Hintergrund

Das „severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-CoV-2) hat sich nach seiner erstmaligen Entdeckung im Dezember 2019, vermutlich von Wuhan, China, ausgehend, in kurzer Zeit als Erreger der „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) sehr effizient durch Tröpfchen- und Aerosolinfektion von Mensch zu Mensch ausgebreitet. Bis Ende November 2020 waren weltweit über 62 Mio. Infizierte und über 1,4 Mio. Tode bei der WHO gemeldet [1]. Bedingt durch die rasche Belegung von Intensivbetten mit COVID-19-Patienten kam es zur Reduzierung regulärer Operationen deutschlandweit in den Kliniken [2]. Auch nach Rückgang der Infektionszahlen wurden Intensivbetten prophylaktisch frei gehalten [3]. Allerdings geschah dies in den einzelnen Bundesländern in sehr interschiedlicher Weise [4], in Baden-Württemberg z. B. war dies bis Mitte September 2020 eine Freihaltequote von 30–35 %, während andere Bundesländer keine Intensivbetten für COVID-19-Patienten zu diesem Zeitpunkt mehr frei hielten [4]. Mittlerweile sind die Infektionszahlen wieder bedrohlich angestiegen [5], die Anzahl an freien Intensivbetten sank durch die Belegung mit COCID-19-Patienten. In der Literatur ist kein wissenschaftlich fundiertes Konzept zu finden, das eine Freihaltequote an Intensivbetten begründet sowie bei steigenden Infektionszahlen ein Eskalationsschema und bei wieder sinkenden Zahlen die Reduktion an Freihaltekapazitäten aufzeigen würde.

Fragestellung

Anhand der in der Literatur und im Internet zur Verfügung stehenden Quellen sollte für das COVID-19-Infektionsgeschehen mit den zur Verfügung stehenden Zahlen bei Stand Ende November für benötigte Intensivplätze ein Eskalationsschema bei ansteigenden Infektionszahlen erstellt werden, das zugleich bei Abflauen des Infektionsgeschehens eine sinnvolle Reduktion der Freihaltequote gewährleisten kann.

Methode

Beim Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg wurde Anfang März 2020 eine Arbeitsgruppe „Unter-Arbeitsgruppe Notfall“ (UAG-Notfall) installiert, die die Landesregierung in medizinischen Belangen zum landesweiten Pandemiemanagement berät. Der UAG-Notfall gehören Vertreter des Ministeriums für Soziales und Integration, des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration, des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst, der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft e. V., der Universitätsklinika Baden-Württemberg, der Landesärztekammer, der kassenärztlichen Vereinigung, des Landkreistages, des Städtetages und des Landesgesundheitsamts an. Die Autoren E.G. P., J‑O. F., W. F. und S. S. sind Mitglieder der UAG-Notfall. Die UAG-Notfall hatte die Aufgabe, Mitte September 2020 ein Konzept zur Freihaltekapazität an Intensivbetten für COVID-19-Patienten zu erstellen.

