Hintergrund

Nicht wenige Experten sehen in der Digitalisierung des Gesundheitsmarktes Lösungsoptionen für viele aktuelle Probleme des Gesundheitswesens [1,2,3,4,5]: Genannt werden hierbei die Verbesserung der Versorgungsdichte durch die zeit- und raumunabhängige Bereitstellung von medizinischem Wissen, aber auch die Erhöhung der Patientensicherheit durch die flächendeckende Etablierung digitaler Fehlerberichtssysteme und den raschen Zugriff auf bedeutsame patientenbezogene Informationen (eGesundheitskarte). Letztere soll überdies – zusammen mit einer verbesserten Infrastruktur für den Datenverkehr – zu einer Reduktion von Überdiagnostik und Überbehandlung beitragen. Angeführt wird aber auch ein verändertes Rollenverständnis der Patienten: Gesundheits- und Fitnessapps und andere innovative Techniken der Selbstvermessung (Wearables, „smart clothes“) versprechen spielerische Anreize, um das eigene Gesundheitsbewusstsein zu verbessern und eigenverantwortlich zu gestalten (Ernährung, Fitness). Sie gelten so als wertvolle Beiträge zur Konsumentensouveränität, Selbstermächtigung („self-empowerment“) und Therapietreue der Nutzer. Konzepte wie „ambient assisted living“ und technische Assistenzsysteme verheißen intelligente Lösungen für den steigenden Pflegebedarf, eine Erhöhung der Lebensqualität betroffener Patienten und entlastende Effekte auf Dritte, wie z. B. pflegende Angehörige. Zudem verspricht man sich von E‑Health Effizienzgewinne und Einsparpotenziale, die das Gesundheitssystem finanziell entlasten sollen. Zugleich wird der gesamte Bereich als Wachstumsmarkt bewertet. Schließlich scheint es möglich, mithilfe von „big (health) data“ (Data-Mining) neue Einsichten in medizinische Kausalzusammenhänge und Krankheitsentwicklungen zu gewinnen [6].

Kritiker der Digitalisierung im Gesundheitswesen betonen demgegenüber die Risiken und Gefahren von E‑Health [1,2,3, 7,8,9,10]: Sie verweisen auf entsolidarisierende Effekte und sprechen von gesellschaftlich unerwünschten Kommerzialisierungstendenzen. Sie sehen eine Überforderung von Patienten und Konsumenten, die sich durch die Fülle der angebotenen (elektronischen) Möglichkeiten ergeben „bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die Informationen als relevant und valide einschätzen zu können“ [3]. Sie verweisen darauf, dass das Erzeugen und Versenden individueller Gesundheitsdaten Missbrauchspotenziale bietet und dass für viele internetbasierte Produkte und Dienstleistungen kein hinreichender Evidenznachweis erbracht ist. Sie beklagen eine mangelnde Reliabilität und Validität der aus Fitnessapps gewonnenen Messdaten, die Risiken von Fehlinterpretationen und (selbstgestellten) Fehldiagnosen, sehen die Gefahr von Verhaltensmanipulationen, Mängel in den Bereichen Datenschutz und Datensicherheit und grundsätzliche Unklarheiten bei der Zuschreibung und Übernahme von Verantwortung angesichts der vielfach komplexen technischen Systeme.

Die genannten Beispiele und Argumentationen machen deutlich, dass die Digitalisierung im Gesundheitsbereich vielfältige ethisch relevante Implikationen birgt. Ebendiesem Problembereich widmet sich der vorliegende Beitrag. Er geht von einer grundsätzlichen Bestimmung des Verhältnisses von E‑Health und Ethik aus und widmet sich sodann den Potenzialen und Grenzen ethischer Bewertungen von E‑Health-Entwicklungen und -Anwendungen. Anschließend werden zentrale Instrumentarien für die ethische Evaluation von E‑Health-Anwendungen vorgestellt und deren Verwendung anhand eines prototypischen Beispiels vertieft.

E-Health und Ethik: Grundsätzliche Probleme

Um das Verhältnis von E‑Health und Ethik näher zu bestimmen, ist es zunächst erforderlich, einige Merkmale von Technik – und E‑Health als dem hier näher betrachteten Anwendungsbereich – in den Blickpunkt zu rücken, namentlich (1) die Merkmale von Technik(entwicklung), (2) das Verhältnis von Technik und Mensch, (3) das Begriffsverständnis von E‑Health als dem hier fokussierten Teilbereich von Technik und (4) die Wechselwirkungen von E‑Health und Ethik.

(1) Charakteristika von Technik(entwicklung)

Die Technikentwicklung folgt traditionell zuvorderst technischen und wirtschaftlichen Kriterien wie Machbarkeit, Wirksamkeit, technischer Effizienz sowie Wirtschaftlichkeit und Umsatzerwartung. Und doch ist festzuhalten, dass die wahrgenommene Qualität und Akzeptanz eines technischen Produkts zu erheblichen Teilen von außertechnischen und -wirtschaftlichen Werten abhängt [11,12,13]. Technik nimmt Einfluss auf Menschen, ihr Denken und ihr Handeln, sie zeigt Effekte auf die kulturelle und soziale Umwelt der Personen. Mit anderen Worten: Technik ist kein neutrales Instrument, sondern affiziert unsere Lebenswirklichkeit und unsere Wertvorstellungen [14, 15]. Dies zeigt sich in positiven gesellschaftlichen Zuschreibungen wie Effizienz, Kontrolle, Zielorientiertheit, Ordnung und systematische Planbarkeit von Technik, aber auch in negativen Assoziationen wie Kontrollverlust, Unbeherrschbarkeit, persönliche Abhängigkeit durch Technik. Demzufolge ist es notwendig, jede Technikentwicklung zugleich nach ihren außertechnischen Effekten zu befragen.

