Hintergründe

Weltweit wird eine deutliche Zunahme von Erkrankungen aus dem Formenkreis des Diabetes mellitus festgestellt [1, 2]. Im Bericht zum Projekt „Global Burden of Disease“ (2015) wird ein Anstieg der Prävalenz des Diabetes um fast 31 % von etwa 333 Mio. auf 435 Mio. Erkrankte im Zeitraum von 2005 bis 2015 vermerkt [3]. Für das Jahr 2019 gibt die International Diabetes Federation (IFD) 463 Mio. erwachsene Diabeteskranke an [4].

In Deutschland erhalten jährlich rund 500.000 Menschen neu die Diagnose Typ-2-Diabetes. Tatsächlich besteht bei etwa 10 % der deutschen Bevölkerung eine Diabetesdiagnose, schätzungsweise 367.000 Menschen leben mit einem Typ-1-Diabetes [5]. Aufgrund seiner hohen Inzidenz und Prävalenz wurde Diabetes von der IDF zum „Notfall der öffentlichen Gesundheit“ (Public Health Emergency) erklärt [6, 7]. Eine aktuelle Vorausberechnung der Anzahl Typ-2-Diabeteserkrankter in Deutschland bis 2040 berücksichtigt nicht nur die erwartete Veränderung der Alterspyramide, sondern auch erwartete Veränderungen während des Verlaufs der Erkrankung hinsichtlich Inzidenz und Mortalität [8]; hier werden 10,7–12,3 Mio. Erwachsene mit Typ-2-Diabetes vorhergesagt.

Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass in Deutschland, wie auch in anderen wohlhabenden Industrienationen, eine zu reichliche Ernährung und eine längere Lebenserwartung deutliche Auswirkungen auf die Inzidenz des Typ-2-Diabetes (im höheren Alter) haben, wie auch in den Entwicklungsländern die Zunahme von Wohlstand und „westlicher Lebensweise“ die Zahlen nach oben treibt.

Wie entstehen Mythen zur Diabetesbehandlung?

Mythen in der Medizin sind Narrative, die innerhalb einer Gruppe von Menschen verbreitet und akzeptiert werden und Teil ihrer kulturellen Identität sein können. Sie können das Leben der Betroffenen stark beeinflussen und die Verarbeitung von Krankheitserleben sowie den Behandlungswunsch, die Akzeptanz von Therapien und etwaig notwenige Veränderungen von Ernährung und Lebensstil (Life Style) beeinflussen [9].

Der weltweite Trend einer massiven Zunahme der Prävalenzzahlen des Diabetes hat zum einen eine intensive Ursachenforschung ausgelöst, zum anderen aber auch die Entwicklung von unterschiedlichsten Behandlungsansätzen bedingt, die vom gänzlich obskuren, bestenfalls symptomatisch orientierten bis hin zum molekulargenetisch begründeten Therapiekonzept reichen [10,11,12,13,14]. Auch historisch bedingt halten sich irrtümliche Erklärungsversuche zur Krankheitsursache, spirituelle und unwissenschaftliche Behandlungsmuster sowie krasse Fehleinschätzungen gemischt mit solide erforschten und pathophysiologisch begründeten Therapieversuchen. Ein interessantes Beispiel findet sich in einer Studie an Diabetikern und ihren Angehörigen aus Indien. Hier wurde eine Stichprobe in einem Lehrkrankenhaus in Delhi untersucht, bei der etwas mehr Angehörige als Erkrankte angaben, dass Diabetes nur im Alter und als Strafe für Sünden auftrete, durch spirituelle Behandlung geheilt werden könne, durch Fußbäder der Blutzucker kontrolliert werden könne und, am häufigsten vermutet, dass vermehrter Verzehr von Zucker eine Diabeteserkrankung verursachen könne [11].

Trotz der rapiden Zunahme der Erkenntnisse verschwinden die Mythen und Fehleinschätzungen bei Betroffenen und Behandlern nicht, werden gelegentlich durch andere ersetzt und es finden sich Vermutungen zur Entstehung der Erkrankung, zur Behandlung und zur Prognose, die sich bereits seit sehr langer Zeit halten. Aber nicht nur in Entwicklungsländern mit begrenztem Bildungsstand bestimmter Bevölkerungsgruppen werden vergleichbare Mythen und Fehleinschätzungen beschrieben. Um aufzuklären, sprechen diverse Gesundheitseinrichtungen und Fachgesellschaften (zum Beispiel die American Diabetes Association [ADA]) öffentlich und dezidiert Mythen an, die bei Patienten*innen verbreitet sind, und versuchen laiengerecht aufzuklären (Tab. 1; [15,16,17]). Interessanterweise müssen auch professionelle, medizinische Versorger auf Mythen und Fehleinschätzungen hingewiesen werden, die negative Konsequenzen bei der Behandlung der Erkrankten haben können (Tab. 2; [9, 18, 19]).

