleiben auch nach abgeschlossener Intervention in der Kategorie der extremen Adipositas [18,19,20].
Danielsson und Mitarbeiter [20] untersuchten über 3 Jahre den Gewichtsverlauf in einer großen Kohorte von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas und konnten zeigen, dass Jugendliche mit extremer Adipositas im Rahmen einer ambulanten, verhaltenstherapeutisch basierten Adipositastherapie meist keine Änderung des Schweregrades ihrer Adipositas erreichen konnten. Nur bei 2 % konnte eine bedeutsame Gewichtsreduktion erzielt werden. Die Ergebnisse waren bei jüngeren und bei weniger adipösen Kindern besser. Die Autoren werfen ebenso wie andere [19] daher die Frage auf, ob es ethisch noch vertretbar ist, diesen Patienten eine konventionelle Therapiemaßnahme anzubieten [20].
In Einzelfällen konnte gezeigt werden, dass durch eine grundlegendere Änderung der Lebensbedingungen, z. B. durch die Eingliederung in eine Wohngruppe oder durch eine längerfristige Rehamaßnahme gute Langzeiterfolge erreicht werden können [21, 22].
Eine realistische Chance auf eine substanzielle Gewichtsreduktion besteht bei Jugendlichen mit extremer Adipositas lediglich durch eine adipositaschirurgische Maßnahme. Voraussetzungen, Ausschlusskriterien und Risiken der Adipositaschirurgie sind an anderer Stelle festgehalten [23]. Diese invasive Therapie ist bei Jugendlichen immer noch im experimentellen Stadium, insbesondere deshalb, weil die Langzeitfolgen der dann veränderten Physiologie des Magen-Darm-Traktes unbekannt sind (z. B. schwerwiegende Mangelernährung, Osteoporose, Erhöhung der Suizidrate durch Fehlen der Essenslustbefriedigung).
Aufgrund des massiven Eingriffes in die körperliche Unversehrtheit und aufgrund der nicht übersehbaren Langzeitrisiken einer solchen Operation ist bei Jugendlichen vor einer Adipositaschirurgie eine intensive Vorbetreuung ggf. in einem geschützten Umfeld (Wohngruppe bzw. längerfristige Rehabilitation) zu erwägen.
Vorrangig sind in dieser Lebensphase nicht nur die Gewichtsreduktion und Verbesserung der Folgeerkrankungen das Ziel, sondern auch die Vorbereitung auf eine gute Integration in die Gesellschaft und in die Arbeits- und Berufswelt.
Mögliche Versorgungswege
Jugendliche mit extremer Adipositas, die sich an ein Adipositaszentrum wenden, haben unterschiedliche Bedarfe und persönliche Ziele, die sie mit der multiprofessionellen Versorgung verbinden. Diese gehen deutlich über die Gewichtsreduktion hinaus. Es ist notwendig, dass eine Person betimmt wird („case manager“), die verantwortlich für die Koordination der Abläufe ist und den Kontakt zu den Patienten hält. In einem ersten Schritt sollte ein individuell angemessener Versorgungsplan erarbeitet werden:
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Bei der Vorstellung des Patienten in einem Adipositaszentrum wird der Gesundheitsstatus mit psychischen und somatischen Komorbiditäten erfasst. Im Gespräch mit einem Psychologen/Kinder- und Jugendpsychiater/Psychiater und/oder Sozialpädiater wird außerdem der psychosoziale Hintergrund erhoben.
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Danach sollte ein Bedarfsplan erstellt und führende Probleme und damit Ziele sollten herausgearbeitet werden.
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Bei Patienten, die viele Bedarfe haben, sollten möglichst Vertreter aller infrage kommenden Institutionen, Fachleute und Träger zu einem runden Tisch zusammenkommen, um einen Teilhabeplan zu erarbeiten, z. B. über die Servicestellen für Rehabilitation, Jugendämter und Familiengerichte.
Mögliche Ziele sind:
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Verbesserung der Lebensqualität und der Krankheitsakzeptanz,
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Bewältigungsmaßnahmen (Coping, psychische Stabilisierung),
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Gewichtsreduktion bei extremem BMI und ausgeprägten Komorbiditäten,
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Behandlung von Komorbiditäten (somatisch wie psychiatrisch),
-
Wiedereingliederung in Schule oder Ausbildung,
-
Unterstützung der Familie bei starker familiärer psychosozialer Belastung.