(2) Das Verhältnis von Technik und Mensch

Grundsätzlich ist der Technikgebrauch konstitutiver Bestandteil des menschlichen Wesens, der conditio humana. Technik gehört schlichtweg zum Menschen. Probleme ergeben sich jedoch aus der Ambiguität von Technik: Technik ist nicht per se gut oder schlecht, harmlos oder gefährlich. Sie kann aber je nach Absicht der Verantwortlichen zum Wohl oder zum Wehe des Menschen eingesetzt werden. Auch sind die modernen Wissenschaften und Technologien durch die erweiterten Handlungsmöglichkeiten nicht grundsätzlich unmoralischer als früher. Sie sind jedoch „moralanfälliger“, d. h. „die Möglichkeiten, sich zu verfehlen“, sind größer geworden [16].

Dementsprechend darf die Entwicklung neuer Technologien nicht a priori – etwa aufgrund eines bestehenden missbräuchlichen Potenzials – verteufelt werden. Vielmehr gilt es, jede Innovation auf ihr manipulatives Potenzial und etwaigen Regulierungsbedarf abzuklopfen. Dabei gilt auch: Technische Innovationen müssen das Ziel haben, (1) menschliche Handlungsspielräume – d. h. die Gestaltungsmöglichkeiten, die Menschen offen stehen – zu erweitern und hierbei (2) das soziale Zusammenleben zu verbessern. Dies kann durchaus heißen, dass eine technische Erweiterung der Spielräume in anderer Hinsicht auch zu Einschränkungen führt. So bedeutet etwa die Technik des minimalinvasiven Operierens zugleich einen Verzicht auf das direkte Inspizieren und Palpieren der betreffenden Organe durch den Operateur. Ebenso können sich Ärzte durch die (empfohlene) Anwendung von Expertensystemen in ihrer persönlichen Entscheidungsfindung beeinträchtigt fühlen. Beide Beispiele zeigen, dass die Anwendung von Technik immer auch einem Abwägungsprozess unterliegt.

In jedem Fall ist zu fordern, dass Technik kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Erreichung bestimmter sozial erwünschter bzw. konsentierter Ziele sein sollte [12, 17] – ebendies ist der Maßstab jeder normativen Technikbewertung.

(3) Begriffliche Unschärfe und Heterogenität von E‑Health(‑Anwendungen)

Im hier betrachteten Bereich tritt ein zusätzliches Problem hinzu: Der Oberbegriff E‑Health ist definitorisch unterbestimmt, d. h. er wird von verschiedenen Akteuren unterschiedlich weit gefasst und beschreibt demgemäß einen nur unscharf begrenzten Bereich [2, 9]. Er beinhaltet nach dem Verständnis vieler Autoren Anwendungen elektronischer Geräte im Gesundheitswesen (z. B. zur medizinischen Versorgung) unter Einschluss von mobilen E‑Health-Lösungen (mHealth) und telemedizinischen Anwendungen. Ebendieses Begriffsverständnis wird auch im vorliegenden Beitrag zugrunde gelegt. Andere differenzieren z. B. bewusst zwischen den drei Bereichen E‑Health, mHealth und Telemedizin [3, 18] bzw. betrachten Telemedizin als eigenständigen Bereich [3, 19,20,21].

Auch auf den nachgeordneten Ebenen finden sich Begrifflichkeiten, die uneinheitlich gebraucht werden. So werden die Termini Weareables und „smart clothes“ verschiedentlich synonym genutzt. Tatsächlich sind sie klar abgrenzbar [22, 23]: Unter Wearables oder „wearable computers“ verstehen wir verschiedene Systeme, die für die Anwendung am Körper des Benutzers befestigt werden – Beispiele sind am Arm getragene Activitytracker [3]. Demgegenüber stehen die Begriffe „smart clothes“ oder „I-Wear“ für Kleidungsstücke, die mit (von außen nicht sichtbaren) elektronischen Geräten bzw. Funktionen ausgestattet sind, d. h. die betreffende Elektronik ist hier Teil der Textilien. So können z. B. Sensoren in der Kleidung den gesundheitlichen Zustand des Trägers feststellen und im Bedarfsfall einen Notruf aussenden. Ähnlich werden auch die Termini „Gesundheitsapps“ und „Medical Apps“ nicht immer durchgängig differenziert, sodass auch hier klare Definitionen erforderlich sind (vgl. hierzu die Diskussion dieses Beitrages; [9, 10, 18, 24]).

Demzufolge ist es erforderlich, den zu betrachtenden Untersuchungsgegenstand (z. B. Gesundheitsapps) vor einer jeden (ethischen) Evaluation eindeutig zu beschreiben, um zu unmissverständlichen Ergebnissen zu gelangen.

Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Terminus E‑Health selbst ethisch bedeutsame Implikationen besitzt. Damit ist gemeint, dass E‑Health wie auch andere hier zu verortende Termini wie „eGesundheitskarte“ (eGK) oder „Telemedizin“ – je nach Voreinstellung des Betrachters – mit bestimmten ethisch relevanten Konnotationen versehen sind. So verbinden manche Personen mit dem Begriff „eGK“ gedanklich automatisch ein Datenschutzproblem, während andere hierin ein Schlagwort für eine Verbesserung der Patientensicherheit sehen. Wir bewegen uns also auf einem Gebiet, in dem die Begrifflichkeiten z. T. stark von Vorurteilen und persönlichen Wertungen überlagert sind. Auch derartige semantische und konnotative Unschärfen stellen ein ethisches Problem dar. Sie fallen in den Bereich der Metaethik, die sich mit der Analyse von moralisch eingefärbten Begriffsbedeutungen beschäftigt.

Hinzu kommt, dass auch die Heterogenität der unter E‑Health gefassten Anwendungen einer pauschalisierenden medizinethischen Bewertung entgegensteht: Während bei Gesundheitsapps aus Nutzersicht die Frage nach Verbraucherkompetenzen, Transparenz und Datenschutzaspekten von zentraler ethischer Bedeutung zu sein scheinen, stehen bei entscheidungsunterstützenden medizinischen Expertensystemen aus ethischer Sicht vor allem die Frage der menschlichen Kontrolle der Systemergebnisse, der Entscheidungsautonomie und Letztverantwortung des Arztes und Befürchtungen einer schleichenden ärztlichen Dequalizierung und Entmachtung im normativen Fokus. Im Bereich der Telemedizin spielen wiederum die normativen Fragen der Verantwortungsdiffusion, der Datensicherheit und der Verantwortungszuschreibung bei unerwünschten Ereignissen besonders wichtige Rollen.

Zudem sind die Anwendungsfelder von E‑Health unterschiedlich weit entwickelt, was sich notwendigerweise auch auf die Antizipierbarkeit und Prognosesicherheit der zu analysierenden ethischen Implikationen auswirkt.

(4) Wechselwirkungen von E‑Health und Ethik

Viele Entwicklungen und Anwendungen aus den Bereichen Medizinethik und E‑Health sind schlechterdings „Ermöglichkeitsbedingungen“ [25] für die Bereichsethiken der Medizin- und Technikethik. Das heißt, es sind diese medizintechnischen Innovationen, die dilemmatische Situationen und damit ethischen Klärungsbedarf hervorrufen. Pointiert ausgedrückt: Moderne Bereichsethiken verdanken ihre wachsende fachliche und gesellschaftliche Bedeutung zu einem erheblichen Teil ebendiesen (medizin-)technischen Entwicklungen. So gesehen sind E‑Health und Medizin- und Technikethik zwei Seiten derselben Medaille und müssen insofern zusammen gedacht werden.

Potenziale und Grenzen normativer Evaluationen in Bezug auf E‑Health-Entwicklungen und -Anwendungen

Welchen konkreten Beitrag können nun aber die Medizin- und Technikethik bei der Ausgestaltung einer „Gesundheitsversorgung 4.0“ leisten? Was sind die Potenziale und Limitationen ethischer Evaluationen von E‑Health [2, 8, 13, 26,27,28]?

Blickt man in die Vergangenheit, so fällt auf, dass die Ethik oft bestenfalls auf technische Entwicklungen reagiert hat. Tatsächlich hinken die beiden normativen Disziplinen – die Ethik wie auch das Recht – gerade bei rasanten Innovationen den betreffenden Entwicklungen zumeist hinterher. Dies zeigt auch das aktuelle E‑Health-Gesetz [29]: Letzteres regelt, anders als es der Kurzname suggeriert, vornehmlich die technische Infrastruktur im Gesundheitswesen und damit nur einen „kleinen Teilausschnitt aus dem großen [...] Themenbereich eHealth“ [10]. Dementsprechend besteht weiterhin rechtlicher Regelungsbedarf. Noch pessimistischer als die Rechtslage wird bisweilen die Rolle der Ethik gesehen. Der Soziologe Ulrich Beck hat den Einfluss der Ethik auf die Technikentwicklung besonders pointiert mit der einer „Fahrradbremse am Interkontinentalflugzeug“ verglichen [30]. Eine derart marginale Wirkung entfaltet die Ethik in der Tat dann, wenn sie im Sinne einer nachträglichen normativen Evaluierung bereits „marktreifer“ Endprodukte zum Einsatz kommt. Ex post getroffene Evaluationen nehmen auf das Produkt zumeist keinen wesentlichen Einfluss (mehr).

Wünschenswert ist daher eine ethische Bewertung als integraler Bestandteil der Technikentwicklung, also eine Ethik, die im Sinne einer Begleitforschung von Beginn der Produktidee an über den gesamten Entwicklungsprozess hinweg mitgedacht wird und somit ex ante in einem iterativen Verfahren auf die Ausgestaltung des Produkts Einfluss nimmt – bis hin zur möglichen Konsequenz, ein Produkt nicht oder nicht weiter zu entwickeln bzw. im Prozess maßgeblich zu verändern [31]. Ebendies meint Hastedt, wenn er formuliert: „Ethik in diesem Sinne ist keine bloße Bewältigung von Grenzsituationen, sondern der Versuch einer reflektierten und umfassenden Technikgestaltung“ [32].

