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Einblicke in die Datenlage zur Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung in Deutschland

Möglichkeiten und Grenzen von Gesundheits-, Kriminal- und Sozialstatistiken

Insights into the state of data about neglect and abuse of children in Germany

Possibilities and limitations of health, crime and social statistics

  • Leitthema
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Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz Aims and scope

Zusammenfassung

Derzeit ist für Deutschland von einer defizitären Datenlage zum Ausmaß der Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern respektive den dadurch verursachten Gefährdungen des Kindeswohls auszugehen. Anhaltspunkte zu diesen Gefährdungslagen liefern neben sporadischen Untersuchungen die Daten der Kriminalstatistik, der Gesundheitsstatistiken sowie der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik. Die Statistiken machen deutlich, dass entgegen der öffentlichen Wahrnehmung Kindstötungen zurzeit auf einem – historisch gesehen – niedrigen Niveau stagnieren beziehungsweise in den letzten Jahren weiter abgenommen haben. Gleichzeitig steigt laut den statistischen Daten die Sensibilität gegenüber möglichen Gefährdungen von Kindern vor Vernachlässigungen und Misshandlungen. Speziell für die Kinder- und Jugendhilfe leistet hierzu die Konkretisierung des Schutzauftrages für das Jugendamt zur Vermeidung von Kindeswohlgefährdungen (§ 8a SGB VIII) einen Beitrag. Allerdings weiß man zu wenig über diese Kontexte. Notwendig bleibt eine Verbesserung der Datenlage. Um dies zu erreichen, ist die regelmäßige Erfassung und Dokumentation von Vernachlässigungs- und Misshandlungsfällen einzufordern. Vielversprechend könnte hier eine regelmäßige Erfassung von Daten über eine amtliche Statistik beim „Allgemeinen Sozialen Dienst“ des Jugendamtes sein.

Abstract

The present database concerning the extent of neglect and abuse of children in Germany and accordingly the endangerment of their health and well-being has to be considered as deficient. Yet the degree of danger is indicated by sporadic empirical research as well as the police statistics on criminality, the health statistics and the official statistics on child and youth welfare. In contrast to the general public opinion the analyses of the available data have shown a stagnation in the infanticide rate at a historically low level and even a decline in infanticide in recent years. Meanwhile, according to statistics the sensitivity to the threats of neglect and abuse of children is increasing. Especially the clarification of the order for protection in the Child and Youth Welfare Act (§ 8a SGB VIII) contributed to the raised interest and attention from child and youth welfare services. However, these contexts are insufficiently researched, which makes an improvement of the database inevitable. Therefore, a continuous registration and documentation of cases of child neglect and abuse is necessary. A promising option to attain a significant database is a routine collection of data in the context of an official statistic by the child and youth welfare departments.

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Abb. 1
Abb. 2

Notes

  1. Über Patienten/-innen niedergelassener Ärzte/-innen liegt im Übrigen keine vergleichbare bundesweite Statistik vor.

  2. Eine Sektionspflicht für zum Beispiel alle Kinder, die zu Hause tot aufgefunden werden, gibt es in Deutschland – anders als in anderen europäischen Ländern oder auch als in der ehemaligen DDR – in der Regel nicht.

  3. Berücksichtigt wird hier die Kategorie „Tätlicher Angriff“, ICD10 [X85–Y09 (http://www.gbe-bund.de)]. Hierunter fallen beispielsweise tätliche Angriffe durch Erhängen, Strangulieren oder Ersticken (X91), tätliche Angriffe durch Ertränken (X92) oder tätliche Angriffe mit scharfem Gegenstand (X99).

  4. Mitunter werden Neugeborene direkt nach der Geburt Opfer eines Tötungsdelikts durch die Mutter. Angebote, die diesen sogenannten Neonatizid verhindern sollen, sind zum Beispiel Babyklappen und die Möglichkeit der anonymen Geburt. Hierüber wird in Deutschland kontrovers diskutiert. In den letzten Jahren ist trotz der ungeklärten Rechtslage die Anzahl dieser Angebote gestiegen. Mittlerweile ist bundesweit von rund 80 Babyklappen auszugehen, mehr als 30 Kliniken bieten zudem anonyme Geburten an. Es fehlen jedoch verlässliche Daten zur Inanspruchnahme dieser Angebote [15, 16].

