Begriffserklärung

Das Konzept des digitalen Zwillings hat in den letzten Jahren in vielen Ingenieursdisziplinen (z. B. Raumfahrt, Maschinenbau, Städtebau) Verbreitung gefunden [1]. Der digitale Zwilling, als virtuelle Repräsentation physischer Entitäten und Prozesse, erregt aber auch in der Medizin zunehmend Aufmerksamkeit [2]. Dabei ist zum besseren Verständnis des Themenfeldes zunächst eine Begriffserklärung auch mit Bezug auf das generelle Feld des maschinellen Lernens (ML) nötig, welches gemeinhin mit sog. künstlicher Intelligenz assoziiert wird. Durch Fortschritte im Bereich von ML und besonders der „tiefen“ Modellarchitekturen („deep ML“) können beliebig komplexe Muster in Daten zur Vorhersage von zukünftigen Ereignissen abgeleitet werden („random function approximator“). Gerade bei der Anwendung in der Medizin sind jedoch „Blackbox“-Systeme [3, 4], d. h. Vorhersagen ohne eine für ärztliche Behandler nachvollziehbare Begründung, in die Kritik geraten [5]. Daher gewinnt das Thema „explainable ML“, bei dem Modelle oder zumindest deren Vorhersagen anhand menschenlesbarer Parameter erklärbar bleiben, zunehmend an Bedeutung.

Abseits von klassischem „deep ML“ wurden im klinischen Kontext seit Langem Versuche unternommen, anhand von physikalisch-physiologischen Computermodellen („first principle models“) behandlungsrelevante Zustände zu simulieren und so klinische Vorhersagen zu treffen. Hierbei kann zwischen einem traditionellen, hypothesengetriebenen Simulationsmodell, welches Vorhersagen auf Basis von manuell vorselektierten Anfangsannahmen tätigt, und dem aus Daten abgeleiteten digitalen Zwilling [6] unterschieden werden. Moderne Methoden zur Herleitung eines digitalen Zwillings machen sich „deep ML“ zunutze. Dadurch sollen der Kuratierungs- und Kalibrierungsaufwand von klassischen Simulationsmodellen reduziert und zugleich die Genauigkeit verbessert werden. Die Interpretierbarkeit der Simulationsmodelle bleibt im Sinne der „explainable ML“ erhalten [7]. Exemplarisch für methodische Ansätze sind hier die Arbeiten aus dem Creative Machines Lab [8], die „physics-informed neural networks“ (PINN) [9], „sparse identification of nonlinear dynamics (SINDy)“ [10] oder „neural ordinary differential equations“ [11] zu nennen. All diese Methoden der angewandten Mathematik verfolgen den Ansatz, datengetrieben mechanistische Zusammenhänge abzuleiten, die durch die Messungen beschrieben werden [7].

Vorarbeiten im Bereich Anästhesiologie

Seit mehr als 2 Jahrzehnten werden Simulationsmodelle allgemein im Bereich der anästhesiologischen Aus- und Weiterbildung ähnlich zu einem Flugsimulator für Piloten eingesetzt [12]. Am Computer simulierte (in silico) Beobachtungen werden zunehmend aber auch für spezielle (patho-)physiologische Szenarien entwickelt, wie z. B. jene zur kindlichen Apnoetoleranz [13]. Am Beispiel dieser Arbeit wird deutlich, dass durch eine Simulation valide Aussagen auf einer Datenbasis getroffen werden können, die aus ethischen Gründen nicht im Rahmen von klinischen Studien erhoben werden können. Ein weiteres bekanntes Beispiel von Simulation in der klinischen Anwendung ist das pharmakokinetische-pharmakodynamische „Multi-compartment“-Modell (PK/PD). Durch dieses können Vorhersagen zu Medikamentenkonzentrationen im Blut für Pharmaka getroffen werden. Die Technologie wurde bereits über kommerziell verfügbare „Target-controlled-infusion“(TCI)-Pumpen in die klinische Routineversorgung eingeführt [14, 15]. Anhand dieser und anderer kardiovaskulärer Beispielszenarien [16, 17] lässt sich die Validität von Simulationsansätzen für Fragestellungen der Anästhesiologie belegen. Für einen echten digitalen Zwilling in der perioperativen Medizin werden im Vergleich zu Simulationsmodellen besonders hohe Anforderungen an valide Datenressourcen gestellt. Die z. T. hochauflösenden, multimodalen Primärquellen (z. B. Biosignale aus dem Patienten-Monitoring, Medikations- oder Labordaten), die demografischen Variablen sowie die definierten und standardisierten klinischen Interventionen, welche an vielen Standorten bereits digital erfasst werden, bilden eine Grundlage zur Anwendung der datenintensiven Methoden, wie sie kaum ein anderer klinischer Kontext bereithält. Die aufgezeichneten klinischen Interventionen bzw. die hochfrequent erfassten Auswirkungen auf den Patienten stellen eine strukturierte „Auslenkung“ der Physiologie dar, welche für die Erforschung von digitalen Zwillingen in der Klinik von entscheidender Bedeutung sein kann.