Ziel der Ethik ist demnach nicht allein die Eingrenzung kritischer Entwicklungen im Einzelfall. Ihr Beitrag kann – in Abhängigkeit von der betrachteten Technologie – auch darin bestehen, zu einem reflektierten und angemessenen Umgang mit den neuen Möglichkeiten beizutragen. Dies setzt allerdings voraus, dass sich die Vertreter der Ethik nicht als „Verhinderer“ oder „Mahner“ begreifen, sondern Technikentwicklung konstruktiv begleiten und Potenziale technischer Neuerungen ausloten, kurz: eine „Ermöglicherperspektive“ einnehmen – jedenfalls dort, wo dies aus normativer Sicht vertretbar ist.

Dabei ist es wichtig, zwischen bereits verfügbaren, technisch erwartbaren und lediglich erhofften Entwicklungen zu differenzieren, denn die Zielrichtung und Aussagekraft einer normativen Analyse sind notgedrungen abhängig von der Konkretheit des zu analysierenden Gegenstandes. Gerade weil eine ethische Evaluation integraler Bestandteil der Technikentwicklung sein soll, gilt es, nicht nur konkrete Anwendungen, sondern auch bereits mögliche Szenarien zu bewerten. Insofern haben viele normative Evaluationen prognostischen Charakter: Sie sind dann eher Abschätzungen als konkrete Analysen. In diesen Fällen ergibt sich die Notwendigkeit, szenarienbasiert bzw. antizipatorisch abgeschätzte Technologien nachfolgend in den Stadien der Anwendung erneut zu evaluieren.

Schließlich sei betont, dass technische Innovationen nicht allein einer Bewertung durch Ethiker bedürfen [8]. Ethik kann zwar wichtiges Orientierungswissen bereitstellen, dies macht aber einen breiten gesamtgesellschaftlichen Diskurs über anzuwendende Technologien nicht entbehrlich.

MEESTAR, MAST oder ethische Bewertungsmatrix? Instrumentarien für die ethische Evaluation von E‑Health-Anwendungen

Wie aber funktioniert nun die ethische Evaluation einer E‑Health-Entwicklung oder -Anwendung in der Praxis? Tatsächlich stehen für derartige Bewertungen unterschiedliche Instrumentarien zur Verfügung, die auf verschiedenen medizin- und technikethischen Konzepten basieren. Letzteres erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass es insbesondere in der Medizinethik nicht etwa eine übergreifend anerkannte Ethiktheorie gibt, sondern verschiedene konkurrierende Konzepte. In dieser Situation lieferten die amerikanischen Medizinethiker Beauchamp und Childress 1977 mit der sog. Prinzipienethik ein einfaches Begründungsmodell, das aus der allgemeinen Moralität abgeleitet ist und sich gerade bei anwendungsorientierten normativen Fragstellungen einer breiten Anerkennung erfreut [33, 34]. Gemeint sind die vier von Beauchamp und Childress als „Prinzipien“ bezeichneten Bewertungskriterien Respekt vor der Patientenautonomie, Non-Malefizienz (Nichtschadensgebot), Benefizienz (Fürsorgegebot) und Gerechtigkeit. Dabei sind die genannten Prinzipien primär gleichberechtigt, d. h., es gibt kein „oberstes Prinzip“. Zudem gelten die Kriterien nicht absolut, d. h., sie können im Falle einer Kollision von zwei oder mehr Prinzipien gegeneinander abgewogen werden.

Eine Schrittmacherrolle ist der bereits 1991 erstmals publizierten VDI-Richtlinie 3780 mit dem Titel „Technikbewertung. Begriffe und Grundlagen“ zuzusprechen. Auch wenn diese primär nicht für (Technik‑)Ethiker, sondern für Ingenieure entwickelt wurde, konnte und kann sie doch für technikethische Analysen fruchtbar gemacht werden. Sie bietet fünf ethisch relevante Kriteriencluster (Implikationen für die Persönlichkeit, Implikationen für die Sicherheit, gesundheitliche Implikationen, Umweltqualität, Gesellschaftsqualität), die in der Summe gut geeignet sind, normative Probleme von Technikentwicklungen auf der gesellschaftlichen und der individuellen Ebene zu erfassen und zu bewerten [12, 17] und dementsprechend auch in praxi für derartige Fragestellungen Anwendung finden (z. B. [13]).

Mittlerweile gibt es zudem eine Reihe moderner Bewertungstools aus dem Bereich der Technik- und Medizinethik, welche einige der vorgenannten Kriterien in unterschiedlicher Weise und Ausprägung kombinieren. Zu den bekanntesten rezenten Evaluationsinstrumenten gehört MEESTAR – das Modell zur ethischen Evaluation soziotechnischer Arrangements [35]. Dieses Analyseinstrumentarium wurde 2013 für die ethische Bewertung und Problemlösung altersgerechter Assistenzsysteme entwickelt, ist aber auch bei verschiedensten technischen Anwendungen und insbesondere bei E‑Health-Entwicklungen einsetzbar. Es versteht sich als barrierearmes ethisches Werkzeug für praxisorientierte Nutzer. Es weist einige inhaltliche Schnittflächen mit der VDI-Richtlinie 3780 auf. Durch die Anwendung von insgesamt sieben ethisch relevanten Kriterien oder „Bewertungsdimensionen“ (Fürsorge, Selbstbestimmung, Sicherheit, Privatheit, Gerechtigkeit, Teilhabe und Selbstverständnis) soll der Untersuchende in den Stand versetzt werden, normative Problemfelder der betrachteten Technologie zielsicher zu identifizieren, zu systematisieren und einzuordnen. Besagte Kriterien werden dabei aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet (individuelle, organisatorische, soziale Ebene). Die Analyse der Dimensionen führt zu einer differenzierten ethischen Bewertung, die vier Bewertungsstufen umfasst (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Das MEESTAR-Bewertungsmodell (Nach Manzeschke [35])