Im Folgenden werden mögliche Versorgungswege (Hilfemaßnahmen) für Jugendliche mit extremer Adipositas dargestellt, die auf der Basis der Studienlage sowie aufgrund vorhandener Erfahrungen und der Einschätzung der Autoren sinnvoll sein können. Es ist den Autoren bewusst, dass die beschriebenen Versorgungswege einer weiteren wissenschaftlichen Evaluation bedürfen. Es werden nachfolgend 3 übergeordnete Versorgungswege beschrieben, die miteinander kombiniert und zusätzlich durch weitere Maßnahmen unterstützt werden können.
Diese möglichen Versorgungswege für extrem adipöse Jugendliche und junge Erwachsene sind:
-
1.
Begleitung der Jugendlichen und Behandlung der Komorbiditäten (Tab. 2),
-
2.
nachhaltige Lebensstilintervention durch Lebensstiltraining ggf. in einem geschützten Umfeld (z. B. länger dauernde stationäre Reha, ggf. Unterbringung in einer Wohngruppe; Tab. 3),
-
3.
Gewichtsreduktion durch Adipositaschirurgie (nach Ausschöpfung aller konservativen Maßnahmen; Tab. 4).
Nachhaltige Lebensstilintervention durch Lebensstiltraining
Spezialisierte Rehabilitationszentren wie das Rehabilitationszentrum Insula in Bischofswiesen bieten Wohngruppen sowie stationäre Aufenthalte mit einer Dauer von mehreren Monaten an. Siegfried et al. untersuchten in einer Katamnesestudie die kurz- und mittelfristige (nach 18 Monaten) Gewichtsentwicklung von n = 98 extrem adipösen Jugendlichen [21]. 18 Monate nach dem Ende der stationären Therapie zeigten 55,4 % der untersuchten Patienten noch einen um −0,39 Einheiten niedrigeren BMI-SDS als zum Zeitpunkt der Aufnahme zur stationären Therapie [21]. In einer weiteren Arbeit haben Brandt et al. die BMI-Langzeitverläufe von n = 10 Patienten, die unter stationärer Therapie (mindestens 6 Monate) sowie langfristig (mindestens 3 Jahre nach Therapieende) den unter Therapie reduzierten BMI halten konnten, beschrieben. Bei den n = 5 Jugendlichen männlichen Geschlechts konnten langfristig Reduktionen im BMI zwischen −12,5 und −19,1 kg/m2 beobachtet werden. Bei den Mädchen variierten die langfristig beobachteten Reduktionen zwischen −5,2 kg/m2 und −23,9 kg/m2. Bei 4 Patienten wurde langfristig sogar Normalgewicht erreicht [22]. Diese Beobachtungen zeigen, dass es eine kleine Teilgruppe von extrem adipösen Jugendlichen gibt, die durch eine nachhaltige Lebensstilintervention in einem geschützten Umfeld (Tab. 3) eine Gewichtsreduktion und -stabilisierung erreichen können. Daher sollte diese Therapieoption vor einer operativen Maßnahme zur Gewichtsreduktion (Adipositaschirurgie) angestrebt werden.
Allerdings fehlt zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine systematische Erfassung der Nebenwirkungen solcher Langzeittherapien, die erst eine fundierte Abwägung ermöglichen würde. Dies trifft insbesondere auf die Jugendlichen zu, die nach der Beendigung der Maßnahme erneut zunehmen und unter Umständen das Ausgangsgewicht überschreiten. Erhöhte somatische und psychiatrische Risiken sind für diese Untergruppe anzunehmen.
Adipositaschirurgie nach Ausschöpfung konservativer Maßnahmen
Bei Erwachsenen ist die Anwendung der Adipositaschirurgie eine anerkannte Form der Therapie der extremen Adipositas als Begleitform zur verhaltensmodifizierenden und medikamentösen Therapie der Komorbiditäten. Die Anwendung der bariatrischen Chirurgie bei extrem adipösen Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Tab. 4) ist aktuell noch in Diskussion. Bisher wurden in mehreren Fachgruppen Empfehlungen zur bariatrischen Chirurgie bei extrem adipösen Jugendlichen publiziert. Die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter hat bereits im Jahr 2012 eine Information und Stellungnahme publiziert [23]. Aufgrund des massiven Eingriffes in die körperliche Unversehrtheit ist bei Jugendlichen, aber auch bei jungen Erwachsenen vor einer Adipositaschirurgie eine nachhaltige Lebensstilintervention durch Lebensstiltraining ggf. in einem geschützten Umfeld (z. B. länger dauernde stationäre Reha ggf. Wohngruppe) zu erwägen.