Einsatzgebiete des digitalen Zwillings in der anästhesiologischen und intensivmedizinischen Forschung wurden bereits erfolgreich aufgezeigt. So wurde z. B. ein komplexes poroelastisches Lungenmodell basierend auf Bildgebung und Gerätedaten angepasst. Auf dieser Grundlage konnte eine Beatmung patientenindividualisiert durchgeführt werden [18]. In diesem Zusammenhang wurden aktuell auch Rekrutierungsdynamiken in der Lunge einer 50-jährigen Patientin mit „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS) analysiert [19]. Im intraoperativen Kontext wurde ein gängiges Simulationsmodell für die Herzauswurfleistung anhand von Echokardiographiedaten auf reale Patienten personalisiert [20]. Im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie konnten gewöhnliche Differenzialgleichungsmodelle, angereichert durch klinisches Expertenwissen, eine mechanistische Vorhersage zu individuellen klinischen Verläufen von COVID-19-Patienten unter Dexamethasontherapie treffen [21]. Anhand der genannten Beispiele wird deutlich, dass der digitale Zwilling in der perioperativen Medizin bei einer Vielzahl an Therapie- und Prognosesituationen Anwendung finden kann.

Technischer Bedarf

Bei der Entwicklung, Validierung und breite klinische Einsetzbarkeit von digitalen Zwillingen bestehen noch erhebliche Hürden. Diese wurden jüngst auch für das Feld der kardiovaskulären Medizin systematisch aufgezeigt [2]. So stehen in Deutschland der klinischen Anwendung aktuell methodisch-translationale wie auch infrastrukturelle Herausforderungen im Krankenhaus entgegen. Im Rahmen von „Proof-of-concept“-Studien muss neben den methodischen Kompetenzen aus Informatik und Ingenieurswissenschaften auch die medizinisch-fachliche Expertise eingebracht werden, um Outcome-orientierte und anwendungsnahe Fragestellungen für digitale Zwillinge zu entwickeln. Die im nächsten Schritt notwendige klinische Validierung wirft wiederum Fragen zur Bewertung von völlig neuen Messgrößen wie digitalen Biomarkern oder Zuverlässigkeitsmaßen von Modellvorhersagen auf. Diese bedürfen langfristig einer Einordung entlang klinischer Rationale und anhand geeigneter klinischer Studien, um etwaige Behandlungsvorteile durch die Anwendung von digitalen Zwillingen evidenzbasiert darzulegen.

Bei den infrastrukturellen Herausforderungen erscheint weder die breite Verfügbarkeit von (hochauflösenden) Daten aus dem Versorgungskontext noch die entsprechende Rechen- und Speicherkapazität zu Entwicklung und Validierung der Modelle in den Kliniken als gegeben. Auch Standards zur Gewährleistung von Interoperabilität und zur Datenhaltung entsprechend den FAIR-Prinzipien [22] sind für die spezifischen Modelle und Daten weitgehend nicht definiert. Ein Verweis sei hier auf Arbeiten aus der Systembiologie gegeben, in der vonseiten der Grundlagenwissenschaften eine Standardisierung von Simulationsmodellen wie auch der dafür notwenigen Datenressourcen zur Steigerung von Interoperabilität und Reproduzierbarkeit vorangetrieben wird [23]. Auch die Bereitstellung von Forschungsdaten außerhalb der klinischen IT-Infrastruktur, um nicht-klinische Wissenschaften für klinisch-informatische Kooperationen einzubeziehen, ist noch mit vielen offenen Fragen verbunden.