Während MEESTAR als genuin ethisches Bewertungsinstrument empfohlen wird, ist MAST („model of assessment of telemedicine applications“) nicht ausschließlich auf normative Aspekte fokussiert. Bei MAST werden sieben Domänen unterschieden („health problem and characteristics of the application“, „safety“, „clinical effectiveness“, „patient perspectives“, „economic aspects“, „organisational aspects“, „socio-cultural, ethical and legal aspects“), d. h., dieses Instrument führt medizinische, ökonomische, organisatorische und normative Kriterien zusammen. Zu den genuin normativen Domänen („ethical und legal aspects“) treten hier weitere Kriterien, die ebenfalls ethische Implikationen bergen (z. B. „safety“ und „patient perpectives“; [36]). MAST ist primär als Analyseinstrument für telemedizinische Anwendungen konzipiert worden, lässt sich aber nach entsprechender Adaptation auch für andere E‑Health-Bereiche nutzen.

Erwähnung verdient schließlich die „ethische Bewertungsmatrix für E‑Health-Anwendungen“ [8, 37]. Sie ist explizit als normatives Evaluationsinstrument entwickelt worden und ihrer Bezeichnung entsprechend breit angelegt, d. h. für verschiedene Applikationen nutzbar. Die Bewertungsmatrix umfasst die normativen Kriterien Funktionsfähigkeit, Nutzenpotenzial, Schadenspotenzial, Arzt-Patient-Beziehung, Patientenautonomie, Datenschutz, Datensicherheit, Effizienz, ärztliche Entscheidungsautonomie und -kompetenz, Verantwortungsaspekte und Gerechtigkeit. Die Matrix verbindet somit klassische Elemente der Medizin- und der Technikethik: So ist etwa die Fehleranfälligkeit einer Anwendung sowohl dem technikethischen Aspekt der Sicherheit als auch dem medizinethischen Aspekt des Nichtschadensprinzips zuzuordnen. Vorgeschlagen wird hierbei ein Vorgehen in sechs Einzelschritten. Im ersten Schritt gilt es zunächst, die E‑Health-Technologie möglichst genau zu erfassen (Beschreibung der Technologie). Im zweiten Schritt wird geprüft, ob die vorgenannte Bewertungsmatrix für die jeweils zu prüfende E‑Health-Anwendung noch zu konkretisieren ist (Spezifizierung). Dann erfolgen die Bewertung der Technologie anhand der Kriterien im Vergleich zu alternativen Optionen (Einzelbewertungen), die übergreifende Beurteilung der Technologie durch Gewichtung der Einzelbewertungen (Synthese) und die Erarbeitung von Empfehlungen für die ethisch vertretbare Entwicklung und Anwendung der medizinischen Technologie (Empfehlung). Schließlich soll in regelmäßigen Abständen eine Reevaluation der ethischen Implikationen erfolgen (Monitoring, vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Ethische Bewertungsmatrix (Mod. nach Marckmann [8, 37])

Da unter dem Oberbegriff E‑Health verschiedenste Anwendungen subsumiert werden, die zudem unterschiedlich weit entwickelt sind, kann es keine übergreifend gültige ethische Bewertung, sondern lediglich anwendungsspezifische Evaluationen geben. Die erwähnten Kriterien eignen sich zugleich als Suchmatrix, um frühzeitig potenzielle normative Innovationsbarrieren auszumachen. Schließlich erhöhen derartige Bewertungstools ganz grundsätzlich die Sensibilität der Akteure für ein verantwortungsvolles Handeln in ethisch heiklen Bereichen [8].

Spezifische Technikevaluationen auf der Grundlage von Bewertungstools sind zwar ein zentrales, nicht aber das einzige Instrument der angewandten Ethik. Ebenso zu nennen sind regelmäßige Schulungs- und Fortbildungsangebote, aber auch die Entwicklung von (und die Orientierung an) Empfehlungen und Leitlinien. So bietet etwa Marckmann Empfehlungen für die Entwicklung wie auch für die Anwendung entscheidungsunterstützender Computersysteme, während z. B. Leupold et al. Leitlinien für die Gestaltung von Informationsangeboten im Internet vorschlagen [8, 10]. Auch Verhaltenskodizes zum Themenfeld E‑Health nehmen insbesondere seit der Jahrtausendwende zunehmend mehr Raum ein [27, 38,39,40,41].

Nachfolgend soll die ethische Evaluation von E‑Health-Anwendungen am Beispiel von Gesundheitsapps verdeutlicht werden.