Für eine flexible Kalkulation der im Rahmen des Pandemiegeschehens frei zu haltenden Intensivbetten wurden folgende Quellen verwendet: COVID-19-Resource-Board des Landes Baden-Württemberg [6], Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) [10], Aktueller Lage‑/Situationsbericht des RKI zu COVID-19 [7], Erfassung der an COVID-19 erkrankten intensivpflichtigen Patienten anhand des DIVI-Intensiv-Registers [8] und weitere im Internet verfügbare statistische Auswertungen [9]. Die aus den Quellen entnommenen Daten sind in Tab. 1 zusammengefasst. Aus der Gesamtzahl der im DIVI-Register gemeldeten Intensivbetten und Zahl an Patienten, die zum jeweiligen Stichtag intensivpflichtig behandelt werden mussten, wurde die prozentuale Intensivbettenbelegung errechnet. Da nach Literaturangaben für COVID-19-Patienten ein ca. 14-tägiger Intensivaufenthalt kalkuliert werden muss, wurde die vom RKI übermittelte 7‑Tage-Inzidenz in eine „14-Tage-Inzidenz“ erweitert und unter Annahme von 83 Mio. Einwohnern in Deutschland und 11,1 Mio. Einwohnern in Baden-Württemberg für die Monate April bis November 2020 die mittlere Auslastung der Intensivstationen mit COVID-19-Patienten berechnet. Dabei werden ein mittleres Einzugsgebiet von ca. 100.000 Einwohnern/Klinik angesetzt und eine mittlere Intensivstationsgröße von 15 Betten. Aus diesen so ermittelten Zahlen sowie den politisch vorgegebenen Grenzwerten (Vorwarnstufe, kritischer Grenzwert) wurde ein Stufenkonzept entwickelt, das am 30.09.2020 in der UAG-Notfall am Sozialministerium Baden-Württemberg einstimmig konsentiert und verabschiedet wurde.

Tab. 1 Demografische Daten und Kennzahlen für COVID-19-Patienten in Deutschland und Baden-Württemberg (BW)

Ergebnisse

Die 7‑Tage-Inzidenz mit SARS-CoV-2-Infizierten in Deutschland fiel seit Mitte Mai von 6,5/100.000 Einwohner auf 2,0/100.000 bis Mitte Juli, um dann bis zum 24.11.2020 auf 141,8/100.00 anzusteigen [7, 10], in Baden-Württemberg fiel die 7‑Tage-Inzidenz von 6,2/100.000 im April auf 2,7/100.00 und betrug Ende November 126,8/100.000 ([7]; Tab. 1). Gleichzeitig fiel das mittlere Erkrankungsalter ab Mitte April von 51 Jahren auf 32 Jahre bis Mitte August, um ab September bis November wieder anzusteigen. Im selben Zeitraum nahm die Hospitalisierungsrate bis August kontinuierlich ab und stieg seit September wieder an. Auffällig ist die prozentuale Intensivpflichtigkeit der COVID-19-positiv Getesteten. Sie betrug Ende November in Deutschland 1,5 %, lag aber Mitte Mai bei 10,4 % deutschlandweit, in Baden-Württemberg bei 16,7 % und damit im Frühjahr über den in der Literatur angegebenen Wert von 4–8 %.

Die geschätzte mittlere Behandlungsdauer eines Patienten mit COVID-19 auf der Intensivstation beträgt 12 Tage [11] bis 16,7 Tage [12]. Bei einer auf im Mittel 14 Intensivtage adaptierten „14-Tage-Inzidenz“ waren somit Stand 24.11.2020 für Deutschland ca. 283 Neuinfektionen/100.000 Einwohner und für Baden-Württemberg ca. 260 Neuinfektionen/100.000 Einwohner zu verzeichnen. Bei einer Einwohnerzahl von 83 Mio. in Deutschland wären dies in 14 Tagen ca. 234.890 Neuinfektionen und in Baden-Württemberg bei 11,1 Mio. Einwohnern ca. 28.860 Neuinfektionen. Laut DIVI-Register wurden am 24.11.2020 in Deutschland 3770 Patienten auf Intensivstationen behandelt, davon 57 % beatmet [10]. Daraus ergibt sich, dass deutschlandweit Ende November 2020 ca. 1,5 % der mit SARS-CoV‑2 neu infizierten Patienten intensivmedizinisch behandelt werden mussten (Tab. 1). Im April 2020, dem ersten Höhepunkt der COVID-19-Pandemie in Deutschland, benötigten dagegen noch ca. 4–10 % der Infizierten eine intensivmedizinische Behandlung. Dieser Rückgang ist u. a. dem deutlich gesunkenen Alter der Infizierten und dem damit leichteren Krankheitsverlauf geschuldet [13]. Alternativ wäre aber auch möglich, dass es im Frühjahr aufgrund geringerer Testkapazitäten eine deutlich höhere Dunkelziffer nichterkannter Infektionen gab und damit anteilmäßig mehr symptomatische Patienten intensivmedizinisch behandelt werden mussten. Denkbar ist auch, dass die Indikation zur intensivmedizinischen Behandlung in der ersten gegenüber der zweiten Welle unterschiedlich gestellt wurde.

