Die traditionelle chinesische Arzneimitteltherapie (TCA) gilt in China als die wichtigste Therapiemethode der TCM. Als Voraussetzung für eine (richtige) Wirkung der TCA wird eine korrekte „chinesische Diagnose“ nach den diagnostischen Verfahren der TCA [9, 11, 12] erstellt, dann die Rezeptur ausgewählt, modifiziert und dem Patienten verordnet.
Grundprinzip ist die Kombination von 2–15 Arzneikräutern in einer individuellen Rezeptur. Die Rationalen sind Wirkverstärkung, Nutzung von Synergismen einzelner Arzneipflanzen, Lenkung der Rezepturmischung, Minderung von Geruchs- und Geschmacksbelästigung sowie unerwünschten Arzneiwirkungen. Klassisch werden die Mittel zusammen als Abkochung (Dekokt) verabreicht, moderne Applikationsformen sind Pulver, Granulierungen, Pillen und Sirupe. Vorausgehend werden die Arzneidrogen häufig vorbearbeitet (prozessiert, „paozhi“; [21]).
Voraussetzung sind die induktiv-empirische Systematik der (traditionellen) chinesischen Medizin [8, 9] und des – trotz aller Zeitläufe – bewahrten traditionellen Medizinwissens, weiter die Biodiversität Chinas (ca. 12 % aller weltweit bekannten Pflanzenarten sind in China beheimatet) und der daraus resultierende hohe Anteil arzneilich nutzbarer Arten (ca. 700 offizielle Einträge in der Pharmakopöe der VR China 2005, Band 1 [22]).
Prinzipiell handelt es sich bei der TCA um eine allopathische Medizin. Zu den Inhaltsstoffen liegen umfangreiche Untersuchungen vor [11, 12]. Wie in der Phytotherapie üblich, sind nur sehr selten einzelne Wirkstoffe identifizierbar (beispielsweise UDCA, Artemisinin, Berberin, Baikalin). Vielmehr sind Wirkstoffgemische für die Wirkung verantwortlich. Diese Wirkstoffgemische entfalten nur als solches den Effekt (analog z. B. zum Johanniskrautextrakt). Zur Materia Medica, zu den Rezepturen und zum System der TCA sind Standardwerke erhältlich. Derzeit erarbeitet die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) europäische Monografien chinesischer Arzneidrogen. In einem interdisziplinären Projekt unter Führung der Landesanstalt für Landwirtschaft Weihenstephan wird der Anbau von TCA-Pflanzen erforscht. Aktuell können mehr als 20 Arzneipflanzen unter kontrollierten Bedingungen auch hier kultiviert werden. Dabei wurden umfassende Kenntnisse zu Inhaltsstoffen, Identität und Sicherheit gewonnen [23].
Wirkweise und Studienlage zur Wirksamkeit der TCA
Zu Wirkungen und Wirksamkeit der TCA ist inzwischen eine Vielzahl von Studien und Reviews erschienen. Aufgrund der großen Breite der Rezepturen/Wirkstoffe und Indikationsvielfalt sind diese aber sehr widersprüchlich.
Die traditionellen Wirkprinzipien der TCA (Verordnung nach TCM-Diagnosen) sind nur in wenigen Studien, die den aktuellen Standards entsprechen, überprüft worden: In dem 1998 im Journal of the American Medical Association (JAMA) veröffentlichen RCT zum Reizdarm [24] wurden doppelblind sowohl eine TCA-Standardrezeptur als auch nach TCA-Kriterien individualisierte Rezepturen mit Placebo verglichen. Nach 16 Wochen waren beide Verumgruppen signifikant zum Placebo gebessert. Im Follow-up hielt der Besserungseffekt bei der Individualgruppe an, bei der Standardrezepturgruppe kam es häufiger zum Rückfall.
Wirkprinzipien nach westlichen pharmakologischen Modellen
Zu den Wirkprinzipien nach westlichen pharmakologischen Modellen liegen zahlreiche Untersuchungen vor, sowohl in vitro als auch an Tiermodellen. Insgesamt konnten allein durch eine Literaturrecherche in Pubmed aktuell 16.356 (Abfrage am 01.10.2019) Einträge dazu gefunden werden.
Asthma.
In einer Studie zur Behandlung von Asthma mit TCA wurden immunmodulatorische und antiinflammatorische Effekte sowie eine relaxierende Wirkung auf die Atemwegsmuskulatur einer Rezeptur aus Ganoderma, Sophora- und Astragalus-Wurzeln („ASHMI“) nachgewiesen. Der Cough Symptom Score CSS 4,7 (3,5–5,7) vorher, wurde eine Verbesserung auf dann 0,9 (0,14–2,3) nachgewiesen, die nach 4 Wochen einer Verbesserung mit einer Prednisontherapie (CSS vorher 4,7, nachher 0,6) gleichwertig waren. Allerdings nahmen die Patienten in der Prednisongruppe 2,4 kg zu. Nach 3 Monaten Einnahme der ASHMI-Medikation nahm das Serum-IgE ab und der Serum-Interferon-Gamma-Spiegel zu [25].
