FormalPara Editorial zum Artikel

Rüggeberg A, Dubois P, Böcker U, Gerlach H (2021) Präoperative Flüssigkeitskarenz – Etablierung eines liberalen Flüssigkeitsregimes mittels Nüchternheitskarten. Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-021-00918-7

Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! (Immanuel Kant)

Diesen Leitspruch der Aufklärung hatten die Autoren der Studie „Präoperative Flüssigkeitskarenz – Etablierung eines liberalen Flüssigkeitsregimes mittels Nüchternheitskarten“ von Rüggeberg et al. vielleicht im Sinn, als sie die Umsetzung eines liberalisierten Nüchterngebots auf dessen klinische Praktikabilität und Akzeptanz in ihrem Krankenhaus untersuchten. Ein guter Anlass, gemeinsam einen kurzen Ausflug durch die Geschichte des anästhesiologischen Nüchterngebots zu machen und dann – Stand heute – zu resümieren, wo die Entwicklung in Zukunft hingehen sollte.

Mit dem anästhesiologischen Nüchterngebot wird spätestens seit Mitte des 19. Jh. allen Patienten präoperativ eine prolongierte Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz verordnet. Fast gleichzeitig formuliert der berühmte französische Physiologe Claude Bernard die Bedeutung des Milieu intérieur für die Aufrechterhaltung des Lebens und war damit einer der ersten Protagonisten des Konzepts der Homöostase [1].

Manchen beschleicht gelegentlich der Verdacht, dass für das Nüchterngebot nicht nur Aspekte der evidenzbasierten Medizin eine Rolle spielen könnten. Abgesehen von diagnostischen Aspekten wie Nüchternprobenentnahmen sowie radiologischen, sonographischen und endoskopischen Untersuchungen sollen durch eine Nahrungskarenz die Entleerung des Magens und damit die Sicherheit vor Narkosen und Operationen gewährleistet werden. Häufig kommt es dabei zu einer Dysbalance zwischen den Maßnahmen zur Vermeidung von gastraler Regurgitation und pulmonaler Aspiration einerseits und der Berücksichtigung von Homöostase, Wohlbefinden und Stressvermeidung sowie einer reibungslosen OP-Organisation andererseits.

Historische Entwicklung

Die gastrale Regurgitation bzw. das aktive Erbrechen und die nachfolgende pulmonale Aspiration waren bereits den Pionieren der ersten Äthernarkosen als gefürchtete Komplikation bekannt. Sie haben sich daher frühzeitig mit präoperativer Nahrungskarenz beschäftigt und dazu erste Regeln aufgestellt. Diese frühen Nüchternregeln basierten selbstredend nicht auf wissenschaftlicher Evidenz, sondern auf „Eminenz“, d. h. auf ärztlicher Erfahrung und Einschätzung; sie lagen mit 3‑ bis 7‑stündiger Karenz für feste Nahrung in etwa im Bereich unserer heutigen Empfehlungen. Spätestens seit der weitergehenden Beschreibung in den 1940er-Jahren durch den Geburtshelfer Mendelson galt die bronchopulmonale Aspiration als ein Horrorszenario, das jeder Anästhesist fürchtete [2], und 2 der Hauptrisikogruppen waren benannt: Schwangere und Kinder. Dabei galt über viele Jahre die Annahme, dass, je länger der Patient nüchtern war, desto leerer der Magen und damit desto sicherer die Narkose. Was hat sich nun in den letzten gut 170 Jahren geändert, dass wir heute eine Anpassung der Nüchternzeiten diskutieren?

Die Kinderanästhesie hat sich zuerst erneut mit dem Thema befasst, weil hier die Folgen einer überlangen Nüchternheit, wie untröstliche und schreiende Kinder, verunsicherte und verärgerte Eltern sowie die rasche physiologische Entgleisung unübersehbar sind.