Diskussion: Das Anwendungsfeld Gesundheitsapp in der ethischen Analyse

Zu den stark wachsenden Bereichen innerhalb von E‑Health gehören mobile Anwendungen auf der Grundlage von Health Apps [3, 42]. Hierbei ist zu differenzieren zwischen Gesundheitsapps, die sich vorwiegend an gesundheitsinteressierte, medizinische Laien richten, und medizinischen Apps (Medical Apps), die sich an Vertreter der Gesundheitsberufe wenden [3, 42, 43].

Medizinische Apps fokussieren auf medizinisch-pflegerische Funktionen und betreffen häufig die Bereiche Diagnostik und Therapie; sie unterliegen dem Medizinproduktegesetz. Beispiele sind medizinische Nachschlagewerke, Rechner (z. B. für Arzneimitteldosierungen) oder die Präsentation medizinischer Dokumente und Bilder. Gesundheitsapps sind sehr viel häufiger anzutreffen, zumeist kostenfrei in App Stores verfügbar und keiner regelhaften Qualitätskontrolle unterworfen. Hier reicht die Spannbreite von Schrittzählern, Ernährungs- und Gewichtskontrollinstrumenten über fitnessbezogene Anwendungen, die Erfassung von (krankheitsbezogenen) Usermessdaten bis hin zum Medikamentenmanagement [24, 44].

Im Folgenden soll eine exemplarische – im vorliegenden Publikationsrahmen notwendigerweise verkürzte – Evaluation speziell von Gesundheitsapps anhand der vorgenannten „ethischen Bewertungsmatrix für E‑Health-Anwendungen“ erfolgen; anschließend gilt es, beispielhafte Empfehlungen abzuleiten [3, 8, 27, 42, 44,45,46,47,48].

(1) Funktionsfähigkeit und (2) Nutzenpotenzial

Gesundheitsapps bieten eine Reihe von Funktionen, die in herkömmlichen, auf direkte Behandler-Patienten-Kontakte fokussierten Versorgungsmodellen nicht zu gewährleisten sind [42, 47]: So ermöglichen derartige Apps ortsunabhängige Momentaufzeichnungen in Echtzeit. Dies bedeutet nicht nur eine Zeitersparnis, sondern zeigt auch positive Effekte bezüglich der Verfügbarkeit und Nutzbarkeit der Daten: Diese können fortlaufend, ereignisbasiert (z. B. in Krankheitsphasen, bei Krankheitsschüben, bei besonderen Verhaltensweisen) oder zu besonderen Zeitpunkten (z. B. in Phasen der Umstellungen) erhoben, weitergeleitet bzw. ausgewertet werden. Da Einzelerhebungen in nahezu beliebiger Zahl möglich sind, eignen sich diese für ein Langzeitmonitoring ebenso wie für ein Symptomtagebuch. Therapieverläufe können lückenlos dokumentiert werden, Reaktionszeiten fallen aufgrund der früheren Registrierung von Verschlechterungstendenzen potenziell kürzer aus, nötige Interventionen können entsprechend schneller veranlasst werden, bis hin zum zeitnahen Eingreifen in Risikosituationen. Da der Nutzer auf die beschriebenen Weisen in die präventive, diagnostische bzw. therapeutische Planung und das betreffende Monitoring eingebunden ist, sind zugleich positive Effekte auf die Adhärenz des Nutzers bzw. Patienten zu erwarten. Zudem können zeitaufwendige Arztbesuche u. U. vermieden oder reduziert werden.

Demgegenüber fällt es vielen Nutzern schwer, die Qualität der verfügbaren Gesundheitsapps (vergleichend) einzuschätzen – zum einen aufgrund der Fülle konkurrierender Apps und zum anderen aufgrund fehlender (objektivierbarer) Beurteilungskriterien. Kritisch zu sehen ist zudem die nachweislich geringe Beteiligung qualifizierten professionellen Personals bei der Entwicklung derartiger Apps. Ähnliches gilt für die weiterhin mangelnde Interoperabilität zwischen verschieden Einrichtungen und Geräten. „Vor allem dann, wenn möglichst viele unterschiedliche Geräte miteinander kommunizieren sollen, muss eine Integration in Hinblick auf die technische Infrastruktur, die Datenbasis, die Funktionalitäten sowie auf semantischer Ebene (Benutzung gleicher Begriffe und Abkürzungen) geleistet werden“ [42]. Zudem besteht ein augenfälliger Widerspruch zwischen der dynamischen technischen und kommerziellen Entwicklung und der geringen Rolle wissenschaftlicher Begleitforschung [49]; bisher laufen medizinisch-technische Forschung und wirtschaftliche Appentwicklung weitgehend „unverbunden“ nebeneinander her [42]. Neben dem Mangel an Forschung fehlen ein regulierender Rahmen bzw. ein Setzen objektivierbarer Qualitätsstandards, z. B. in Form von Qualitätssiegeln [3].

(3) Schadenspotenzial

Ein offensichtliches Schadenspotenzial ergibt sich daraus, dass die Qualität wie auch die Präzision der genutzten Apps für den Nutzer nicht beurteilbar ist [42, 47]. Dies kann z. B. beim Selbstmonitoring von Parametern von (vermeintlichen) Krankheitswerten zu Fehleinschätzungen führen, indem falsch positive Werte zu voreiligen, falschen bzw. schädlichen Reaktionen (unnötige psychische Belastung, entbehrliche Arztbesuche, nicht indizierte Selbstmedikation) führen oder Krankheitssymptome verkannt bzw. in ihrer Relevanz unterschätzt werden können. Schlimmstenfalls wird eine schwerwiegende Krankheit verkannt oder eine noch heilbare Erkrankung aufgrund unzutreffender Daten als nicht behandlungsbedürftig eingeordnet.