Mit Stand 05.04.2020 vermeldete das COVID-19-Resource-Board in Baden-Württemberg 966 Intensivbetten ohne Beatmung und 2035 Intensivbetten mit Beatmung, damit zusammen 2998 Intensivbetten [6], Ende November 2020 betrug die Anzahl betreibbarer Intensivbetten laut DIVI-Register 2783 Betten (Tab. 1). Am 24.11.2020 waren in Baden-Württemberg im Durchschnitt 13,5 % der „High-care“-Intensivbetten mit COVID-19-Patienten belegt; am 15.04.2020 war die Belegung fast gleich hoch (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Prozentuale Intensivbettenbelegung mit COVID-19-Patienten in Deutschland und Baden-Württemberg. Die prozentuale Intensivbettenbelegung errechnet sich aus der im DIVI-Register gemeldeten Gesamtzahl an Intensivbetten im Verhältnis zur Anzahl an COVID-19-Patienten, die intensivpflichtig behandelt werden

In Baden-Württemberg versorgen die Kliniken über 11,1 Mio. Einwohner in 44 Landkreisen und kreisfreien Städten. Das grob geschätzte Einzugsgebiet einer Klinik liegt, abhängig von der Bevölkerungsdichte, bei 100.000–250.000 Einwohnern. Bund und Landesregierungen haben sich auf einen kritischen Grenzwert von 50/100.000 Neuinfektionen geeinigt, ab dem erweiterte Maßnahmen zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung ergriffen werden sollen. In Baden-Württemberg gilt ein Wert von 35 Neuinfektionen/100.000 Einwohner innerhalb von 7 Tagen als Vorwarnstufe („Alarmstufe gelb“) [14]. Im Mittel kommen in Deutschland bei 83 Mio. Einwohnern und ca. 30.000 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner ca. 27 Intensivbetten. Ausgehend von ca. 1–2 % Intensivbedürftigkeit müssen somit in BW mit einer „14-Tage-Inzidenz“ bei einer Vorwarnstufe von 35/100.000 Infizierten 0,35 Patienten und bei einer kritischen Infektionsrate von 50/100.000 Infizierten 0,5 Patienten/Intensivstation über 14 Tage intensivmedizinisch behandelt werden. Allerdings liegt in ländlichen Regionen die Intensivbettenzahl, bezogen auf Einwohner, deutlich niedriger. So verzeichnet die Klinik der Zweit- und Drittautoren 14 Intensivbetten bei 130.873 zu versorgenden Einwohnern. Es wurde deshalb eine virtuelle Intensivbettenauslastung für eine 15-Betten-Intensivstation bei 100.000 zu versorgenden Einwohnern berechnet (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Durchschnittliche prozentuale Intensivstationsauslastung einer virtuellen Intensivstation mit COVID-19-Patienten bei 15 Betten in einem Versorgungsgebiet von 100.000 Einwohnern. Die prozentuale Intensivbettenauslastung berechnet sich aus einer 14-Tage-Inzidenz, multipliziert mit der prozentualen Intensivpflichtigkeit und dividiert durch eine angenommene mittlere Intensivstationsgröße von 15 Betten

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) schlug den Bundesländern vor, ein regionales Verlegungskonzept zur besseren Auslastung von Intensivstationen zu entwickeln [3]. Zwar wurden in Bundesländern inzwischen Verlegungskonzepte entwickelt [15, 16], jedoch kritische Schwellenwerte sowie die damit verbundene Notwendigkeit der Reduktion elektiver Eingriffe für einzelne Kliniken nicht definiert.

