„Es ist wichtiger zu wissen, welche Person eine Krankheit hat, als zu wissen, welche Krankheit eine Person hat.“ (Hippokrates)

In der vorliegenden Ausgabe von Die Anaesthesiologie beschreiben Sadjadi und Meersch-Dini Möglichkeiten zur Individualisierung der Therapie in der Anästhesiologie und Intensivmedizin [1]. Das Thema ist sehr aktuell und wird auch unter den Begriffen „personalisierte Medizin“ oder „Präzisionsmedizin“ subsumiert. Personalisierte Medizin wird bereits in vielen Bereichen der klinischen Versorgung angewandt, z. B. in der Behandlung chronischer Erkrankungen, der Onkologie, der regenerativen Medizin und in vielen anderen Sektoren.

Grundlage jeder Behandlung sind selbstverständlich aktuelle Leitlinien, die für viele Krankheitsbilder und Syndrome publiziert sind. In der Intensivmedizin sind dies z. B. Leitlinien zu Diagnostik und Therapie der Sepsis, zur Beatmungstherapie bei Patienten mit akutem Lungenversagen und – aktuell – auch die immer wieder fortgeschriebenen Empfehlungen zur Therapie von Patienten mit COVID-19. Leitlinien sind also die Basis jeder Therapie, aber sie können selbstverständlich nicht für jedes Individuum die perfekte Behandlung definieren.

Leitlinien können nicht für jedes Individuum die perfekte Behandlung definieren

Die individualisierte Therapie sieht jeden Menschen als einzigartiges Wesen an, welches auf dem Boden unterschiedlicher Voraussetzungen eine spezifische Prävention, Diagnostik und Therapie benötigt. Ein personalisierter Ansatz kann auf somatischer Basis genetische Faktoren berücksichtigen, biochemische Variationen z. B. der Pharmakokinetik erfassen und im Bereich der Tumortherapie Rezeptormerkmale von Malignomen bestimmen, die dann eine sehr zielgerichtete Therapie mit deutlicher Verbesserung der Prognose erlauben. Neben diesen rein somatischen Ansätzen muss individualisierte Therapie aber auch die persönlichen Wünsche und Bedürfnisse des einzelnen Patienten berücksichtigen und therapeutische Optionen mit individuellen Wünschen des Patienten in Einklang bringen.

Individualisierte Medizin wirft grundlegende ethische, rechtliche und auch ökonomische Fragen auf. Hierzu wird derzeit sehr aktiv Forschung betrieben. Diese wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des europaweiten Projekts „Personalized medicine 2020 and beyond“ unterstützt.

Computergesteuerter Trendanalysen patientenindividueller Daten könnten frühzeitig Warnsignale geben

Für die Anästhesiologie und Intensivmedizin ist individualisierte Medizin äußerst interessant, v. a. weil in der Akutphase eine Vielzahl von Daten zur Verfügung steht, die in der Mehrzahl der Fälle nur zu einem verschwindend geringen Anteil tatsächlich genutzt werden. Hier könnte zukünftig künstliche Intelligenz zur Analyse Verwendung finden. Sadjadi und Meersch-Dini zeigen dies an Beispielen aus dem Alltag. Typisch ist z. B., dass in der Intensivmedizin erst auf manifeste, einfach messbare Veränderungen reagiert wird. Veränderungen treten aber selten plötzlich und akut auf. Vielmehr ist es so, dass wir häufig erst spät schwerwiegende Veränderungen erkennen, obwohl der Prozess schon lange vorher begonnen hat. Hier wäre ein idealer Platz für computergesteuerte Trendanalysen, die frühzeitig Warnsignale geben würden und die v. a. alle vorhandenen Informationen in einem Modell zusammenführen könnten.

Ergänzend könnten neue – bereits heute klinisch verfügbare – Biomarker zur Anwendung kommen, die z. B. für die akute Nierenschädigung oder infektiöse Erkrankungen relevante prognostische und prädiktive Informationen liefern. Wertvoll wären v. a. die Detektion einer subklinischen Schädigung vor Manifestation eines Organversagens und die Abschätzung der Regenerationsfähigkeit bei bereits manifestem Organversagen. Ein typisches Beispiel ist die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit für eine Erholung von einer Nierenschädigung vs. dem Übergang in eine terminale Niereninsuffizienz. An dieser Stelle können dann die individuellen Patientenwünsche, z. B. bezogen auf die Lebensqualität nach Beendigung der Intensivtherapie, berücksichtigt werden.

Biomarker könnten Aussagen zu subklinischen Schädigungen und zur Regenerationsfähigkeit erlauben

Sadjadi und Meersch-Dini beschreiben solche Ansätze für eine Reihe von Krankheitsbildern. Sie werten den aktuellen Kenntnisstand aber auch kritisch. Eine Warnung vor einer allzu optimistischen Vision muss ausgesprochen werden, denn viele Konzepte müssen in der klinischen Praxis noch validiert werden. Die Verantwortung bei der Anwendung ist groß, denn, wenn richtungweisende Entscheidungen gefällt werden, muss die Datenbasis sicher sein. Darüber hinaus sind gute kommunikative Fähigkeiten der Behandelnden erforderlich, um Patienten und Angehörigen die entsprechenden Informationen als Entscheidungsgrundlage darzustellen und beratend tätig zu werden.

Zusammenfassend hat eine individualisierte Medizin ein hohes Potenzial, in den Bereichen Früherkennung, Risikostratifizierung und Therapiesteuerung unter Berücksichtigung sowohl der patientenspezifischen somatischen Besonderheiten als auch der individuellen Wünsche und Präferenzen, eine optimierte Behandlung zu realisieren.