Tab. 1 Verbreitete Mythen und Fehleinschätzungen zu Diabetes mellitus und ihre Klarstellung. (Modifiziert nach [15,16,17])
Tab. 2 Ärztliche Fehleinschätzungen zu Diabetes mellitus

Entstehung und hartnäckiges Überdauern von Mythen bei der Erklärung von Ursachen, Behandlungskonzepten und prognostischen Einschätzungen lassen sich vielleicht über die Historie des Diabetes mellitus erklären. Etwa um 1500 v. Chr. beschrieben die Ägypter im Papyrus Ebers ein Krankheitsbild, das durch Gewichtsverlust und massiv vermehrten Urinabgang auffiel [20]. Aretaios von Kappadozien (80–138 n. Chr.) wies dann auf den süßen Geschmack des Urins hin. Er stellte fest: „Diabetes ist ein furchtbares Leiden, nicht sehr häufig beim Menschen, ein Schmelzen des Fleisches und der Glieder zu Harn … Das Leben ist kurz, unangenehm und schmerzvoll, der Durst unstillbar, … und der Tod unausweichlich“.

Anfänglich galt Diabetes noch als reine Nierenkrankheit [13]. Erst im späten 18. Jh. und dann – nachdrücklich beforscht im 19. Jh. – wurde der Fokus auf die Bauchspeicheldrüse gerichtet. Im Jahr 1900 wurde erkannt, dass die Inselzellen des Pankreas blutzuckersenkende Stoffe produzieren [13]. Diese noch unbekannte Substanz des Pankreas wurde Insulin genannt. Der Medizinstudent Paul Langerhans hatte zuvor 1869 in seiner Dissertation morphologisch auffällige Zellhaufen im Gewebe der Bauchspeicheldrüse beschrieben, die später nach ihm als Langerhans’sche Inseln benannt und als Produktionsstätten des Insulin erkannt wurden [21]. Das „Zülzer-Extrakt“ (nach dem Internisten Georg Ludwig Zülzer benannt) war Anfang des 20. Jh. das erste therapeutische Bauchspeicheldrüsenextrakt, gewonnen von Kälbern, zur versuchsweisen Diabetestherapie als „Acomatol“ von der Berliner Firma Schering hergestellt. Dieses konnte aufgrund zu großer Nebenwirkungen jedoch nicht regelhaft bei Menschen eingesetzt werden [22]. Es ist unklar, ob eine starke Unterzuckerung des Patienten die Ursache der beschriebenen „Unverträglichkeit“ war oder eine durch Verunreinigungen des Extraktes ausgelöste Abwehrreaktion des Körpers nach parenteraler Gabe. Allerdings sind die beschriebenen Symptome wie „Zittern, Schweissausbrüche und Tachykardie“ eher suggestiv für Hypoglykämien. Vielleicht trat auch beides ein. Jedenfalls blieb weiterhin eine (zuckerarme) Diät die einzige Möglichkeit, die Erkrankung für einen gewissen Zeitraum erträglich zu halten.

1921 gelang es Frederick Banting und Charles Best, Insulin zu extrahieren [23]. Ein Jahr später schafften sie es, das Leben eines Diabetikers damit zu retten. Durch die Gabe von Rinderinsulin überlebte ein 5‑jähriger Junge, der tatsächlich noch 70 Jahre alt wurde [7, 13]. 1923 brachte das Unternehmen „Lilly“ das erste Insulinpräparat auf den Markt. In den folgenden Jahren wurde Insulin vom Schwein und vom Rind gewonnen. Die Entwicklung setzte sich rasch fort und synthetisches Humaninsulin wurde verfügbar so wie zeitlich unterschiedlich wirksame Insuline zur Differenzialtherapie. Die Blutzuckermessung wurde vereinfacht, sodass Erkrankte die Blutzuckerselbstmessungen durchführen und die Therapie besser steuern konnten. Mythen zum Zuckerverwertungsverlust des Körpers und zum Mangel des für den Zuckerstoffwechsel essenziellen Insulins wechselten sich ab oder vermischten sich, weil die pathophysiologischen Konsequenzen von Typ-1-Diabetes mit Insulinausfall und der Insulinresistenz bei Typ-2-Diabetes zunächst unklar blieben.

