Was unterscheidet die Arzneimittelsicherheit von der Arzneimitteltherapiesicherheit – abgekürzt AMTS? Die AMTS nimmt den gesamten Prozess der Arzneimitteltherapie hinsichtlich möglicher Fehler und Risiken in den Blick und nicht nur die potenziellen Risiken eines Wirkstoffs. AMTS betrachtet auch die Fallstricke bei der Arzneimittelauswahl von der Verordnung über die Abgabe und das Bereitstellen der Medikation bis hin zur Anwendung durch den Patienten. Warum war die Erweiterung des Begriffs überhaupt notwendig? Zahlreiche Studien zeigen, dass unerwünschte Wirkungen nicht nur durch das Pharmakon per se ausgelöst werden – hiermit befassen sich die Arzneimittelsicherheit (die Pharmakovigilanz) –, sondern durch in der Regel vermeidbare Probleme im Medikationsprozess. Bei jedem Schritt in diesem Prozess können Fehler auftreten, die die Wirkung des Arzneimittels verhindern oder gar unerwünschte Wirkungen verursachen.

Seitens des Bundesministeriums für Gesundheit wurde 2008 der erste Aktionsplan AMTS aufgelegt. Unter der Federführung der Koordinierungsgruppe AMTS ist aktuell der vierte Aktionsplan in Kraft. Die Bedeutung der Thematik zeigt sich auch darin, dass in der ersten Ausschreibung des Innovationsfonds ein Schwerpunkt auf AMTS gelegt wurde. Wie das Thema AMTS gesundheitspolitisch aufgegriffen und verankert wurde, stellen in diesem Schwerpunktheft einführend H. Sommer und A. Dwenger (Bundesministerium für Gesundheit) dar.

In den letzten zehn Jahren sind mannigfaltige Aktivitäten angestoßen worden, von denen einige im hier vorliegenden Schwerpunktheft dargestellt werden. Bisherige Projekte wie auch Forschungsvorhaben zeigen die besonderen Herausforderungen:

  • AMTS erfordert, sich mit Fehlern und Schwierigkeiten im Medikationsprozess zu befassen. Dies wiederum setzt bei allen an diesem Prozess Beteiligten eine Sensibilität für die Thematik sowie eine Bereitschaft voraus, über Fehler zu sprechen, diese zu analysieren, Signale richtig zu interpretieren und Strategien zur Fehlervermeidung zu entwickeln. Köberle et al. (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft) beschreiben, wie im Rahmen des bisherigen Spontanmeldesystems für Verdachtsfälle von Nebenwirkungen über die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft auch Medikationsfehler erfasst und aus den Fallberichten wichtige Hinweise auf Risiken erhalten werden können. Ein wichtiges Fazit der Autorengruppe bringt es auf den Punkt: Die Kommunikation von Medikationsfehlern ist Voraussetzung für eine verbesserte AMTS. Hinweise auf Risiken – im Sinne der Generierung von Signalen, die weiter zu untersuchen wären – könnte auch die Analyse von Krankenkassendaten ergeben, da hier viele Daten zu den Patienten längsschnittlich erfasst sind. R. Foraita et al. (BIPS) stellen hierzu in ihrem Methodenbeitrag die Identifikation von Risiken der Arzneitherapie mittels maschineller Lernverfahren vor und diskutieren auch Probleme und noch vorhandene Limitationen dieses Ansatzes.

  • Der Patient steht im Zentrum von AMTS. H. Seidling und R. Wolterdorf fokussieren aus ihrer Erfahrung in der AG AMTS des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e. V. auf die Durchführung der Therapie durch die Patienten. Sie zeigen auf, welche Schwierigkeiten und Fehler hierbei auftreten können, die infolge zu einem Wirkungsverlust der Therapie (z. B. durch Nonadhärenz) oder auch zu Risiken (durch falsche Anwendung, fehlende Kontrolluntersuchungen, Selbstmedikation) führen können. Eine wichtige Forderung lautet deshalb auch, dass AMTS-Maßnahmen die Patientenperspektive und die Abläufe im Alltag der Patienten berücksichtigen müssen.

  • AMTS benötigt Tools – Werkzeuge –, um eine sichere Arzneimitteltherapie für den Patienten zu erreichen. Außerhalb der Fachkreise ist wahrscheinlich wenig bekannt, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sowie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zusätzlich zu den Fach- und Gebrauchsinformationen die Erstellung von Schulungsmaterial anordnen können. Der Beitrag von L. Heymans et al. (PEI, BfArM) beschreibt die rechtlichen Grundlagen und gibt einen Überblick über die derzeit vorhandenen Schulungsmaterialien zu 202 Wirkstoffen/-kombinationen, die jeweils Bestandteil der Zulassung des betreffenden Arzneimittels sind. Bekannter als Schulungsmaterialien dürfte der Öffentlichkeit der im Oktober 2016 eingeführte bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP) sein. Hierauf haben Versicherte Anspruch, die mindestens drei zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnete, systemisch wirkende Medikamente über einen längeren Zeitraum gleichzeitig einnehmen oder anwenden. Wie komplex sich die Erarbeitung und Implementierung eines auf den ersten Blick doch sehr überschaubaren Dokumentes mit Angaben zur vorhandenen Therapie darstellen, zeigen die Erfahrungen mit den hierzu durchgeführten Modellprojekten MetropolMediplan 2016, Modellregion Erfurt und PRIMA (s. Beitrag von Dormann et al.). Die Modellprojekte zeigen zwar eine hohe Akzeptanz des Instrumentes bei den Beteiligten, doch wurde auch sehr deutlich, dass eine Einbindung des BMP in eine elektronische Patientenakte unerlässlich ist, um sein Potenzial für AMTS ausschöpfen zu können. Veraltete und zerknitterte Ausdrucke des Medikationsplans helfen hier nicht weiter.