Ausgehend von Anregungen aus der Ärztekammer [4], bei einer kumulativen 7‑Tage-Inzidenz unter 35/100.000 Einwohner 10 % der Intensivbetten für COVID-19-Patienten zu reservieren, und unter den gemachten rechnerischen Annahmen wurde deshalb ein Stufenkonzept entwickelt. Für die einzelnen Stufen werden die aus der Politik vorgegebenen Schritte der kumulativen 7‑Tage-Inzidenz an SARS-CoV‑2 positiv Getesteten von 35/100.000, 50/100.000 und darüber gewählt [14]. Zusätzlich wurde eine Kategorie für das Überschreiten der Inzidenz von 100/100.000 eingeführt [19]. Für die zu ergreifenden Maßnahmen wurde eine durchschnittliche prozentuale Auslastung einer mittleren deutschen Intensivstation mit COVID-19-Patienten errechnet und zugrunde gelegt. Das Stufenkonzept besteht aus den Basismaßnahmen (Infobox 1) sowie dem eigentlichen Stufenkonzept (Abb. 3).

Infobox 1 Basismaßnahmen zur Freihaltung an Intensivkapazitäten im Rahmen der COVID-19-Pandemie

  • Basismaßnahmen

  • Generelle SARS-CoV-2-Testung von allen Patienten in der stationären Versorgung [3]

  • Enge Abstimmung mit den lokalen Gesundheitsbehörden zur engmaschigen Surveillance des regionalen und nationalen Infektionsgeschehens

  • Aktivierung eines Frühwarnsystems für steigende Fallzahlen in Absprache mit den örtlichen Gesundheitsbehörden [3]

  • Beibehaltung der Zugangsbeschränkungen für Besucher und Mitarbeiter [17]

  • Bevorratung von PSA-Verbrauchsmaterialien für Mitarbeiter für die Behandlung von mindestens 40 % der vorhandenen ICU-Kapazitäten über 21 Tage [18]

  • Bevorratung von Verbrauchsmaterialien für Patienten für die Behandlung von mindestens 40 % der vorhandenen ICU-Kapazitäten über 21 Tage [17]

  • Aktualisierung der örtlichen Seuchenpläne

Abb. 3
figure 3

Stufenkonzept im Kontext der COVID-19-Pandemie zur Freihaltung von Intensivbetten für COVID-19-Patienten in Abhängigkeit von externen und internen Triggern

Diskussion

Bei unterschiedlichen Infektionsraten mit SARS-CoV‑2 in Landkreisen und Städten können Kliniken mit landes- oder bundesweiten einheitlichen Vorgaben zur Freihaltung von Intensivbetten nicht schnell und effizient auf Veränderungen reagieren. Die UAG-Notfall am Sozialministerium Baden-Württemberg hat deshalb ein Stufenkonzept vorgeschlagen, das sowohl eine adäquate Reaktion auf steigende wie fallende Infektionszahlen erlaubt.

Das Stufenkonzept (Ampelkonzept) unterscheidet 4 Phasen. Die Kliniken lösen in Absprache mit den örtlichen Gesundheitsbehörden in Abhängigkeit von Trigger-Kriterien eine abgestufte Vorhaltung von Intensivbetten für COVID-19-Patienten aus bzw. reduzieren diese wieder stufenweise. Ziele des variablen Vorhaltezustandes sind einerseits die Sicherung von Behandlungskapazitäten für COVID-19-Patienten und andererseits eine weitestmögliche Versorgung von Nicht-COVID-Patienten [3]. Lokale Ausbrüche können zu einem Überschreiten der „Vorwarnstufe“ von 35/100.000 oder des kritischen Wertes von 50/100.000 Neuinfizierten führen. Um in diesem Falle auch eine möglichst umfängliche Routineversorgung gewährleisten zu können, soll außerdem eine frühzeitige Verlegung infizierter Patienten in weniger betroffene Kliniken angestrebt werden. Auf Landesebene könnte z. B. in Baden-Württemberg die Oberleitstelle in Abstimmung mit dem Innen- und Sozialministerium Patienten den einzelnen Krankenhäusern zuweisen und verlegen [6].