Das „glucozentrische Weltbild“

Ein fortbestehendes, mythisches Paradigma findet sich im „glucozentrischen Weltbild“, in dem allein die Erhöhung des Blutzuckers für das Gesamtverständnis des Diabetes mellitus maßgeblich ist. Danach wird der Blutzucker als ausschlaggebend angesehen für die Ursache der Krankheit, ihren Verlauf, die Entstehung von Folgeschäden und jeglichen Therapieansatz. Dieser Mythos entwickelte sich weiter, nachdem Insulin für die Therapie verfügbar wurde. Zuvor hatte der Schrecken des bedrohlichen Insulinmangels (Typ-1-Diabetes) die Vorstellungen dominiert, mit drastischen Krankheitsbildern, die zum Tod junger Menschen führten [7, 13]. Die milder verlaufenden Formen (Typ-2-Diabetes) blieben zunächst eher unbeachtet. Mit dem verbesserten Lebensstandard der Menschen und dem anwachsenden Anteil übergewichtiger Menschen verschob sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf den Harnzucker („Harnzuckerruhr“) und auf den Blutzucker, beide messbar erhöht bei Vorliegen des Typ-2-Diabetes. Zweifellos hat die Evolution für die Schwankungen des Blutzuckers zwischen dem Nüchternzustand und dem Zustand nach der Nahrungsaufnahme vergleichsweise enge Grenzen gezogen. Tatsächlich ist Normoglykämie ein für alle Diabetesformen formuliertes Ziel, wenn auch die Ursachen für die Entstehung einer Hyperglykämie wie auch deren Behandlungsmöglichkeiten über das Gesamtspektrum des Diabetes mellitus sehr unterschiedlich sind. Erst in der jüngeren Zeit wurde evident, dass für die Prognose der Betroffenen eine gute Blutzuckereinstellung mit begleitender Behandlung von Fettstoffwechselstörungen und Bluthochdruck wesentlich ist [13].

Die sich rapide beschleunigende Erforschung des Diabetes

Bis vor 200 Jahren gab es, bis auf klinische Beschreibungen, keine Dokumentation der Prävalenz des Diabetes mellitus. Die Krankheitsursachen und -abläufe waren letztlich unbekannt. Bis auf unzulängliche und bestenfalls symptomlindernde Diätansätze gab es keine Therapien. Die Erkrankung führte nach Diagnosestellung innerhalb von Monaten zum Tode. Nach der Entdeckung des Insulins wurden sieben Nobelpreise an Diabetesforscher verliehen, was die beeindruckende Entwicklung auf diesem Forschungsgebiet widerspiegelt [13].

Wir wissen heute, dass das Krankheitsbild des Diabetes mellitus zwar das Kardinalsymptom Hyperglykämie zeigt, dass diese aber pathophysiologisch sehr unterschiedlich entsteht. Die klassische Einteilung unterscheidet zwei Hauptgruppen des Diabetes, den Typ 1 (Autoimmungenese) und den Typ 2 (periphere Insulinresistenz und progredientes Betazellversagen). Der Typ-3-Diabetes fasst genetische Formen (Maturity Onset Diabetes of the Young [MODY]) oder sekundäre Diabetesformen (nach Pankreatitis oder zystischer Fibrose) zusammen. Der in der Schwangerschaft auftretende Gestationsdiabetes wird als Typ 4 angeführt. Die klassische Einteilung hat nach heutigem Kenntnisstand klare Limitationen [24] und steht dem Ansatz einer personalisierten Therapie [14] im Wege.

Heute kennen wir fünf Diabetescluster, die systematisch eine heterogene Erkrankung erfassen, bei der sich Genese, Verläufe und Prognosen, das Entstehen von Folgeschäden und die zu wählenden Therapieansätze deutlich unterscheiden (Tab. 3; [25]). Diese neuere Einteilung des Diabetes mellitus soll neben den klassischen pathophysiologischen auch Merkmale von Krankheitsverlauf und Risiken für Folgeschäden aufzeigen, um ggf. personalisierte Therapiestrategien initiieren zu können. Es gibt zudem eine Entwicklung vom symptomorientierten Pragmatismus über die rein durch Surrogatparameter [26] gesteuerte bis hin zur endpunktorientierten Diabetestherapie. Diese Entwicklung wird durch – gelegentlich auch bahnbrechende – Entdeckungen und Erkenntnisse begleitet. Anfängliche Fehlannahmen der Ärzte wurden inzwischen in der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft revidiert, wobei teilweise auch Paradigmenwechsel erreicht wurden. Trotzdem bestehen sie bei Betroffenen und teilweise auch bei weniger wissenschaftlich orientierten Behandlern fort.