  • AMTS ist zweifelsohne eine interdisziplinäre Aufgabe. Dies bedeutet, dass alle beteiligten Berufsgruppen in ihrem jeweiligen Setting – Ärzte, Apotheker, Pflegekräfte, medizinische Fachangestellte und andere am Patienten tätige Gesundheitsberufe – ihre jeweiligen Aufgaben und Verantwortlichkeiten definieren müssen. Dies ist kein einfacher Prozess, wie die Beiträge in diesem Heft zur Aufgabe von Stationsapothekern (s. Blassmann et al.), zur Verbesserung der AMTS bei Heimbewohnern (U. Jaehde und P. Thürmann) oder zur gemeinsamen Betreuung von Patienten durch Arzt und Apotheker im Projekt „Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen – ARMIN“ (Müller et al.) zeigen. Die Darstellungen verdeutlichen für die verschiedenen Versorgungskontexte, welche Probleme auftreten, welche Interventionen zur Vermeidung arzneimittelbezogener Probleme erprobt wurden und sich bewährt haben und welche Hürden nach wie vor bestehen.

  • AMTS nimmt insbesondere vulnerable Gruppen wie Schwangere (C. Schaefer), Kinder (A. Neubert und W. Rascher) und Patienten mit Multimedikation in den Blick, da hier jeweils besondere Risikokonstellationen vorhanden sind. Wumbach et al. lenken den Blick darauf, dass nicht allein die Zahl unterschiedlicher Arzneimittel das Risiko für Fehlanwendung beeinflusst, sondern auch die Komplexität des Medikationsregimes. Für eine sichere Handhabung der Medikation sollten einerseits Patienten bzw. diejenigen, die die Medikation verabreichen, entsprechend geschult werden, andererseits sollte regelmäßig überprüft werden, ob das Therapieregime (Dosierungen, Zeitintervalle, Art der Applikation) nicht vereinfacht werden kann.

Das Schwerpunktheft schließt mit einem Beitrag von L. Fishman und Co-Autoren, die eine Übersicht über die Aktivitäten zu AMTS in der Schweiz geben. Die Autoren enden mit dem Statement, dass eine gesamtheitliche Strategie, Prioritätensetzung und Wirksamkeitsprüfung unter Einbindung und Vernetzung aller Stakeholder noch fehlen und die Digitalisierung für elektronische Patientendossiers eine hohe Priorität habe. Letzteres zieht sich wie ein roter Faden durch alle in diesem Schwerpunktheft versammelten Beiträge: der Hinweis auf die Notwendigkeit informationstechnologischer Unterstützung: elektronischer Medikationsplan, elektronische Patientenakte, elektronische Verordnungsunterstützung. Wenn man sich vor Augen führt, dass – wie kürzlich eine Auswertung von Daten einer gesetzlichen Krankenversicherung zeigte – in 2016 die Versicherten 1860 Wirkstoffe in rund 450.000 verschiedenen Zweierkombinationen erhielten [1], wird sofort nachvollziehbar, dass die Beurteilung möglicher Wechselwirkungen – als nur ein AMTS-Risiko – nicht ohne IT leistbar ist. Wenn man sich des Weiteren vor Augen führt, dass zwei Drittel der Patienten mit Multimedikation mehr als einen Arzt und auch mehr als eine Apotheke aufsuchten [1], wird ebenfalls deutlich, dass es (trotz noch vorhandener Limitationen) elektronischer Entscheidungsunterstützungssysteme bedarf, die Informationen aus verschiedenen Sektoren zusammenführen (siehe hierzu auch den Beitrag von Haefeli und Seidling 2018 [2]). Hier besteht noch großer Entwicklungsbedarf ebenso wie hinsichtlich der Frage, ob die Maßnahmen zur Risikominimierung, die in den verschiedenen Settings inzwischen erprobt wurden, Effekte in Bezug auf nebenwirkungsbedingte Krankenhausaufnahmen und Mortalität zeigen.

Zehn Jahre nach dem ersten Aktionsplan AMTS des Bundesministeriums für Gesundheit können wir konstatieren, dass eine Sensibilisierung stattgefunden hat und noch viel zu tun ist. Wir hoffen jedoch, dass wir mit diesem Themenheft einen Überblick über viele Aspekte von AMTS und einige Lösungsansätze präsentieren konnten und wünschen eine anregende Lektüre.

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Ingrid Schubert

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Petra A. Thürmann