Translationale Forschung oder amerikanisch griffig „from bench to bedside“ ist ein aktuelles Ideal vernetzter Forschung; allerdings lehrt die Vergangenheit, dass dies nicht immer so stringent funktionierte und viele Irrungen und Wirrungen die Entwicklung moderner medizinischer Konzepte begleiteten. Vor mehr als 60 Jahren beschrieben Kouwenhoven et al. die kardiopulmonale Reanimation und legten den Grundstein für moderne Reanimationskonzepte [9]. In ihrer Arbeit zitierten die Autoren eine zum damaligen Zeitpunkt 80 Jahre alte Studie von Rudolf Boehm von der Universität Dorpat im damaligen Russland (heute Tartu, Estland) aus dem Jahre 1878. Der Autor beschrieb neben der Herzdruckmassage präzise die Beatmung mit einem Beatmungsbeutel über ein Tracheostoma, die invasive arterielle Blutdruckmessung und die Applikation vasoaktiver Substanzen [1]. Zudem stellte er fest: „Doch gibt es auch hier eine äusserste Grenze und es ist mir niemals eine Wiederbelebung gelungen, wenn ich die Compression des Thorax später als 8 min nach der letzten natürlichen Athmungsbewegung begann. In der Regel liess ich sie 2 bis 3 min nach Beginn der künstlichen Respiration eintreten. Sie wird in der Weise ausgeführt, dass man mit einer Hand den sehr elastischen Brustkorb der Katze von vorn umfasst und in demselben Moment schonend und mit mässiger Kraft komprimirt, wo er seine grösste Ausdehnung durch die eingeblasene Luft erhalten hat. Es ist dabei ziemlich gleichgültig, ob man den Druck mehr nach unten wirken lasst, so dass der Thorax der Fläche nach comprimirt wird oder, wie ich es vorzog, die beiden Wände des Brustkorbs durch seitlichen Druck einander nähert.“ Des Weiteren beschrieb er nach prolongierter Reanimation neurologische Folgeschäden als limitierenden Prognosefaktor: „Es sind dies Fälle, wo eben nur eine theilweise Wiederbelebung stattfindet, und vielleicht nur das Rückenmark functionirt, während das ganze Gehirn mit der Medulla oblongata gelähmt bleiben“ [1].

In der gleichen Ausgabe im Jahr 1875 sind erstaunliche Beobachtungen des Studenten L. Buchholtz von derselben Universität: „Nun macht aber auch schon Pasteur darauf aufmerksam [...], und ich kann es nach meiner Erfahrung nur bestätigen, dass Schimmel- und Bakterienkeime sich feindlich zueinander verhalten, dass die einen die anderen in ihrer Entwicklung gegenseitig stören und hemmen. Darunter muss die Exactheit der Versuche der oben citierten Autoren, namentlich Grace-Calverts leiden, denn der Einwand liegt nah, dass Bakterienbildung ausgeblieben, nicht weil ein Antisepticum zugegeben, sondern weil der Schimmel zu üppig vegetirt“ [2]. So beschrieb L. Bucholtz über 50 Jahre vor Alexander Flemings Entdeckung des Penicillins in seinem Artikel die ein Bakterienwachstum hemmende Wirkung des Schimmels [4].

So wurden zwei grundlegende medizinische Behandlungskonzepte des 20. Jahrhunderts bereits Jahrzehnte vor ihrer Einführung wissenschaftlich beschrieben. Der Nutzen einer kardiopulmonalen Reanimation ohne intensivmedizinische Kapazitäten kann im 19. Jahrhundert sicher kritisch hinterfragt werden; eine frühere Einführung des Penicillins hätte einen bedeutenden Einfluss auf die Mortalität im frühen 20. Jahrhundert nehmen können: So entwickelten etwa 10 % aller verwundeten Soldaten im Jahr 1914 eine Gasbrandinfektion, und über 1 Mio. Soldaten starb im Ersten Weltkrieg mutmaßlich an einer bakteriellen Infektion [5]. Vor 100 Jahren starben 30–50 Mio. Menschen an der sogenannten Spanischen Grippe – häufig an den Folgen einer bakteriellen Superinfektion [6]. In vielen Fällen hätte Penicillin helfen können.