Tab. 3 Formen des Diabetes mellitus. (Neueinteilung nach Ahlquist et al. (2018), modifiziert nach [24])

Auch zu den Therapiezielen gibt es Mythen und sich hartnäckig haltende Fehleinschätzungen. Schon die diesbezüglichen Heterogenitäten zwischen Fachgesellschaften sind auffällig. Im Jahr 2010 untersuchten und verglichen Stone et al. Behandlungsempfehlungen für Typ-2-Diabetes aus acht europäischen Ländern [27]. In sechs Ländern wurden Zielwerte für die optimale Einstellung des glykosylierten Hämoglobins (HbA1) von <6,5 % oder des systolischen Blutdrucks zwischen 140–130 mm Hg angegeben. HbA1c-Werte unter 7 % sind in Studien bisher jedoch kaum erreichbar gewesen [28] und es wurde darauf hingewiesen, dass für solche Werte drastische Blutzuckerabsenkungen nötig wären, wodurch die ernsthafte Gefahr einer Hypoglykämie bestünde [28, 29]. Das Festlegen „realistischer“ Therapieziele ([29]; und die Klärung wie diese für individuelle Patienten*innen zu definieren sind) sind bis heute Teil der Diskussionen zur Diabetesbehandlung, wobei die Therapieziele mittlerweile in den diversen nationalen Leitlinien verändert wurden. Letztlich geht es heute um die Vermeidung von therapiebedingten, gefährlichen Hypoglykämien trotz einer medikamentösen Einstellung, die möglichst normwertnahe HbA1c-Werte erreichen soll.

Empowerment

Als ein zur Behandlungsoptimierung entscheidend wichtiger Ansatz wird das Einbeziehen der Patienten*innen durch Patient Empowerment (Förderung der Autonomie der Patienten) vorgeschlagen, das aber auch von Mythen und Fehlkonzeptionen begleitet ist [19]. Statt die Erkrankten zu eigenverantwortlichem Entscheiden und Handeln zu befähigen, was eine Verbesserung von Körpergewicht, Ernährung, Sport und Lebensstil unterstützen würde, wird das Empowerment von Behandlern paternalistisch auch als gut gemeinter Manipulationsversuch missverstanden, der bessere Therapieeffekte erreichen soll [19].

Lifestyle

Die Beeinflussung der Lebensweise von Diabetespatienten steht im Fokus der Behandler. Zum Beispiel wird zur Diabeteskontrolle die Optimierung des Schlafes mit der Forderung nach einer „Schlaferziehung“ verbunden [30]. Ganz besonders aber werden die Ernährungsgewohnheiten avisiert [31,32,33], bei denen zwar seit Jahrhunderten Bemühungen zur therapeutischen Nutzung unternommen wurden, aber bis heute kein weitgehender Konsens über die beste Vorgehensweise zur Kontrolle des Blutzuckers und zur Normalisierung des Körpergewichtes besteht [33, 34].