Die weltweite COVID-19-Pandemie ist ein dynamisches Geschehen, das zur optimalen Patientenversorgung einerseits die variierenden lokalen Infektionszahlen und andererseits die Verhinderung einer möglichen Überlastung der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten berücksichtigen muss. Hierbei ist besonders das Augenmerk zu richten, auf steigende Infektionszahlen und ggf. in Herbst und Winter die dazu parallel auftretende saisonale Influenza. Andererseits wird voraussichtlich nach dem Start einer Impfkampagne die Intensivbettenbelegung mit COVID-19-Patienten wieder sinken. Die beobachteten unbeabsichtigten medizinischen Konsequenzen der 1. Phase (kritische Unterversorgung u. a. bei Myokardinfarkt, „stroke“, Tumorerkrankungen) müssen unbedingt vermieden werden. Die Erfahrungen aus der ersten Welle bezüglich Teststrategie, Trennung von COVID- und Non-COVID-Patienten sowie Besucherregelungen sind in das Pandemiemanagement der Kliniken zu implementieren. Ebenso müssen bei steigenden Infektionszahlen die Vernetzungsstrukturen in lokalen Klinikverbänden einerseits sowie notwendige Verlegungskonzepte andererseits greifen.

Die Verordnung des Sozialministeriums Baden-Württemberg sah bis zum 17.09.2020 eine Freihaltung von 30–35 % der Intensivkapazitäten für COVID-19-Patienten vor [4]. Dies hatte erhebliche negative Auswirkungen sowohl auf die Notfallversorgung als auch die elektive Behandlung von Patienten in den Kliniken. Eine starre, vom Infektionsgeschehen losgelöste Freihaltung von Intensivkapazitäten war aus dieser Sicht mit Blick auf die geschaffenen Strukturen zu diesem Zeitpunkt weder erforderlich noch sachgerecht. Das im Ergebnisteil beschriebene Stufenkonzept wurde in der UAG-Notfall im Ministerium für Soziales und Integration am 17.09.2020 einstimmig verabschiedet. Deshalb „… hat Baden-Württemberg in dieser Woche entschieden, dass künftig statt 35 % nur noch zehn Prozent der Betten reserviert werden sollen. Auch in Berlin seien bereits seit Juni nur noch zehn Prozent [freigehalten], [auch] in Niedersachsen seit Mitte Juli. In Bayern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Hamburg müssen die Krankenhäuser demnach derzeit gar keine Intensivbetten mehr für Covid-19-Patienten frei halten. Einzig in Rheinland-Pfalz sei die Quote unverändert bei 20 %“ [4]. Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer erklärte, es sei „höchste Zeit“ gewesen, die Zahl der reservierten Betten anzupassen, eine Mindestquote sei allerdings weiterhin sinnvoll. „Grundsätzlich finde ich es angesichts der aktuellen Infektionslage richtig, wenn ein Anteil von etwa zehn Prozent der Intensivbetten für COVID-Patienten freigehalten wird“ [4]. In dem aus dem Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg hier vorgelegten Konzept wird bei einem Anstieg der 7‑Tage-Indzidenz über 35/100.000 bzw. einer Intensivbettenbelegung von mehr als 10 % mit Pandemiepatienten innerhalb von 48 h eine Freihaltequote von 20 % der Intensivbetten gefordert. Dies stellt eine sehr kurzfristige Reaktionszeit dar, die aber unter dem Gesichtspunkt gewählt wurde, dass z. B. bei einem Ausbruch in einem Alters- oder Pflegeheim mit vielen multimorbiden Bewohnern auch kurzfristig Intensivbetten zur Verfügung stehen müssen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass COVID-19-Patienten aber meist erst ca. 10 Tage nach Krankheitsbeginn auf eine Intensivstation aufgenommen werden müssen [20], kann dieses Intervall durchaus auch länger angesetzt werden. Ein entsprechend den lokalen Gegebenheiten wie Intensivstationsgröße und Auslastung abgestimmtes Vorgehen ist hier angebracht.

