„Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.‘ ‚Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.“

Bertolt Brecht [1]

Liebes Bundesgesundheitsblatt,

von Deinem Herausgeberbeirat erhielt ich die ehrenvolle Aufgabe, das Editorial zu Deiner Jubiläumsausgabe zu schreiben. Das tue ich gern, aber ich hätte die meinem Text nachfolgenden Würdigungen und Gratulationen durch die Präsidentin und die Präsidenten Deiner Herausgeberinstitute nicht vorher lesen sollen. Denn dann hätte ich Dir auch ausschließlich Komplimente gemacht und Deine herausragende Rolle bei der Förderung der Kommunikation all derer gewürdigt, die sich der „öffentlichen Sorge um die Gesundheit aller“ (Public Health) verschrieben haben. Aber so stellte ich fest, dass alles, was ich mir an Würdigungen zu Deinem 60. Geburtstag überlegt hatte, bereits niedergeschrieben war. Um nicht gar zu redundant zu werden, stellte ich mir eben die Frage nach Deinem „Woher“ und Deinem „Wohin“. Das Ergebnis kann ich getrost vorwegnehmen: Du musst nicht wie Brechts Herr Keuner erbleichen. Du hast Dich sehr verändert.

Ich suchte zu Beginn nach markanten Etappen Deiner Entwicklung, beginnend mit Familienanamnese, Schwangerschaft und Geburt. Das Bundesgesundheitsamt, gegründet im Jahr 1952, brauchte ganze sechs Jahre, um Dich unter heftigen Wehen im Januar 1958 als sein Publikationsorgan auf die Welt zu bringen. Dieser Prozess ist sehr interessant beschrieben von Manfred Stürzebecher in seinem Artikel „Aus der Vorgeschichte des Bundesgesundheitsblattes 1953 bis 1957“ [2]. Eine Mixtur aus Kompetenzgerangel, Zuständigkeitsverwirrungen, Finanzproblemen, ersten Föderalismusübungen und ein bisschen Intrigen hat Deine Geburt sehr herausgezögert. Selbst um Deinen Namen gab es Streit: Du solltest den Zusatz „Neue Folge des Reichsgesundheitsblattes“ in Deinem Titel haben. Allerdings erschien es letztendlich „angeraten, den Zusatz … zu streichen“ [2]: Als Du dann endlich am 31. Januar 1958 das Licht der Welt erblicktest, stand im Geleitwort, sozusagen in Deiner Geburtsurkunde, zu lesen, man halte „den Zeitpunkt für gekommen, das ehemalige Reichsgesundheitsblatt durch ein Bundesgesundheitsblatt fortzusetzen. Dieses soll die wesentlichen Aufgaben seines Vorgängers übernehmen, die vorwiegend in der laufenden Unterrichtung aller im Öffentlichen Gesundheitsdienst Tätigen und aller am Öffentlichen Gesundheitswesen Interessierten über Tatsachen, Ereignisse und aktuelle Fragen auf diesem Gebiet bestehen“ [3]. Zu der Frage, worin die Unterrichtung der Öffentlichkeit durch das Reichsgesundheitsblatt in den Jahren von 1933 bis 1945 bestand, hier nur einige Beispiele, im Internet recherchiert: „Die Unfruchtbarmachung Asozialer gemäß dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, „Die Praxis der Rassenhygiene in Deutschland“, die Statistik „Jüdisch-Arischer Mischehen“, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (Erbgesundheitsgesetz), die „Vornahme wissenschaftlicher Experimente am Menschen als Heilversuch“, die Auswirkungen von „Rassenmischehen“, die „Artung jugendlicher Rechtsbrecher“ …

War das alles 1958 schon vergessen? Das wahrscheinlich nicht, man sparte dieses Zeitfenster einfach aus, sprach nicht drüber und berief sich wohl eher auf die positiven Traditionen des Reichsgesundheitsblattes vor 1933. Aber dieser Geburtsfehler schmerzt.