Vier unterschiedliche Diätformen werden von der amerikanischen Diabetesgesellschaft (ADA) angegeben: die „mediterrane“ Kost, die kohlenhydratarme und proteinreiche Diät sowie die vegane und die vegetarische Kostform. Letztlich steht hier die Individualisierung von Ernährungsvorschlägen unter Beachtung von kulturellem Hintergrund (religiösen Vorschriften) bis zur Akzeptanz des persönlichen Geschmacks zur Debatte. Schon in den historischen Formen der Diabetesbehandlung wurden Ernährungsformen oder Hungern zur Symptomreduktion eingesetzt. Seinerzeit gab es auch keine Alternativen. Aber auch heutzutage wird das Konzept der Reduktion von Symptomen wie Polyurie und Durst weiterhin angewandt und beim Typ-2-Diabetes vorhandenes Übergewicht reduziert. Die Kernfrage über lange Zeit war (und ist), ob intensive Interventionen zur Veränderung des Lebensstils mit Übergewichtsreduktion und gesteigerter körperlicher Aktivität tatsächlich in der Lage sind, die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität zu reduzieren. Die US-amerikanische Studie Look AHEAD (Action for Health in Diabetes) untersuchte multizentrisch über zehn Jahre die Auswirkung einer Lebensstilveränderung auf die genannten Endpunkte [35]. Trotz des Effektes auf einige Surrogatparameter und zumindest anfangs verbesserter physischer „Fitness“ ergab sich enttäuschenderweise keine signifikante Verbesserung der kardiovaskulären Endpunkte. Die Untersucher führten in der Diskussion verschiedene Erklärungsversuche an, letztlich war wahrscheinlich der reine Einfluss der Lebensstilintervention bei der Testpopulation nicht stark genug, um mutmaßliche Effekte durch die begleitende, intensive kardiovaskuläre Versorgung bei den Kontrollen ohne eine explizite Lebensstilintervention zu überspielen. Der erreichte Gewichtsunterschied zwischen beiden Gruppen war auch nicht sehr deutlich.

Basierend auf Erfahrungen mit unterschiedlichen Diäten und der Beobachtung sehr unterschiedlicher Verläufe der Diabeteserkrankung, tritt nun zunehmend das Konzept der personalisierten/individualisierten Behandlung auf den Plan [14].

Bewertung von Therapiestudienergebnissen

Die Diskussion zu geeigneten Behandlungsmethoden wird begleitet von Zweifeln an den Ergebnissen randomisierter, doppelt verblindeter Therapiestudien, die dann entweder durch unter Alltagsbedingungen durchgeführte Studien (Real-World-Studien) ergänzt oder sogar ersetzt werden sollen [36]. Zudem müssen die Limitationen von Metaanalysen im Zusammenhang mit Therapiestudien bei Diabetes mellitus beachtet werden [37]. Bei aller Kritik ist aber anzumerken, dass die diversen Leitlinien und Disease-Management-Programme auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenz entwickelt werden, um letztlich in den S3-Leitlinien Ausdruck zu finden. Das Abstützen dieser Arbeiten auf substanzielle Metaanalysen und randomisierte, kontrollierte Studien ist dabei unverzichtbar.

Die Auswertung von Big Data in der digitalisierten Medizin lässt hoffen, dass weitergehende Verbesserungen erreicht werden können und Erkenntnisse aus sehr globalen Behandlungsansätzen die Personalisierung der Diabetestherapie ermöglichen werden. Am Körper tragbare Computersysteme (Wearables), wie etwa ein kontinuierlich messender Glukosesensor am Handgelenk (Zuckeruhr), erlauben den durch Empowerment versierten Patienten*innen eine sofortige Intervention [38]. Neben mittlerweile gesicherten Erkenntnissen zur Therapie bestimmter Formen des Diabetes mellitus, wie dem immunologisch verursachten Typ-1-Insulinmangeldiabetes, gibt es eine intensive und kontroverse Diskussion zur stadiengerechten und für die Betroffenen möglichst angemessenen Therapie der jeweiligen Diabeteserkrankung [39,40,41].

Typ-1-Diabetes wird mit Insulin behandelt

Gesichert ist, dass der Typ-1-Diabetes durch zunehmenden Insulinmangel nach autoimmun induziertem Betazellverlust charakterisiert ist und in jeder Phase der Erkrankung durch Insulinsubstitution behandelt werden muss, um den Tod in der Ketoazidose zu verhindern [13]. Archaisch anmutende Behandlungen wie die noch 1906 im Handbuch zur Therapie an den Berliner Universitätskliniken beschriebene Gabe von Opium bei „Zuckerharnruhr“ zur Stillung des Durstes in Kombination mit einer zuckerfreien Diät [42] sind schon lange abgelöst worden von Konzepten zur individuell optimierten Gabe eines Insulinpräparates [43], zunächst gewonnen von Rind oder Schwein und heute rekombinant produziert in Anlehnung an das humane Insulinmolekül, in Formen mit schnell einsetzender oder mit verzögerter Wirkung. Die klassische Insulinspritze ist aber mittlerweile durch präzise dosierbare Insulinpens, digitalisierte Smart Pens, Insulinpumpen oder bald auch vermehrt Mikropumpen mit Zuckersensoren, die auf die Haut geklebt werden (Patch-Pumpen), ersetzbar. Die automatische Insulindosierung nach kontinuierlich gemessener Blutzuckerkonzentration erscheint erreichbar und wird dann wahrscheinlich die Anstrengungen zur Inselzelltransplantation (Versuch eines Ersatzes der verlorengegangenen Betazellen) verdrängen [38].