Die 7‑Tage-Inzidenz im April und im Mai lag deutlich niedriger als im November 2020 (Tab. 1), die Intensivbettenbelegung war jedoch fast gleich hoch (Abb. 1). Zusammen mit der virtuellen rechnerischen Intensivstationsauslastung (Abb. 2), die im April und im Mai eine deutliche Diskrepanz zur tatsächlichen Bettenbelegung zeigte, könnte evtl. vermutet werden, dass Anfang des Jahres nicht nur das Alter der Infizierten höher war, sondern die Indikation zur Verlegung auf eine Intensivstation evtl. großzügiger gestellt wurde. Allerdings zeigt die virtuelle Intensivkapazitätsauslastung mit COVID-19-Patienten auch, dass kleine Intensivstationen mit einem größeren Einzugsgebiet bei steigenden Infektionszahlen sehr schnell überlastet sein können. Hier ist es umso wichtiger, dass nicht nur ein landesweites Verlegungskonzept greift, sondern auch eine länderübergreifende Verlegung gewährleistet sein muss [15, 16].

Auch bei fallenden Infektionszahlen können, örtlich begrenzt, jederzeit in „Hotspots“ die Infektionszahlen über Warn- oder kritische Grenzen ansteigen. Die Belastung des Gesundheitssystems hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen (z. B. Isolierung, Quarantäne, physische Distanzierung) ab [21]. Sie war im Sommer in weiten Teilen Deutschlands gering, um dann in den Folgemonaten sehr schnell anzusteigen und damit das öffentliche Gesundheitswesen, aber auch die Einrichtungen für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung stark zu belasten. Deshalb ist es notwendig, nicht nur eine Freihaltekapazität für den jeweiligen „Status quo“ zu definieren, sondern auch antizipierend lokal flexibel auf steigende und fallende Infektionszahlen zu regieren. Es wurden deshalb, abhängig von Infektionszahlen einerseits und Belegungskriterien der Intensivstationen andererseits, ein eskalierend-/deeskalierendes Stufenkonzept erarbeitet. Bis November ist in fast allen Kreisen oder Städten die kritische Grenze von 50/100.000 überschritten worden; einige liegen vielfach darüber. Mit dem vorliegenden Stufenkonzept haben Kliniken in den betroffenen Gebieten eine „Handreichung“, um adäquat auf COVID-19-Erkrankungen reagieren zu können.

Schon frühzeitig nach Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie in Deutschland wurde versucht, anhand von Simulationsmodellen eine Vorhersage zur benötigten Bettenkapazität auf Intensivstationen zu treffen [22,23,24]. Bei der retrospektiven Betrachtung der Vorhersagen zu April und Mai 2020 zeigt sich allerdings, dass der prognostizierte Bedarf an Intensivbetten nur relativ ungenau zu ermitteln war. So lag z. B. der prognostizierte Intensivbettenbedarf für Mai 2020 für das Universitätsklinikum Ulm um fast 300 % über dem dann tatsächlichen Aufkommen. Dies war mitursächlich dem von der Politik ausgesprochene Lockdown geschuldet. Dass Prognosen relativ unsicher sind, liegt zum einem am unklaren Verlauf der Pandemie, an lokalen Hotspots und am veränderten Verhalten von Bevölkerungsgruppen, zum anderen aber auch an rasch sich ändernden Vorgaben aus der Politik und deren bundesweiten uneinheitlichen Umsetzung. Die Simulationsmodelle werden zwar nach Darstellung der betreffenden Autoren fortlaufend an das aktuelle Infektionsgeschehen angepasst, allerdings finden sie, nach einer stichpunktartigen Umfrage des Erstautors, in den befragten Kliniken kaum Anwendung [25].