Visionen

Für die patientenzentrierte Ausrichtung des Forschungsfeldes der perioperativen digitalen Zwillinge und die Beantwortung der offenen Fragen zur Methodentranslation ist der Beitrag der Fachbereiche Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerzmedizin von entscheidender Bedeutung. Interdisziplinäre, klinisch-informatische Kooperationen profitieren von formalisiertem Vorwissen der Fachdisziplin hinsichtlich relevanter physiologischer Vorgänge, der Bewertung von multiparametrischen Messungen aus Sensoren und den Prozesskenntnissen im perioperativen Umfeld, welche sich in Daten aus Informationssystemen widerspiegeln. Nur durch dieses Domänenwissen kann eine praxisorientierte Umsetzung der neuen Technologie gewährleistet werden.

Das translationale Potenzial von modernen Computersimulationen zeigt sich an Bestrebungen, diese zur Entwicklung und zur Zulassung neuer Arzneimittel und Medizinprodukte in klinischen In-silico-Studien einzusetzen. Dadurch soll die Belastung von Probanden bei den klinischen Studienphasen reduziert werden [24,25,26]. Resultate aus Vorhaben zu Integration und Harmonisierung medizinischer Daten (z. B. Medizininformatik-Initiative (MII), Netzwerk Universitätsmedizin (NUM), Nationale Forschungsdateninfrastruktur für personenbezogene Gesundheitsdaten (NFDI4health)) sollen in Zukunft als geschützter Raum für Datenwissenschaften in der Medizin dienen. Im breiten Produktivbetrieb könnten dort, durch Zusammenführung von klinischen, epidemiologischen und grundlagenwissenschaftlichen Daten, populationsbasierte Simulationen für In-silico-Studien und methodische Grundlagen für digitale Zwillinge entwickelt werden.

Um die verschiedenen Schritte der Entwicklung eines patientenindividuellen digitalen Zwillings im anwendungsnahen Kontext zu ermöglichen, müssen die angesprochenen infrastrukturellen Hürden jedoch auch im öffentlichen Krankenhaussektor überwunden werden. Dabei muss der Planung und Finanzierung skalierbarer, geschützter Datenräume in einer sicheren Dateninfrastruktur gebührend Rechnung getragen werden. Dadurch können in der (perioperativen) Medizin eine sinnvolle Überprüfung und Bewertung der personalisierten digitalen Zwillinge für die unmittelbare Versorgung gewährleistet werden. Auch die nachhaltige Speicherung und Konzeption der strukturierten Datenhaltung, besonders für die hochauflösenden Datenarten, müssen im Sinne eines Standardisierungsprozesses weiter vorangetrieben werden. Dadurch kann zukünftig ein praktischer Einsatz von digitalen Zwillingen auch über die Grenzen von einzelnen Medizintechnikherstellern hinaus ermöglicht werden. Der gesamte Prozess wird in Abb. 1 vereinfacht dargestellt.

Abb. 1
figure 1

Schematische Darstellung des methodischen Rahmens zur Entwicklung und Einführung eines digitalen Zwillings in der perioperativen Medizin. Die Markierung mit der blauen Figur zeigt Kernaufgaben für medizinisch-fachliche Expertise aus der Anästhesiologie auf. Der technische Bedarf ist in rot hinterlegt

Klinisch-informatische Forschungsvorhaben zum digitalen Zwilling und die Integration von entwickelten Anwendungen in klinische Prozesse sollten durch Personal mit dualen Kompetenzen begleitet werden, um die erfolgreiche Umsetzung zu gewährleisten. Daher besteht Bedarf für vorausschauenden Qualifikation von medizinischem Personal und der Planung entsprechender Stellen für dieses. Hierzu bedarf es, neben geschützter Zeit zur Bearbeitung derartig komplexer Zusatzaufgaben, auch systematischer Ausbildungskonzepte, die idealerweise bereits auf multiprofessionelle Kommunikation zwischen klinischer Anästhesiologie und Datenwissenschaften abzielen.

Durch gezielte Adressierung dieser Themen könnte die Anästhesiologie ihre Kompetenzen in den klinischen Translationsprozess einer Technologie einbringen, welche andere Wissenschaftsfelder bereits revolutioniert und die für die Anwendung im perioperativen Kontext ideal erscheint.