Der Mythos, dass eine sehr frühe Insulinbehandlung den Ausbruch des Typ-1-Diabetes verhindern kann, ist in zahlreichen Studien adressiert worden, ohne dass sich ein allgemeingültiges Regime zur Behandlung des einsetzenden Typ-1-Diabetes ergeben hätte. Heute werden stattdessen Anti-CD3-Antikörper wie Teplizumab geprüft, da immer noch gehofft wird, dass ein frühes Unterbrechen des Immungeschehens an den Betazellen zur Verzögerung des Inselzellunterganges führen könnte, vielleicht sogar zur Verhinderung der Insulinpflicht [44]. Aus derzeitiger Sicht ist es aber zielführender, mittels einer konsequenten und gut kontrollierten Behandlung die Folgeschäden des Typ-1-Diabetes zu verhindern, zu verzögern oder zu verringern. Die Normalisierung des Blutzuckers steht für die Therapie des Typ-1-Diabetes an allererster Stelle. Da kein Weg an der Substitution von Insulin vorbeiführt, bleibt nur die Frage offen, wie diese am besten an individuelle Bedürfnisse angepasst werden kann [43].

Blutzuckerabsenkung bei Typ-2-Diabetes

Der Mythos des „glucozentrischen Weltbildes“ bei der Therapie des Typ-2-Diabetes hält sich weiter, obwohl begleitende Behandlungen zum Beispiel von Bluthochdruck und derangierten Blutfetten sehr wahrscheinlich zu einer verbesserten Prognose der Betroffenen beitragen und Folgeschäden verhindern helfen. Mythen und Missverständnisse ranken sich unter anderem um die Fragen, ob es wichtiger ist, den Blutzucker nüchtern oder nach der Mahlzeit (postprandial) zu normalisieren, bestimmte Nahrungsmittel zu verbieten oder den Blutzucker drastisch durch die Absenkung des Surrogatparameters HbA1c („am besten“ <6,5 %) zu verringern und ob Hypoglykämien bei Typ-2-Diabetes eine prognostische Rolle spielen oder aber eine straffe Einstellung verhindern. Behauptet wird, dass Typ-2-Diabetiker aufgrund einer Insulinresistenz keinen Insulinmangel zeigen, sondern „in Insulin schwimmen“. Über den Harn dürfe kein Zucker ausgeschieden werden, um Nierenschäden zu vermeiden. Heute wird aber genau dieser Ansatz durch die SGLT-2-Inhibitoren als Arzneimittel verfolgt [39]. Es wurde auch behauptet, dass Diätbehandlungen chancenlos zur Therapieoptimierung seien, was längst widerlegt wurde [32].

Messung des Therapieerfolges bei Typ-2-Diabetes

Lange Zeit wurden klinische Studien zur Behandlung des Typ-2-Diabetes nur durch das Messen von Surrogatparametern wie Blutzucker und HbA1c begleitet. Outcome-Messungen unter Berücksichtigung harter Endpunkte waren Mangelware. Stattdessen wurden Metaanalysen der zumeist für Zulassungsverfahren benötigten Studien erstellt und daraus Schlussfolgerungen gezogen. Zunehmend wurde Kritik an dieser Praxis geübt [26], insbesondere nachdem in der Literatur Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen von Metaanalysen und subsequent durchgeführten großen, randomisierten und kontrollierten Studien berichtet wurden [9, 12, 37]. Ein Problem bei der Bewertung von Metaanalysen ist aber, dass ihre Dignität des Ergebnisses wesentlich von der Qualität der eingeschlossenen Einzelstudien abhängt. Eine kritische Bewertung der vorliegenden Studien vor Einschluss ist essenziell und hilft zum Beispiel bei den Cochrane-Analysen.