Zu diskutieren ist, ob zur Kalkulation der Bettenfreihaltequote auf Intensivstationen das aktuelle durchschnittliche Erkrankungsalter der auf SARS-CoV-2 positiv getesteten Personen Eingang finden sollte. Da fast vornehmlich COVID-19-Patienten älter als 60 Jahre intensivpflichtig werden, könnte man sich anstatt an der 7‑Tage-Inzidenz an der Infektionsrate dieser Altersgruppe orientieren. Die Altersverteilung wird auch durch das RKI zur Verfügung gestellt. Da die Altersstruktur in einzelnen Einzugsgebieten der Kliniken aber unterschiedlich sein kann, scheint eine landes- oder bundesweite Kalkulation zwar möglich zu sein, die einzelnen Kliniken müssten jedoch entsprechende Simulationsmodelle benutzen. Den Autoren ist nicht bekannt, ob in die bisher in der Literatur vorgestellten Simulationsmodelle eine Altersgruppenbetrachtung eingepflegt ist. Darüber hinaus ist bis jetzt nicht bekannt, inwieweit die jetzt auf Landes- und Bundesebene definierten Warngrenzen in dieser Altersstufe Gültigkeit haben oder angepasst werden müssten.

Hingegen glauben wir, dass mit dem vorgestellten Stufenkonzept, den bisher getroffenen Maßnahmen an Krankenhäusern sowie der engen Vernetzung mit den regionalen Akteuren die Kliniken in enger Abstimmung mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst in der Lage sind, flexibel auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens zu reagieren und so die medizinisch gebotene Intensivversorgung von COVID-19-Patienten zu ermöglichen. Das von uns vorgestellte Konzept ermöglicht nicht nur ein lokal adaptiertes intensivmedizinisches Reagieren auf steigende Infektionszahlen, sondern gestattet auch beim Abflauen der Pandemie durch Reduktion der Freihaltequote eine optimale Ausnutzung der benötigten Intensivbetten.

Einschränkend ist zu vermerken, dass die Angaben zu belegten wie auch freien Intensivbetten in den beiden von uns verwendeten Intensivregistern teilweise wenig belastbar waren. Nicht alle Kliniken melden die bei ihnen tatsächlich mit COVID-19-Patienten belegten oder die Anzahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten oder beteiligen sich an der Meldung oder die Zahlen werden nur unregelmäßig weitergegeben. Die Angaben können deshalb täglich schwanken. Dies trifft auch auf die aus den Gesundheitsämtern dem RKI gemeldeten Infektionszahlen zu, die z. B. am Wochenende nur von einem Teil der Gesundheitsämter weitergegeben werden. Zum anderen unterscheidet sich in den beiden von uns verwendeten Registern die Erfassung von Patienten [25].

Die Berechnung der Intensivpflichtigkeit und der prozentualen Intensivstationsauslastung hängt stark vom gewählten Berechnungsalgorithmus ab. Wir wählten für die Intensivpflichtigkeit eine Kalkulation aus kumulativen Infektionszahlen 2 Wochen vor dem genannten Stichtag, wobei unberücksichtigt bleibt, dass die Aufnahme auf eine Intensivstation meist erst Tage nach Symptombeginn erfolgt. Ein anderer Berechnungsmodus könnte deshalb abweichende Zahlen ergeben.

Das vorgelegte Konzept wurde hauptsächlich anhand der Zahlen der ersten Pandemiewelle in Deutschland sowie deren Abflachen zwischen erster und zweiter Welle erstellt. Der internationale Vergleich zeigt, dass weitere Infektionswellen zu erwarten sind. Erst nach deren erfolgreicher Bewältigung kann eine kritische Würdigung vorgenommen werden.