Für arbeitslose Jugendliche im Altersbereich 18–25 Jahren mit extremer Adipositas liegen erste Daten vor, welcher Prozentsatz eine adipositaschirurgische Maßnahme nach einem strukturierten konventionellen Gewichtsreduktionsprogram anstrebt und auch tatsächlich erreicht. Auch liegen erste Ergebnisse zu Gewichtsabnahmen im Rahmen des konventionellen Therapieprogramms und der chirurgischen Maßnahmen vor [24].
In ein systematisches Review wurden prospektive klinische Studien und Beobachtungsstudien zur Adipositaschirurgie bei Jugendlichen ≤18 Jahren eingeschlossen, die vor 2014 publiziert wurden [25]. Das systematische Review beinhaltet 37 Studien (15 prospektive Studien und die zuvor beschriebenen RCT). Die Reduktion im BMI variierte in Abhängigkeit von der verwendeten Methode der Adipositaschirurgie: Laparoskopisch angelegtes Magenband 11,6 kg/m2 (95 % KI 9,8–13,4), Roux-en-Y-Magen-Bypass (RYGB) 16,6 kg/m2 (95 % KI 13,4–19,8), laparoskopische Schlauchmagenoperation 14,1 kg/m2 (95 % KI 10,8–17,5). Die Autoren weisen darauf hin, dass unerwünschte Nebenwirkungen und Langzeitkomplikationen häufiger und schwerwiegender in der Gruppe der Patienten mit RYGB auftraten, im Vergleich zu den Patienten, die mit den anderen beiden Verfahren operiert wurden. Es gilt zu berücksichtigen, dass es für die Schlauchmagenoperation aktuell noch weniger Daten gibt als für die anderen beiden Verfahren. Bei allen drei Operationsmethoden zeigte sich im Verlauf eine Verbesserung in den adipositasassoziierten kardiometabolischen Risikoparametern wie Dyslipidämie und Typ 2 Diabetes mellitus sowie in der Lebensqualität. Neue Daten bei Erwachsenen zeigen allerdings, dass zwar Depressivität bzw. die Häufigkeit von Depression kurz- und mittelfristig abfällt, es aber bei einer Untergruppe der Patienten zur Fortdauer bzw. erneutem Auftreten einer Depression kommt. Auch ist in einigen Studien eine erhöhte Suizidrate festgestellt worden [26].
Begleitende Maßnahmen
Die nachfolgend aufgelisteten Maßnahmen sollten für jeden Patienten (unabhängig vom Versorgungsweg) initiiert werden:
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Begleitung des Patienten und seiner Familie, Optimierung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens,
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Bewältigungsmaßnahmen (Coping, psychische Stabilisierung),
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Wiedereingliederung in Schule oder Ausbildung (s. unten),
-
Unterstützung der Familie bei starker familiärer Belastung mit sogenannten Hilfen zur Erziehung, z. B. Familienhilfe, Einzelfallhilfe, soziale Gruppen,
-
bei V. a. Kindeswohlgefährdung Information an das Jugendamt,
-
ggf. Überprüfung des Behindertenstatus über das Versorgungsamt,
-
Beantragung von Rehasport über die gesetzlichen Krankenkassen möglich.
Wiedereingliederung in die Schule:
-
Beratung zur optimalen Schulform
-
Unterstützung durch Vertrauenslehrer, schulpsychologischen Dienst
-
Psychologische/psychiatrische Unterstützung bei Vorliegen von psychischen Störungen und Schulproblemen/Schulvermeidung
Wiedereingliederung in die Ausbildung (Unterstützung durch Agenturen für Arbeit/Jobcenter):
-
Zugang zu Jugendlichen findet schon in der Schule im Rahmen der Berufsorientierung statt, danach individuelles Beratungsgespräch möglich (freiwillig!)