Es kam letztlich in den Fachgesellschaften und bei den Zulassungsbehörden immer stärker zur Forderung nach Studien, die sich an Endpunktparametern orientieren, zumal der Konsens entstand, dass nützliche Therapien des Diabetes mellitus, gleich welchen Subtyps, nicht der Normalisierung von Laborparametern dienen dürfen, sondern im Wesentlichen die Reduktion von Morbidität und Mortalität erreichen müssen. 2008 forderte dann die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) von den Pharmafirmen substanzielle Veränderungen in ihren Forschungsstrategien und die Durchführung aussagekräftiger Endpunktstudien, insbesondere um die für antihyperglykämische Medikamente hochrelevante Sicherheit und Effizienz in der Wirkung auf das kardiovaskuläre System zu belegen [40]. Tatsächlich wurde so ein Paradigmenwechsel in der klinischen Diabetestherapieforschung ausgelöst; es ging jetzt in der Bewertung ganz wesentlich um die Auswirkung von Medikamenten auf die Mortalitätsrate, während die Diskussion um Surrogatparameter zunehmend irrelevant anmutete [41]. Große Interventionsstudien [45,46,47,48,49,50,51] wurden aufgelegt (Tab. 4) und zusätzliche Diskussionen wurden durch die zum Teil auch widersprüchlichen Ergebnisse ausgelöst [36, 39, 52,53,54]. Das „glucozentrische Weltbild“ wurde hinterfragt, auch als die United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) an einem großen Kollektiv von Typ-2-Diabetikern zeigte, dass das Outcome nicht nur durch die verbesserte Einstellung des Blutzuckers, sondern auch besonders von der Güte der Blutdruckeinstellung beeinflusst wird. Interessanterweise zeigte die Nachverfolgung der Studienpatienten noch zehn Jahre später einen günstigen Nachhaltigkeitseffekt (Legacy-Effekt; [48]) mit einer Reduktion von Folgeerkrankungen.

Tab. 4 Auswahl von Landmark-Studien zur Behandlung des Diabetes mellitus

Aus der Gesamtbewertung der Interventionsstudien wird klar, dass die Beibehaltung eines normwertnahen Blutzuckerspiegels im Langzeitverlauf aller Diabetesformen eindeutig hilft, Folgeschäden am Herzkreislaufsystem zu verringern. Es ist aber ausschlaggebend für den Behandlungserfolg, ob Menschen in der Früh- oder Spätphase der Erkrankung therapiert werden und ob bei Therapiebeginn bereits Folgeschäden vorhanden sind (z. B. Zustand nach Herzinfarkt). Eine drastische Absenkung des Blutzuckers (HbA1c < 6,5 %) kann gefährlich werden, da es zu Nebenwirkungen wie Unterzuckerung kommen kann. Gewichtszunahmen durch intensivierte insulinotrope Therapien zur drastischen HbA1c-Absenkung sind zudem bei ohnehin übergewichtigen Diabetikern unerwünscht. Außerdem hat sich herausgestellt, dass mit einer Kontrolle des Blutzuckers der Typ-2-Diabetes nicht vollständig therapiert ist, sondern eine Normalisierung der Blutdruckwerte und der Blutfette langfristig angestrebt werden muss, um ein besseres Outcome für die Erkrankten zu erreichen [49]. Die aktuelle Diskussion zur Diabetestherapie auf der Grundlage großer Interventionsstudien wird durch die Wahrnehmung begleitet, dass randomisierte, kontrollierte Studien nicht die Alltagswelt (Real World) darstellen, sondern unter artifiziellen Studienbedingungen an definierten Studienkollektiven durchgeführt werden. Allerdings zeigen nun die Nachfolgestudien, zum Beispiel der UKPDS, dass Therapieeffekte auch unter Alltagsbedingungen in der Nachbeobachtungszeit über viele Jahre anhalten [48].

Bei der Bewertung der über die letzten Jahrzehnte publizierten Studien sollte aber beachtet werden, dass sich die Patientenkollektive im Zeitverlauf erheblich unterscheiden, weil andere und immer bessere Begleittherapien, zusätzlich neben neuen Ansätzen zur Reduktion der Hyperglykämie, auch zur Blutdrucksenkung und Fettstoffwechselbehandlung eingesetzt werden. Es ist durchaus möglich, dass durch die generelle Verbesserung der Begleitbehandlung, auch verbunden mit gezielten Ernährungs- und Lebensstilverbesserungen, früher medikamentös erreichte, letztlich nur moderate Blutzuckersenkungen so im Ergebnis überlappen, dass sie sich nicht mehr mit günstigen Wirkungen auf diabetesrelevante Endpunkte auswirken könnten.