Krebserkrankungen.
Aktuelle Studien und Reviews zur TCA weisen auf eine unterstützende Wirkung bei Krebserkrankungen hin. Eine Metanalyse zu Astragali Radix (Huangqi) zeigt eine unterstützende Wirkung bei Chemotherapien beim kleinzelligen Bronchialkarzinom. In 12 Studien wurde ein reduziertes Sterberisiko in 12 Monaten gefunden (Risk Ratio RR = 0,67, KI 95 %: 0,52–0,87), in 30 Studien eine verbesserte Tumorresponse (RR 1,34, KI 95 %: 1,24–1,46; [26]). Es traten keine vermehrten Nebenwirkungen oder Interaktionen mit der platinbasierten Chemotherapie auf. Postulierte Mechanismen sind Stimulierung der Makropagen- und T‑Killerzellaktivität sowie Interleukin(IL)-Inhibition. Berberin, ein Hauptbestandteil der Arzneidrogen Coptis Rhizoma (Huanglian) und Scutellariae Radix (Huangqin), ist ein Breitspektrumenzyminhibitor und weist antiproliferative wie proapoptotische Effekte auf [27].
Atopische Dermatitis.
In mehreren, wenn auch kleinen RCTs wurde eine Wirksamkeit der TCA bei atopischer Dermatitis gesehen. In einer weiteren Studie wurden als immunologisches Korrelat reduzierte Serum-IgE-Komplexe, IL-4-Aktivität und IL-2-Rezeptorzellaffinität gefunden [28].
Colitis/chronisch entzündliche Darmerkrankung (CED).
Bei Colitis/CED scheinen die benutzten Arzneidrogen antiinflammatorische Effekte zu haben.
Zusammenfassend gibt es bereits zahlreiche Publikationen zu den Wirkmechanismen und -prinzipien. Insbesondere wurden bisher immunmodulatorische, antiinflammatorische, antitumoröse Eigenschaften aufgezeigt. Dementsprechend kann angenommen werden, dass auch bei allergischen und immunologischen Erkrankungen (Asthma, Neurodermitis), komplementär zur Tumortherapie, bei entzündlichen Darmerkrankungen sowie funktionellen Störungen pharmakologische Prinzipien anwendbar sind.
Aufgrund der Vielzahl der Einzelarzneien und Rezepturen, der Inhaltsstoffe, der Wirkstoffgemische und möglicher Indikationen ist jedoch weitere umfassende Forschung zwingend erforderlich.
Daten zur Wirksamkeit von TCA
Randomisierte kontrollierte Studien (RCT) gibt es u. a. zum IBS, (komplementär) beim Pankreaskarzinom, zu Ginseng bei karzinomassoziierter Fatigue und, wie in Abb. 1 dargestellt, bei fortgeschrittenem Bronchialkarzinom mit platinbasierter Chemotherapie [29]. Hier zeigte sich, dass die Lebensqualität (EOCG- und FACT-l-Scores) dieser Patientengruppe durch zusätzliche Gabe von TCA im Vergleich zu einer Placebokräutergruppe deutlich verbessert werden konnte.
Für die TCA liegen Cochrane-Reviews bzw. Metaanalysen mit positiven Hinweisen auf die Wirksamkeit bspw. zu folgenden Indikationen und Diagnosen vor:
In-vitro-Fertilisation (IVF): Die Kombination aus TCA und IVF erhöhte signifikant die Fertilitätsraten (OR 2,04, 95 % KI: 16,67–2,40, p < 0,0001; [30]).
Nephrotisches Syndrom: Astragali Radix führte zu einer Verbesserung der Albuminausscheidung (0,57 g/24 h, 95 % KI: −1,04–−0,10) und des Allgemeinprogresses beim nephrotischen Syndrom [31].
Schizophrenie: Für die Rezeptur „Dekokt, das den Fk Gallenblase erwärmt“ (Wendan Tang) bei Schizophrenie, die komplementär zu Antipsychotika gegeben wurde, liegen Wirksamkeitsnachweise vor [32, 33].
Akute Infekte der Atemwege [34]: Hier war das Forschungsteam durch die verschiedenen TCA-Diagnosen (siehe Differenzialtherapie abhängig vom Syndrommuster) und dadurch verschiedene Rezepturen aber nicht in der Lage, eine einheitliche Rezeptur zu filtern.