Und dann begann der Start ins Leben. Erst vierzehntägig, dann monatlich erschienen die Ausgaben des Bundesgesundheitsblatts. In unserer Bibliothek (der des Robert Koch-Instituts) stehen alle Jahrgänge des Bundesgesundheitsblatts seit 1958 gebunden im Regal. Schwere dicke Bände, die in den jüngeren Jahrgängen immer noch schwerer und noch dicker geworden sind. Beim oberflächlichen „Screening“ der ersten 30 Jahre fiel mir auf, wie sehr sich die Themen heute und damals ähneln: Es ging um Influenza-Pandemien, um die Impfungen, um Größe und Gewicht von Kindern, um deren Schulfähigkeit, um Hygienevorschriften, die Sauberkeit von Wasser und Luft, um Ausbrüche von Lebensmittelvergiftungen, die Gesundheit von Vegetariern, die Lebensbedingungen von palästinensischen Flüchtlingen (932.000) in Flüchtlingslagern, um die Nebenwirkungen von Arzneimitteln. Es gab eine „Seuchen-Schnellinformation“ die in den Achtzigern um die „AIDS-Schnellinformation“ erweitert wurde. In zarten Anfängen tastete man sich an die gesundheitliche Schädlichkeit des Zigarettenrauchens heran, indem man die auf dem Markt befindlichen Zigaretten auf ihre Bestandteile untersuchte (die damals noch nicht auf den Packungen standen). Später kamen Überlegungen zu den Möglichkeiten der Krebsvorbeugung, zur Vermeidung von Krebstodesfällen und zur Notwendigkeit einer Krebsregistrierung hinzu. Aber auch Themen wie die Bezeichnung und Rezeptur alkoholischer Getränke (z. B. „5. Eierlikör, Eiercreme, Eiercocktail, Advokat und Eierbranntwein aus Wein enthalten mindestens 240 g Eigelb im Liter“) fanden Eingang.

Apropos Eierlikör: Zum 30. Geburtstag gab es mal wieder so etwas wie eine Geburtstagsfeier mit besonderer Würdigung. In der Ausgabe 12/1988, des Bundesgesundheitsblatts erschien ein Editorial „30 Jahre Bundesgesundheitsblatt“. (Das ist sozusagen der Vorläufer des jetzigen „60 Jahre Bundesgesundheitsblatt“-Editorials, denn dazwischen war wieder 30 Jahre Pause.) Die Zwischenüberschriften, die Martin Stürzebecher in diesem Artikel [4] zur Charakterisierung von 30 Jahren Bundesgesundheitsblatt verwendete, waren „Sachlichkeit als Leitmotiv“, „Breiter Raum für einschlägige Rechtsvorschriften“, „Mediziner: Geringes Interesse an Gesundheitsstatistik“, „Originalarbeiten als Qualitätsmaßstab“, „Aktuelle Relevanz beeinflusst die Themenwahl“, „Akzentverschiebung in Richtung Sozialmedizin“, „Infektionskrankheiten von gleichbleibender Aktualität“, „Bundesgesundheitsblatt Teil der Öffentlichkeitsarbeit“ und passen (fast) alle auch heute noch. Und, mein liebes Bundesgesundheitsblatt, Du bekamst ein neues Kleid zu Deinem Geburtstag: „Erstmals ohne Bundesadler“ war die Schlagzeile dazu. Ich war ganz erschrocken und habe nachgeschaut: Der Bundesadler war noch da. Er befand sich lediglich nicht mehr auf jeder einzelnen Druckseite. Das neue Layout des Covers mutete im Vergleich zum vorherigen „Amtsblatthabitus“ etwas moderner an. (Siehe Titelblatt dieser Ausgabe.)

Alles schön, wäre in diesem Editorial nicht erneut die Kontinuität der Entwicklung vom Reichsgesundheitsblatt zum Bundesgesundheitsblatt unkritisch beschworen worden. Große Teile des Geleitworts zur ersten Ausgabe 1958 wurden in voller Länge und unkommentiert zitiert, so auch der Satz „Kennzeichen des Reichsgesundheitsblattes war seine absolute Sachlichkeit, dies soll auch Leitmotiv des Bundesgesundheitsblattes sein.“ Das war im Jahr 1988.