Physiologische Grundlagen

Allem voran steht der erhebliche wissenschaftliche Erkenntnisgewinn über die Magenentleerung per se. Erst in den 1980er-Jahren wurden systematische Studien zu Nahrungskarenz und Magenentleerung durchgeführt. Es konnte u. a. gezeigt werden, dass sich das residuelle Magenvolumen durch die präoperative Gabe von 150 ml klarer Flüssigkeit verringern ließ. Dies war ein früher Hinweis darauf, dass sich, entgegen der traditionellen Vorstellung, durch lange Nüchternzeiten nicht automatisch der Mageninhalt vermindern ließ – im Gegenteil.

Seit den 2000ern wurde dann v. a. mithilfe bildgebender Verfahren gezeigt, dass Flüssigkeiten (und teilweise auch feste Nahrung) den Magen sehr viel schneller als bisher angenommen verlassen. In einer ganzen Reihe von MRT- und Ultraschalluntersuchungen an Kindern und Erwachsenen betrug die durchschnittliche Magenentleerungszeit nach klaren Flüssigkeiten weniger als 30–45 min; leichte Mahlzeiten hatten nach durchschnittlich weniger als 4 h den Magen passiert [3]. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass es naturgemäß „Ausreißer“ gibt, bei denen die Magenentleerung kürzer oder länger dauert. Eine elementare Feststellung war überdies, dass die Dauer der Magenentleerung kaum altersabhängig ist und damit generelle Regeln für alle Altersklassen gelten können [5].

Ursachen einer Aspiration

Eine Aspiration ist nach wie vor ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis, das in jedem Fall verhindert werden muss; der Mageninhalt ist dabei nur ein Risikofaktor von vielen. Schwerer wiegen ganz andere Umstände, die wir als Anästhesisten a priori nicht beeinflussen können, z. B. Eingriffe in Notfallsituationen, akutes Abdomen mit Magenentleerungsstörungen, erhöhter intraabdomineller Druck, präoperative Opioidgabe etc. Es gilt vielmehr, ideale Bedingungen für die Anästhesieeinleitung zu schaffen, d. h., beeinflussbare Entitäten wie Störungen der Homöostase und Stress zu vermeiden, sowie durch gekonnte Anästhesietechniken und -verfahren zu verhindern, dass es überhaupt zu gastraler Regurgitation und pulmonaler Aspiration kommen kann. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die adäquate Vorbereitung und die sichere Durchführung der Anästhesieeinleitung. Bereits im Jahr 2007 hat der Wissenschaftliche Arbeitskreis Kinderanästhesie der DGAI (WAKKA) mit der Definition einer „kontrollierten ‚rapid sequence induction‘ (RSI)“ hier einen Paradigmenwechsel eingeleitet: Einführung der bis dato geradezu verbotenen sanften Maskenbeatmung zur Überbrückung der Zeitspanne von Anästhesieinduktion bis zu tiefer Anästhesie mit kompletter, nichtdepolarisierender Muskelrelaxierung, Verzicht auf den Sellick-Handgriff und nachfolgende, atraumatische Laryngoskopie und Intubation ohne Zeitstress. Dadurch können bei allen Altersgruppen bedrohliche Hypoxien, erschwerte Intubationsbedingungen, erhöhtes Stressniveau bei den Anwendern und v. a. Husten, Würgen, Pressen und Bocken des Patienten mit der Gefahr von Regurgitation und Aspiration zuverlässig verhindert werden [6]. Dass diese Form der Beatmung und Anästhesieeinleitung bei „vollem Magen“ nicht zu erhöhtem Risiko und Steigerung der Komplikationsrate führt, haben Studien eindrucksvoll unterstrichen. So wurden in der Universitätskinderklinik Zürich über 1000 Anästhesieeinleitungen bei aspirationsgefährdeten Kindern durchgeführt; nur in einem einzigen Fall kam es zu einer Hypoxie; Aspirationsereignisse gab es nicht [7]. Die kontrollierte RSI gilt somit heute als Standardverfahren, nicht nur der Kinderanästhesie, sondern auch bei anderen hypoxiegefährdeten Patientengruppen.