Klinische Entwicklungen benötigten oft Jahrzehnte bis zu einem breiten klinischen Einsatz, selbst wenn sie nicht in Vergessenheit gerieten, wie es im Falle der Beobachtungen aus Tartu zur kardiopulmonalen Reanimation und zur Antibiotikatherapie der Fall war [7]. Möglicherweise wurden sie im Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie schlicht übersehen, respektive ihre Bedeutung wurde von anderen forschenden Kollegen dieser Zeit nicht verstanden. Die Gefahr des Übersehens wissenschaftlicher Publikationen besteht heute umso mehr: Bei 30 Mio. neuen Artikeln pro Jahr allein in PubMed ist es selbst den führenden Experten im kleinsten Feld unmöglich, mit dieser Publikationsflut mitzuhalten. Daher bedarf es in der heutigen Zeit an dieser Stelle moderner Methoden, den zweifellos vorhandenen Verlust relevanter neuer Ideen zu begrenzen.

Ein anderer Grund des Vergessens der Studien aus Tartu mögen die sprachkulturellen Barrieren im 19. Jahrhundert gewesen sein: Während frühe Wissenschaftler wie Isaac Newton noch in Latein publizierten, entwickelten sich die medizinischen Zeitschriften der neu entstandenen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts in ihren jeweiligen Landessprachen. Es mag ein glücklicher Zufall gewesen sein, dass der amerikanische Ingenieur niederländischer Abstammung Kouwenhoven 1914 in Karlsruhe promoviert wurde [8] und so die alten Arbeiten von Böhm zur kardiopulmonalen Reanimation im Original lesen und die richtigen Schlüsse für seine Forschung ziehen konnte. Im Falle des Penicillins blieb dieser Zufall aus. Wir sehen aktuell eine neue solche Gefahr wachsen: Noch werden die meisten medizinischen Artikel in Englisch publiziert, allerdings kommen heute chinesische Autoren schon an zweiter Stelle [10] und werden sicher bald in Führung gehen. Über 50 % dieser Artikel sind in chinesischer Sprache publiziert [11]. Unabhängig von COVID-19 kam es schon in der Vergangenheit zu Problemen genau durch diese Sprachbarriere: Im Jahr 2004 berichteten chinesische Forscher in einem Fachartikel auf Chinesisch, dass das Grippevirus H5N1 erstmalig von Geflügel auf Schweine übertragen wurde – was letztlich am Anfang einer Pandemie stehen kann; eine zeitgleiche Meldung an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfolgte offensichtlich nicht. Erst Monate später wurde dieses Manuskript ins Englische übertragen, was dann erst mit Zeitverzögerung zu einer akuten Alarmreaktion der WHO führte [3]. Vorausschauend warnte UN-Generalsekretär António Guterres am 23.09.2019: „I fear the possibility of a great fracture: the world splitting in two, with the two largest economies [USA und China] on earth creating two separate and competing worlds, each with their own dominant currency, trade and financial rules, their own internet and artificial intelligence capacities, and their own zero sum geopolitical and military strategies“ [12]. Wenn diese sprachkulturelle Fraktur im medizinischen Bereich nicht überwunden wird, kann es zukünftig schwerwiegende Folgen haben, wie Vergangenheit und Gegenwart zeigen.

Fazit für die Praxis

Entscheidende, unser Fachgebiet heute bestimmende Erkenntnisse wie die kardiopulmonale Reanimation und die Grundlage der Antibiotkatherapie wurden zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Beschreibung nicht erkannt. Ursachen mögen einfaches Übersehen und Nichtverstehen dieser relevanten Artikel u. a. durch sprachkulturelle Barrieren gewesen sein. Während der translationale Übertrag von als bedeutend identifizierten Forschungsergebnissen in den klinischen Alltag zentraler Gegenstand moderner Wissenschaft ist, gilt es, durch Einsatz moderner wissenschaftlicher Verfahren ähnliche Wissensverluste durch Nichtverstehen, wie sie hier beschrieben wurden, zukünftig zu verhindern. Dies sollte auch in unserem Fachgebiet geprüft respektive als bedeutender Ansatz in die translationalen Bemühungen Eingang finden.