Mit dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung Deutschlands und der Wahl von Berlin als Hauptstadt wehte auch im Bundesgesundheitsamt ein frischer Wind, was sich in den Publikationen des Bundesgesundheitsblatts widerspiegelte: Veröffentlichungen wie „Die umwelthygienische Situation in der DDR“, „Influenza 1989/90 Gemeinsamer Bericht der Nationalen Referenzzentren für Influenza im Robert Koch-Institut des Bundesgesundheitsamtes und im Zentralinstitut für Hygiene, Mikrobiologie und Epidemiologie der DDR“ fanden ab 1991 Eingang in das Bundesgesundheitsblatt. Diskussionen zum Aufbau des Öffentlichen Gesundheitsdienstes in den neuen Bundesländern, die einheitliche Krebsregistrierung in den alten und neuen Bundesländern, die Zusammenführung von Meldedaten, die Notwendigkeit eines Datenschutzgesetzes bestimmten die Diskussion. Auch kritische Artikel wie „Die Bundesrepublik Deutschland – ein epidemiologisches Entwicklungsland“ wurden publiziert.

So weit das historische Aktenstudium, mein liebes Bundesgesundheitsblatt. Hier noch meine persönlichen Erfahrungen: Als ich im Jahr 1992 an das Bundesgesundheitsamt kam, warst Du 34 Jahre alt und wurdest mir von Kollegen vorgestellt mit den Worten: „Wenn du ein Manuskript nirgends mehr unterbekommst, versuch es beim Bundesgesundheitsblatt, die nehmen alles.“ Das war nicht gerade die beste Empfehlung, aber von dieser Ausgangsbasis startend konntest Du Dich eigentlich nur noch verbessern und weiterentwickeln. Der erste äußere Anlass dafür war schon recht bald gegeben: Durch die Auflösung des Bundesgesundheitsamts im Jahr 1994 ging Dir Dein damaliger Herausgeber verlustig. Zwar wurde dieser Akt der Zerschlagung eines Amtes bis heute in keiner Deiner Ausgaben erwähnt oder gar historisch eingeordnet, aber zumindest reflektierte das Impressum die Veränderung unmittelbar (Vergleiche Cover 1988 und 1998): Sozusagen „über Nacht“ hattest Du statt einem auf einmal vier Herausgeber: Das Institut für Wasser‑, Boden- und Lufthygiene, das Robert Koch-Institut, das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und das Arzneimittelinstitut, also die Nachfolgeinstitutionen des Bundesgesundheitsamts. Das war aber nicht alles an Veränderungen. Da das Bundesgesundheitsblatt (und diesmal tatsächlich auch das Reichsgesundheitsblatt) immer ein Spiegel der Verfasstheit seiner Herausgeber war, begann nun eine sehr dynamische Entwicklung. So wie die einzelnen Bundesinstitute in Nachfolge des BGA sich neu formieren und definieren mussten, so hast auch Du, bei Wahrung Deiner Grundfunktionen, einen Reformprozess durchgemacht. Zu Deinem 40. Geburtstag im Januar 1998 war dieser Prozess noch nicht abgeschlossen, das war er dann mit einem Jahr Verspätung. Im Januar 1999 erschienst Du nicht nur in neuem Gewande, sondern auch mit neuer Profilierung. Als Erweiterung Deines Namens bekamst Du den Untertitel „Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz“, was ein eindeutiger Hinweis war auf Deine stärkere wissenschaftliche Orientierung. Durch den zusätzlichen Vermerk „Fortsetzung von Bundesgesundheitsblatt und Infektionsepidemiologische Forschung“ wurde auch deutlich, dass hier zwei Publikationsformen zusammengeführt wurden. Der Heymann-Verlag, bei dem das Bundesgesundheitsblatt bis dato erschienen war, wurde vom Springer-Verlag abgelöst. Die Herausgeber waren nunmehr das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das Robert Koch-Institut (RKI), das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), allesamt Bundesinstitute (oder auch Oberste Bundesbehörden) im Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums.