Überlange Nüchternzeiten sind ein Problem

Seit Jahren ist in Deutschland und vielen anderen Ländern für die präoperative Nahrungskarenz die 6‑4‑2-Regel etabliert, also 6 h für feste Nahrung, 4 h für Milch bei Säuglingen und 2 h für klare Flüssigkeit. Die realen Nüchternzeiten jedoch waren in allen Untersuchungen und allen Einrichtungen erheblich länger; für klare Flüssigkeit beispielsweise im Median 5,0–14 h, also 2,5- bis 7‑mal so lange wie erlaubt – mit extremen Ausreißern nach oben. Ursachen dafür sind in erster Linie in den organisatorischen Rahmenbedingungen des perioperativen Alltags zu sehen. Denn die Praxis zeigt, je länger die vorgegebenen Nüchternzeiten sind, desto schwieriger ist die Einhaltung akzeptabler Karenzzeiten im OP-Alltag!

Überlange Nüchternzeiten sind nicht nur unangenehm, sondern können auch bei vulnerablen Patientengruppen zu Dehydratation, Ketoacidosen, Blutdruckabfällen, Befindlichkeitsstörungen und schlechter Kooperation bei der Narkoseeinleitung führen [8].

Besonders gefährdet sind kleine Kinder (insbesondere milchernährte kleine Säuglinge), geriatrische Patienten (mit erhöhtem Risiko für postoperatives Delir und postoperatives kognitives Defizit (POCD)), chronisch kranke und stoffwechselkranke Patienten (u. a. mit Diabetes mellitus oder ketogener Diät) und Patienten mit häufigen sich in kurzen Abständen wiederholenden Eingriffen (z. B. für regelmäßige Verbandwechsel in Narkose) [4].

Angepasste Regeln können helfen

Der ausgeführte Erkenntnisgewinn der letzten Jahre hat international v. a. in der Kinderanästhesie zu einem breit abgestützten Umdenken geführt. In zahlreichen Konsensus-Statements haben internationale Fachgesellschaften dafür plädiert, die Nüchternzeiten zu liberalisieren, darunter ESA (European Society of Anaesthesiology), ESPA (European Society of Paediatric Anaesthesiology)/APAGBI (Association of Paediatric Anaesthetists of Great Britain and Ireland)/ADARPEF (L’association des Anesthésistes Réanimateurs Pédiatriques d’Expression Française), SPANZA (The Society for Paediatric Anaesthesia in New Zealand and Australia), CPAS (Canadian Pediatric Anesthesia Society) [9]. Eine entsprechende Leitlinie der ESAIC (European Society of Anaesthesiology and Intensive Care) wird in wenigen Wochen erwartet. Verkürzte Nüchternzeiten für klare Flüssigkeit (1 h) verbessern das perioperative Erleben für Eltern und Kinder, ohne das Aspirationsrisiko zu erhöhen [10]. Bei optimierten Nüchternzeiten bleibt zudem die Ketonkörperkonzentration normal, und ein Blutdruckabfall nach Narkoseeinleitung tritt seltener auf.

Erwachsene, d. h. „groß gewordene Kinder“, verdienen die gleiche Sorgfalt und Zuwendung wie Kinder, auch wenn die Folgen einer überlangen Nüchternheit nicht immer so offensichtlich ins Auge springen. In diesem Sinn berichtet in dieser Ausgabe von Der Anaesthesist die Autorengruppe von Rüggeberg et al. [11] über die erfolgreiche Umsetzung eines rationalen Nüchterngebots in einem großen deutschen Krankenhaus der Maximalversorgung. Wir danken den Autoren für diese Studie und ihren Mut, mit diesem Beitrag das weitere Umdenken anzustoßen – mit dem Ziel, den uns anvertrauten Patienten größtmögliche Sicherheit, Homöostase und Wohlbefinden zu verschaffen. Die Veröffentlichung eines nach rationalen Gesichtspunkten überarbeiteten Nüchterngebots ist eine dringend anstehende Aufgabe der zuständigen Fachgesellschaften, während viele Institutionen dies bereits „mit eigenem Verstand“ und internen Regelungen erfolgreich umgesetzt haben.

Dr. Karin Becke-Jakob,

Prof. Dr. Christoph Eich