  5. Im Einzelnen sind folgende Straftatbestände von Relevanz: a) Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung und Körperverletzung mit Todesfolge. Zu b) Gefährliche und schwere Körperverletzung, Misshandlung von Schutzbefohlenen, fahrlässige Körperverletzung, Körperverletzung im Amt und vorsätzliche leichte Körperverletzung.

  6. Grundsätzlich unterscheiden die veröffentlichten Standardtabellen der PKS die Angaben zu den Opfern nach folgenden Altersgruppen: unter sechs Jahre, sechs bis unter 14 Jahre, 14 bis unter 18 Jahre, 18 bis unter 21 Jahre, 21 bis unter 60 Jahre, 60 Jahre und älter.

  7. Auch mit Blick auf die Ergebnisse der PKS ist von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen. Nach neueren rechtsmedizinischen Studien bei Tötungsdelikten kann von einer Dunkelziffer von etwa eins zu eins ausgegangen werden. Es liegen jedoch auch erheblich höhere Schätzungen für die Dunkelziffer vor [18].

  8. Im Jahr 2008 weist die PKS nur in 228 der 926 Fälle keine Vorbeziehung zwischen Tatverdächtigem/-er und Opfer aus. Über die Standardtabellen der PKS liegen diesbezüglich allerdings keine altersdifferenzierenden Angaben vor.

  9. Zugrunde gelegt wird hier die Zahl der gewährten Hilfen zur Erziehung, nicht die Zahl der durch die Hilfen zur Erziehung erreichten jungen Menschen. Diese Summe liegt für das Jahr 2008 bei den weiter oben genannten rund 194.000.

  10. Auch wenn das in den vorangegangenen Ausführungen nicht weiter vertieft werden konnte, so scheint diese Feststellung ohne Weiteres übertragbar auf potenzielle Vernachlässigungs- und Misshandlungsfälle an Schulen respektive allgemein in Einrichtungen des Bildungs- und Erziehungswesens.

  11. Auf kommunaler Ebene sowie in den Bundesländern sind entsprechende Entwicklungen für die letzten Jahre zu konstatieren. Jugendämter haben damit begonnen, Gefährdungsmeldungen und Kinderschutzfälle gesondert zu dokumentieren. Auf kommunaler Ebene werden verschiedene Ansätze verfolgt, um zuverlässige Daten über das Ausmaß und den Umfang von Kindeswohlgefährdungen zu erheben.

Literatur

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  10. Deutscher Bundestag (Hrsg) (2009) Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland – Elfter Kinder- und Jugendbericht – mit der Stellungnahme der Bundesregierung. Drucksache 14/8181. Eigenverlag, Berlin, S 89f

  11. Beispielhaft: Oettinger fordert „Erziehungsgespräche“. Mehr staatlicher Einfluss auf Kindererziehung. In: Handelsblatt vom 27.12.2005. Tatort Elternhaus. In: Berliner Morgenpost vom 10.6.2008

  12. Deegener G (2005) Formen und Häufigkeiten der Kindermisshandlung. In: Deegener G, Körner W (Hrsg) Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch. Hogrefe, Göttingen, S 37–58

  13. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hrsg) (2009) ICD-10-GM. Version 2010. Systematisches Verzeichnis. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision. http://www.dimdi.de

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Danksagung

Für die Auswertungen der statistischen Daten zu Fällen der Hilfen zur Erziehung aufgrund einer Kindeswohlgefährdung danken wir Kirsten Fuchs-Rechlin. Unser Dank geht ferner an Michael Walter für die hilfreichen Kommentierungen der Ergebnisse aus den Gesundheits- und Kriminalstatistiken sowie an Prof. Dr. Thomas Rauschenbach für seine Anregungen zur Entwicklung von Perspektiven für eine zukünftige statistische Erfassung. Schließlich ist Wiebken Düx für ihre Unterstützung bei der Beitragserstellung zu danken.

Interessenkonflikt

Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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Fendrich, S., Pothmann, J. Einblicke in die Datenlage zur Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung in Deutschland. Bundesgesundheitsbl. 53, 1002–1010 (2010). https://doi.org/10.1007/s00103-010-1125-9

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