Ulrich Marcus, der damalige Redakteur des Bundesgesundheitsblatts und Mitarbeiter des RKI, schrieb in seinem Editorial mit dem Titel „Ein neuer Anfang für das Bundesgesundheitsblatt mit einem alten Thema“ Folgendes: „Die ergänzenden Untertitel Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz stehen für die Absicht, nicht nur Beiträge und Verlautbarungen aus den Herausgeberinstituten zu publizieren, sondern ein offenes Forum zu werden – vor allem für anwendungsorientierte Beiträge, die sich mit aktuellen Fragestellungen des Gesundheitsschutzes, der Krankheitserkennung, -vermeidung und -bekämpfung beschäftigen.“ [5].

Du hast fortan auch einen Herausgeberbeirat, der sich nicht nur aus den Vertretern und Vertreterinnen der Herausgeberinstitute zusammensetzt, sondern in den auch unabhängige externe Gesundheitswissenschaftler berufen werden. Und Du stimmst mir sicher zu, dass dies das Spektrum Deiner Publikationen breiter, bunter, interessanter gemacht hat. Die meisten der Hefte hatten künftig ein Schwerpunktthema. Zu Deinem 50. Geburtstag im Januar 2008 bekamst Du zwar keine Laudatio, aber ein Schwerpunktthema, das schon an sich ein Kompliment für Deine Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit darstellt: „Geschlecht und Gesundheit“. Das hätte sich wohl keiner Deiner Gründungsväter (‑mütter waren nicht dabei) träumen lassen. Und ein neues Kleid gab es außerdem. Und englische Abstracts, die nunmehr auch in PubMed zu finden sind.

Weitere 10 Jahre später ist es an mir, Dich zu beglückwünschen. Nicht einfach dazu, dass Du 60 Jahre durchgehalten hast, obwohl auch das nur wenigen Zeitschriften und Journalen gelingt. Sondern dazu, dass Du Dich gewandelt, modernisiert und neu erfunden hast. Zu Deiner Öffnung für hochwertige wissenschaftliche Publikationen, die einem externen Review unterzogen werden, zur Digitalisierung Deiner Inhalte sowie zur Erlangung und Erhöhung Deines Impact Factors. Wie es mit einem neuen Kleid aussieht, weiß ich nicht, aber lieber „mehr Sein als Schein“ als umgekehrt. Ich wünsche Dir, dass zu einem nächsten runden Geburtstag, vielleicht zum 75. und nicht erst zum 90., Deine ganze Historie differenziert beschrieben und gewürdigt wird. Das wäre sehr spannend und hat so viel mit der Entwicklung unserer Gesellschaft zu tun, dass das vielleicht sogar einen eigenen Themenschwerpunkt wert ist. Aber das entscheidet der Herausgeberbeirat. Auch ihm gebührt anlässlich des runden Geburtstags Dank für seine kluge Themenauswahl, ebenso den Reviewern, die wesentlich zur Festigung Deines Rufs als wissenschaftliche Zeitschrift beigetragen haben. Und auch dem Springer-Verlag sei gedankt. Aus meiner Zeit im Herausgeberbeirat weiß ich, mit wie viel Geduld der Verlag Deine Entwicklung begleitet hat. Und sicher wird er uns weiter unterstützen bei moderneren Zugangswegen zu den Originalpublikationen bis hin zur angestrebten Etablierung des Bundesgesundheitsblatts als Open Access Journal.

Ich wiederum erhebe symbolisch mein Glas auf Dich und sage nicht: „Bleib so, wie Du bist“, sondern „Verändere Dich weiter, bleib dynamisch, bleib im Wandel“.

Herzlichen Glückwunsch!

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Bärbel-Maria Kurth