Neue Therapieansätze

Es gibt vielversprechende neue Therapieansätze z. B. mit Medikamenten, wie den SGLT-2-Inhibitoren [55], die durch Hemmung der Glukosereabsorption aus dem Primärharn am proximalen Tubulus die renale Glukoseausscheidung antreiben. Weitere neue Medikamente sind die im „Inkretinkonzept“ [56] beschriebenen Darmhormone, die nach der physiologischen Erkenntnis postprandial freigesetzt werden und den Insulinspiegel regulieren. Profunde experimentelle [57] und klinische, randomisierte und kontrollierte Studien führten zur Zulassung für die Diabetestherapie. Langzeitbeobachtungen zur Abschätzung der Nachhaltigkeit von Therapieeffekten wie in der UKPDS stehen noch aus, aber bei diesen Therapieansätzen werden nicht nur Blutzuckersenkungen, sondern weitere Zusatzeffekte antizipiert [36, 49, 53]. Aktuelle Studien, wie von der FDA im Jahr 2008 gefordert [40], zeigen tatsächlich bereits günstige Effekte auf die kardiovaskulären Endpunkte [39, 41]. Die neuen, antihyperglykämischen Pharmaka finden bereits Eingang in die aktuellen Therapieempfehlungen der großen Fachgesellschaften [58].

Genetik und Diabetes

Trotz ausgefeilter und von Fachgesellschaften propagierter Therapiealgorithmen ist eine individualisierte oder personalisierte Medizin nur im Ansatz etabliert. Wir kennen mittlerweile mehr als 40 Gene, die in der Pathophysiologie des Typ-1-Diabetes eine Rolle spielen, für den Typ 2 sind fast 80 Suszeptibilitäts-Loci beschrieben, die möglicherweise einen Einfluss auf das pathophysiologische Wechselspiel von Insulinresistenz und -sekretionsstörung haben [14]. Praktische klinische Implikationen gibt es hieraus insgesamt noch nicht. Über die Untersuchungen an monogenetischen Diabetesformen könnten diese aber etabliert werden [14].

Datenmanagement bessert Diabetes

Innovative Medizintechnikprodukte und das digital unterstützte Auswerten von Daten [38], z. B. über die bereits erwähnten „Zuckeruhren“, könnten Therapien präzisieren und personalisieren. Daten könnten automatisch von über WLAN oder Bluetooth konnektierten Systemen geladen werden, um dann durch klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (Clinical Decision Support Systems) mittels künstlicher Intelligenz (KI) bewertet zu werden, Muster könnten erkannt und Therapieanpassungen empfohlen oder implementiert werden. Patienten*innen mit gutem Krankheitswissen, die technikaffin und digital orientiert sind, könnten somit besseres Outcome erreichen. Wenn Menschen sich aber anders verhalten, als die KI empfiehlt, entsteht vielleicht der neue Mythos, dass die Sammlung digitaler Daten keinen Einfluss auf Morbidität und Mortalität haben kann [59].

Fazit

Erst in jüngster Zeit kam es zu einem rapide anwachsenden Wissen zur Pathophysiologie, zu den Folgeschäden und zu Behandlungsansätzen der unterschiedlichen Formen des Diabetes mellitus. Die schlechte Prognose unbehandelter Diabeteserkrankungen begünstigte die Entstehung von Fehleinschätzungen und Mythen von der Ursache bis hin zu den Erwartungen durch Behandlungsversuche. Klar ist, dass zur Reduktion von Morbidität und Mortalität aufgrund von Folgeschäden bei Insulinmangel oder -ausfall eine individuell zugeschnittene Insulinsubstitution erfolgen muss. Die Prävention von Typ-2-Diabetes ist vielleicht durch Veränderungen des Lebensstils bei Normalisierung des Körpergewichtes möglich. Folgeschäden ist nicht allein durch diabetesspezifische Medikamente vorzubeugen, es bedarf Begleitbehandlungen, zum Beispiel von Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen. Die Nebenwirkungen antihyperglykämischer Pharmaka können fatal sein. Ein Paradigmenwechsel in der Forschung zur klinischen Wirksamkeit von Antidiabetika führt aktuell weg von der reinen Darstellung von Surrogatparametern bei Therapiestudien zur Analyse von harten Endpunkten, wie z. B. der Messung der Mortalität. Heute werden große Endpunktstudien zur Bewertung neuer Therapieansätze, bei Einsatz neuer Technologien wie auch von Digitalisierung gefordert. Personalisierte Behandlungen werden zukünftig auf dem Prüfstand stehen.