(4) Auswirkungen auf die Arzt-Patient-Beziehung

Gesundheitsapps haben das Potenzial, die Kommunikationsstrukturen und damit die Beziehung zwischen Behandler und Patient zu verändern [42, 47]. Positive Effekte können darin bestehen, dass Appanwendungen eine vertiefte Beschäftigung mit dem eigenen Körper, mit etwaigen Krankheiten und deren Verläufen mit sich bringen. Die Patienten werden stärker in den präventiven, diagnostischen, therapeutischen oder rehabilitativen Prozess eingebunden und können hierbei aktive Rollen einnehmen. In vielen Fällen dürfte dies das Verständnis für ärztliche Ratschläge – kurz: für die Adhärenz und Therapietreue des Patienten – verbessern. Andererseits sind die Behandler bisher nicht regelhaft in das Zusammenspiel zwischen Nutzer bzw. Patient und App eingebunden. Appkonzepte sind – anders als z. B. telemedizinische Services – nicht zwangsläufig in Prozesse und Strukturen der klassischen medizinischen Versorgung integriert [50]. Sie können zwar u. U. diagnostische oder therapeutische Maßnahmen unterstützen, machen aber die ärztliche Konsultation nicht entbehrlich. Unterbleibt diese, können Apps die wichtige Kommunikation mit dem Arzt, die Arzt-Patient-Beziehung und damit auch das „therapeutische Bündnis“ schwächen, gerade dann, wenn die Potenziale und die Qualitätsstandards der Apps überschätzt und der Bedarf an ärztlicher Kontrolle unterschätzt werden.

(5) Auswirkung auf Patientenautonomie

Da der Appanwender durch die Erzeugung von und den eigenverantwortlichen Umgang mit gesundheitsbezogenen Daten aktiv in das eigene Gesundheits- bzw. Krankheitsmanagement eingebunden ist, wird seine Gesundheitsmündigkeit potenziell gestärkt [2]. Insofern können Apps als Beitrag zur Förderung der Patientenautonomie gelten. Gerade durch den interaktiven Charakter vieler Anwendungen können selbstständiges Lernen, die „Selbstwirksamkeit“ und das Gefühl der Selbstkontrolle verbessert werden [47]. Auch kann die (vermeintliche) Anonymität bewirken, dass Nutzer sich trauen, Fragen über die App zu stellen, was ihnen im direkten Face-to-Face-Kontakt mit Fachpersonal schwer fallen würde.

Andererseits haben klassische Aufklärungsgespräche und der darauf basierende „informed consent“ (Einwilligung nach Aufklärung) – zentrale Voraussetzungen jeder ärztlichen Maßnahme am Patienten und gelebter Ausdruck des Respekts vor der Patientenautonomie – in der dyadischen Beziehung von Nutzer und Gesundheitsapp keinen Platz. Ebenso scheint das grundsätzliche Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Kontext der Appnutzung in Frage gestellt: Während Patienten im herkömmlichen Behandlungskontext durch die Schweigepflicht des Behandlers geschützt sind, ist bei zahlreichen Apps nicht nachvollziehbar, wer zu welchem Zeitpunkt welche Daten einsehen kann und was mit diesen Daten passiert.

(6) Datenschutz und (7) Datensicherheit

Bei den meist kostenfreien Gesundheitsapps liefern die Nutzer quasi als Gegenleistung ihre persönlichen gesundheitsbezogenen Daten. Digitale Aktivitäten ziehen Datenspuren nach sich, deren weiterer Verlauf für den Nutzer in der Regel nicht nachvollziehbar ist [42]. Dies gilt auch für die Frage, mit welcher Zielsetzung Daten an Dritte weitergegeben werden (z. B. Werbezwecke, Erfassung des Konsumentenverhaltens, Informationen für Arbeitgeber oder Versicherungen; [22, 23, 45]). Gerade bei einem bewusst „auf Datentracking ausgerichteten Geschäftsmodell“ [42] sind die Folgen für den Nutzer weder kontrollierbar noch kalkulierbar. Mit anderen Worten: Es fehlt an Transparenz und an der Kenntnis der Folgen. Dieses Manko ist umso schwerwiegender, da Gesundheitsdaten zu den sensibelsten Daten überhaupt gezählt werden [21]. Auch Bedienungsfehler oder technische Defizite erhöhen das Risiko einer ungewollten Preisgabe von Informationen [23]. Des Weiteren besteht das Risiko, dass insbesondere technikunerfahrene Nutzer Apps downloaden, die Malware enthalten oder zweifelhaften Zwecken dienen.

Entsprechend wichtig ist es, dass Nutzer in die Lage versetzt werden, Apps zuverlässig qualitativ einzuordnen und Voreinstellungen bzw. Berechtigungen einer App so zu verändern, dass unerwünschte Zugriffe unterbleiben.