Postoperative Behandlung von Endometriose: TCA führte zu einer deutlichen Verbesserung und Rückgang von Adnexherden als Danazol (RR 1,70, 95 % KI: 1,04–2,78; [35]).
Primäre Dysmenorrhö: TCA führte zur einer Schmerzlinderung (14 RCTs; RR 1,99, 95 % KI: 1,52–2,60), Verbesserung des Allgemeinzustandes (6 RCTs; RR 2,17, 95 % KI: 1,73–2,73) verglichen zu anderen Schmerzmitteln [36].
Pathologische Glukosetoleranz: Durch TCA in Kombination mit Lebensstiländerungen normalisierten sich die Blutzuckerwerte doppelt so häufig, als wenn lediglich Lebensstiländerungen durchgeführt wurden (RR 2,07; 95 % KI: 1,52–2,82). Die TCA-Gruppe hatte einen deutlich selteneren Progress im Vergleich zu Vollbilddiabetes (RR 0,33; 95 % KI: 0,19–0,58; [37]).
Atopische Dermatitis: Es gibt Hinweise zur Wirksamkeit in [28, 38].
Prämenstruelles Syndrom: Nachweise von Wirksamkeit bei der Symptomreduktion (RR 3,50, 95 % KI: 1,74–7,06) gibt es in [39].
Nebenwirkungen durch Chemotherapie bei Karzinom: Zur Reduktion von Übelkeit (Nausea) und anderen Nebenwirkungen wie Leukopenie gibt es Hinweise zur Wirksamkeit von Astragali Radix in [40].
Palliativversorgung: Zur Unterstützung in der Palliativversorgung zur Schmerzreduktion (Schmerzreduktion 3 RCTs, 95 % KI: −1,69 bis −0,11), Verstopfung und Fatigue [41, 42].
Nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom (komplementär): [26, 42].
Akute Pankreatitis (komplementär): [43].
Akute und chronische Harnwegsinfekte: Es kam zu weniger Rückfällen bei akuten (RR 1,21, 95 % KI: 1,11–33) und bei chronischen Harnwegsinfekten (RR 0,53, KI 95 %: 0,35–0,80; [44]).
Kritik und negative Studienlage zu TCA
Negative Metaanalysen (Cochrane-Reviews u. a.) liegen u. a. zu HIV/Aids, Diabetes mellitus Typ 2, Hepatitis C (mit Einschränkungen) sowie Uterusfibromen vor [45, 46].
Generell werden bei den aus China stammenden Studien die Größe, Berichtsqualität, Heterogenität, mangelnde Vergleichbarkeit sowie unklare Angaben insbesondere zur Randomisierung kritisiert und dadurch eine mögliche Verzerrung (Bias) kritisch bewertet [47].
Methodenkritisch muss bei Bewertung der TCA ausschließlich durch RCTs die asymmetrische Aussagekraft der RCTs in Betracht gezogen werden. Während ein positives Ergebnis Beweiskraft besitzt, ist ein negatives Ergebnis einer RCT kein negativer Beweis. („The major weakness of the randomized controlled trial is the difficulty for protection against false negativity“ [48, 49].) Das Design der RCT ist für manche Fragestellungen ungeeignet. Fallkontrollstudien, prospektive Kohortenstudien, Serien von Einzelfallberichten, Konsensuskonferenzen von Experten u. a. scheinen speziell auch im Fall der TCA mit der sehr komplexen Differenzialdiagnose und den Therapiestrategien besser geeignet, um weitere Evidenz (positiv wie negativ) zu gewinnen.
Sicherheits- und Qualitätsaspekte der TCA
Trotz negativer Medienberichte ist festzustellen, dass Nebenwirkungen bei korrekter Anwendung, Sicherung der Arzneiqualität (Prüfung auf Verunreinigungen und Identität, Abgabe durch Apotheken) nach aktuellem Wissensstand selten sind. Das Zentrum für Therapiesicherheit in der TCA (www.ctca.de) konnte in den letzten 15 Jahren nachweisen, dass nur in wenigen Fällen Anstiege der Leberwerte auftraten, die aber reversibel waren. Weitere Nebenwirkungen waren Durchfall, Allergien, idiosynkratische Reaktionen und Interaktionen mit westlichen Medikamenten. Sicherheitsrisiken und Qualitätsmängel entstehen in der TCA, wenn
chinesische Arzneimittel über das Internet oder den Graumarkt erworben werden,
vorgegebene Standards zur Identitätssicherung, Qualität und Reinheit der Arzneidrogen nicht eingehalten werden sollten, was aber bei Abgabe durch Apotheken ausgeschlossen sein sollte,
die verschreibenden Ärzte nicht ausreichend ausgebildet sind.
Einen Überblick über den Stand der Therapiesicherheit geben Publikationen von Hempen [50] und Wiebrecht [51].