Fazit

  • Bundes- oder landesweite Vorgaben zur Freihaltung an intensivmedizinischen Reservekapazitäten im Rahmen der COVID-19-Pandemie scheinen dem Infektionsgeschehen nicht genügend gerecht zu werden, da Kreise und Städte sehr unterschiedlich betroffen sind.

  • Aufgrund der Wellenbewegung der Infektionslage mit unterschiedlicher lokaler Ausprägung war im Sommer 2020 eine landesweite Freihaltequote von mehr als 10 % an Intensivbetten für COVID-19-Patienten nicht gerechtfertigt, da hierdurch die Versorgung anderer dringend notwendiger operativer und nichtoperativer Patienten behindert wurde.

  • Lokal ansteigende Infektionszahlen erfordern ein lokales dynamisches Vorgehen, das sich an externen und krankenhausinternen Triggern orientieren sollte. Bei ansteigenden Infektionszahlen sollte nach einem Stufenkonzept in enger Abstimmung mit den örtlichen Gesundheitsbehörden sowie weiteren klinikinternen Triggern eine Steigerung der Freihaltekapazität vorgenommen werden. Auf der anderen Seite erlauben fallende COVID-19-Erkrankungen auch eine rasche Ausweitung der Regelversorgung.

  • Um bei lokalen Ausbrüchen die Krankenhauskapazitäten nicht zu überfordern, sollte frühzeitig ein entsprechendes Verlegungskonzept greifen.

  • Das von uns vorgestellte Konzept ermöglicht nicht nur ein lokal flexibles Reagieren auf steigende Infektionszahlen, sondern stellt auch eine Strategie dar, die es gestattet, beim wahrscheinlichen Abflauen der Pandemie in 2021, durch Reduktion der Freihaltequote, eine optimale Ausnutzung der benötigten Intensivbetten zu erreichen.

Epilog

Im März 2021 war die 2. Welle der Corona-Epidemie in Deutschland abgeflacht und Anfang April 2021 die 3. Welle im Anfluten. Allerdings war die 7‑Tage-Inzidenz am Ende der 2. Welle bundesweit in vielen Landkreisen und kreisfreien Städten nicht unter die 35-Grenze gefallen. Ebenso waren am Beginn der 3. Welle viele Intensivstationen nicht frei von COVID-19-Patienten. Die 3. Welle startete damit auf höherem Infektionsniveau als die 1. oder 2. Welle. Während der 2. Welle hatte sich das hier vorgestellte Stufenkonzept bewährt; deutschlandweit kam es nicht zu Überlastungen einzelner Intensivstationen. Geschuldet war dies auch der Entwicklung von Verlegungskonzepten innerhalb der einzelnen Bundesländer und einem bundesländerübergreifendem Verlegungskonzept, dem sog. Kleeblattkonzept [26]. So wurden in Baden-Württemberg 6 COVID-Versorgungsregionen (Cluster) definiert, mit jeweils einem koordinierenden Cluster-Zentrum und den entsprechend zugeordneten Klinken [25]. Während der Monate Dezember 2020 und Januar bis Februar 2021 wurden COVID-Intensivpatienten und Non-COVID-Intensivpatienten aus Kliniken bei drohender Überlastung einer Intensivstation vorrangig innerhalb der Cluster verlegt, bei Bedarf auch auf andere Cluster verteilt. Somit war mit dem vorgestellten Stufenkonzept zwischen den einzelnen Wellen wie auch auf deren Höhepunkten bisher nicht nur die Versorgung von COVID-Intensivpatienten, sondern auch von Non-COVID-Intensivpatienten gewährleistet. Eine endgültige Bewertung ist jedoch erst nach einer erfolgreichen Bewältigung auch evtl. höher ausfallender weiterer Infektionswellen möglich.

Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autoren wieder; diese muss nicht immer mit den zugehörigen Institutionen übereinstimmen.