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Angebot einer persönlichen Beratung durch die Beratungsfachkraft Berufsberatung und/oder Rehaberatungsfachkraft zur Feststellung des individuellen Unterstützungsbedarfes (allein aufgrund der Diagnose Adipositas kein genereller Rehabedarf, daher immer Einzelfallentscheidung)
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Prüfung, ob Ausbildungsfähigkeit vorliegt
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Bei Bedarf Einschalten der Fachdienste mit Auswertung der medizinischen Befunde, Gesundheitsfragebogen, ggf. Antrag eines Schwerbehindertenausweises beim Versorgungsamt und Gutachtenerstellung: besondere Hilfen oder normale Ausbildung
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Beratung zu Maßnahmen und Leistungen der Bundesagentur
-
Berufsvorbereitende Maßnahmen
-
Förderung einer Berufsausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen (BaE)
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Ausbildung in einem Berufsbildungswerk (BBW), cave: BBW sind keine medizinischen Einrichtungen, d. h., Psychologen und Sozialpädagogen sowie zusätzliche medizinische Betreuung notwendig
-
Ausbildungszuschüsse: Bis zu 12 Monate Lohnkostenzuschuss an Arbeitgeber im Falle einer sozialversicherungspflichtigen Anstellung möglich. Bei Vorliegen einer schwerbehinderten Eigenschaft (besonders betroffene schwerbehinderte Menschen) ggf. auch länger
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Eingliederungszuschuss: für alle >6 Monate Arbeitslosen möglich, der Eingliederungszuschuss ist nicht zwingend auf die Dauer der Arbeitslosigkeit begrenzt. Im Einzelfall reicht ggf. auch eine drohende Arbeitslosigkeit aus
-
Berufsvorbereitendes Jahr mit Betreuung möglich (BvB)
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Werkstatt für behinderte Menschen (WFBM), wenn eine zusätzliche Behinderung (beispielsweise eine starke psychische Störung) eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließt
Fazit
Jugendliche mit extremer Adipositas sind eine bislang im deutschen Gesundheitssystem vernachlässigte Patientengruppe. Die Ziele von innovativen Versorgungskonzepten bestehen in einer Verbesserung der Lebensqualität und der Krankheitsakzeptanz, in Bewältigungsmaßnahmen (Coping, psychische Stabilisierung), in der Behandlung von Komorbiditäten (somatisch wie psychiatrisch), in einer Gewichtsreduktion bei extremem Body-Mass-Index (BMI) und ausgeprägten Komorbiditäten ggf. durch eine adipositaschirurgische Maßnahme, in einer Wiedereingliederung in Schule oder Ausbildung sowie in der Unterstützung der Familie bei starker familiärer psychosozialer Belastung. Die dafür nötigen Versorgungsstrukturen müssen mit Unterstützung der Kostenträger etabliert werden.
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Danksagung
Wir danken Frau Maxi F. Siebert und Frau M. Fuchs für die Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.
Förderung
Diese Arbeit wurde durch Mittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der JA-Studie unterstützt (JA: Jugendliche mit extremer Adipositas, Projektfördernummer: 01 GI 1120A u. B). Die Ergebnisse eines Gesprächs am „Runden Tisch“ unter Beteiligung von Vertretern der JA-Studie, der Krankenkassen, der MDKs Baden-Württemberg und Bayern, des Arbeits- und Sozialministeriums Baden-Württemberg, des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) Ulm und der Agentur für Arbeit Ulm flossen in den Inhalt dieser Arbeit ein.
Funding
Open Access funding provided by Projekt DEAL.
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Interessenkonflikt
M. Wabitsch, J. v. Schnurbein, H. Vollbach, B. Lennerz, H. Weyhreter, S. Wiegand, W. Kiess, J. Hebebrand und S. Brandt geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Wabitsch, M., v. Schnurbein, J., Vollbach, H. et al. Innovative medizinische Betreuungskonzepte für Jugendliche mit extremer Adipositas. Bundesgesundheitsbl 63, 831–838 (2020). https://doi.org/10.1007/s00103-020-03167-y
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00103-020-03167-y
Schlüsselwörter
- Körpergewichtsregulation
- Adipositaschirurgie
- Jobcenter
- Wohngruppe
- Stigmatisierung
Keywords
- Body weight regulation
- Bariatric surgery
- Job center
- Living unit
- Stigmatisation