(8) Effizienz

Unbeschadet der in (2) genannten Nutzenpotenziale ist festzuhalten, dass eine Integration der mobilen Anwendungen in die bestehenden Technik- und Kommunikationsinfrastrukturen zumeist fehlt. Apps sind oft „Stand-alone-Lösungen“, die nicht in die gewachsenen (Gesundheits‑)Strukturen integriert sind [47]. Auch in den bestehenden elektronischen Patientenaktensystemen sind derartige Apps (noch) nicht „mitgedacht“. Es fehlt schlichtweg an einer systematischen Einbettung von Apps in Gesundheitsstrategien und Versorgungskonzepte.

Zudem weist das Smartphone, als das für die Apps maßgebliche Gerät, Limitationen auf. Zum einen ist es nicht lückenlos verfügbar bzw. einsatzbereit: In bestimmten Situationen bzw. an bestimmten Orten ist der Gebrauch von Smartphones nicht gestattet, zudem muss das Gerät regelmäßig aufgeladen werden. Hinzu kommt bei vielen Anwendungen die Abhängigkeit von Internetempfang und Netzqualität. Überdies weist die Hardware Grenzen auf (Größe des Bildschirms, Detailliertheit der Darstellung, Speicherkapazität etc.), welche die Nutzungsfreundlichkeit und Effizienz einschränken. Auch dies hat ethische Implikationen.

(9) und (10) Auswirkungen auf ärztliche Entscheidungsautonomie und -kompetenz

Während die ärztliche Entscheidungsautonomie und -kompetenz bei medizinischen Apps in vielfacher Hinsicht herausgefordert wird, spielt dieser Aspekt bei Gesundheitsapps eine geringere Rolle – eben weil hier ein klar strukturiertes „Zusammenspiel“ von Patient und Behandler fehlt [50].

(11) Zuschreibbarkeit von Verantwortung

Weitgehend ungeklärt ist auch die Frage der Haftung und des Umgangs mit appbezogenen Daten – sei es, dass diese missbräuchlich verwendet oder (unaufgefordert) vom Nutzer in die Praxis des behandelnden Arztes gesendet werden. Hintergrund ist auch hier nicht zuletzt die (noch) fehlende Integration in etablierte Versorgungsstrukturen.

(12) Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit

Grundsätzlich können Apps dazu dienen, Personen in ärztlich schlechter versorgten Regionen bzw. mit eingeschränkter Mobilität besser zu versorgen und so Unterschiede im Zugang zur Gesundheitsversorgung auszugleichen. Andererseits ist zu unterstellen, dass bestimmte Nutzergruppen aufgrund einer geringen Technikaffinität (z. B. betagte Menschen) oder geringem Technikverständnis benachteiligt bleiben. Zudem gibt es Personen, die sich die benötigten Smartphones bzw. Internetverbindungen nicht leisten können, sodass Zugangsbarrieren verbleiben bzw. neuartige Hindernisse entstehen. Ähnliches gilt für Personen, die in Regionen mit mangelhafter Internetanbindung bzw. Netzdichte leben.

Aus den skizzierten ethischen Evaluationen lässt sich eine Reihe von Empfehlungen ableiten, die an dieser Stelle nur stichwortartig vermerkt werden sollen (vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Normativ relevante Empfehlungen zum Anwendungsfeld Gesundheitsapps

Fazit

  • Technikgebrauch ist Teil der conditio humana. Dennoch ist Technik kein Selbstzweck, sondern muss das Ziel haben, menschliche Handlungsspielräume zu erweitern und hierbei das soziale Zusammenleben zu verbessern.

  • Die Ethik kann dann zu einem angemessenen Umgang mit den neuen Möglichkeiten beitragen, wenn sie integraler Bestandteil der Technikentwicklung ist, d. h. im Sinne einer Begleitforschung iterativ auf die Ausgestaltung des Produkts Einfluss nimmt.

  • Für ethische Technikevaluationen stehen mittlerweile verschiedene Bewertungstools zur Verfügung, die verschiedenen Disziplinen entstammen (z. B. Ingenieurswissenschaften [VDI-Richtlinie 3780] und Medizinethik [Prinzipienethik]) und auf verschiedene Kriterien (z. B. Nutzen- und Schadenspotenzial, Arzt-Patient-Beziehung, Autonomie/Empowerment, Datenschutz/informationelle Selbstbestimmung, Zuschreibbarkeit von Verantwortung, Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit) Bezug nehmen.

  • Neben Technikevaluationen bietet die angewandte Ethik in Form von Schulungs- und Fortbildungsangeboten und der Entwicklung von Empfehlungen und Leitlinien weitere Orientierungshilfen.

  • Ethische Empfehlungen zum Themenfeld E‑Health müssen sich stets auf ein konkretes Anwendungsfeld beziehen und können somit keine übergreifende Gültigkeit beanspruchen. Im Fallbeispiel der Gesundheitsapps sind dies die Etablierung verständlicher Auswahl- und Nutzungskriterien, die Verbesserung der Mediennutzungskompetenz, die Einführung objektivierbarer Qualitätsstandards, die Erweiterung der Aufklärungspflichten von Anbietern, die Erhöhung der Evidenz, die Integration der Appkonzepte in die Strukturen der klassischen Versorgung, die Förderung von Datenschutz und Datensicherheit, die Ahndung sittenwidriger Nutzungsverträge, die Klärung von Haftungsfragen und die Reduktion von Zugangsbarrieren.