Die Empfehlungen der Sepsisleitlinien fassen die derzeitigen Erkenntnisse zur Therapie zusammen. Wie in allen gängigen Leitlinien werden Standards erhoben, die aber nicht allen Patienten gerecht werden können, da die individuelle Immunantwort und damit auch das Ansprechen auf eine Therapie interindividuell variieren. Damit kann Unsicherheit entstehen, ob die Standardtherapie tatsächlich zu einer signifikanten Verbesserung der Erkrankung beiträgt.

Das ist neu!

Seymour et al. haben anhand der Patientendaten aus 3 Observationsstudien (n = 63.858) und 3 randomisierten, kontrollierten Sepsisstudien (n = 4737) neue Sepsisphänotypen (α, β, γ und δ) klassifiziert, die sich im Hinblick auf Laborresultate, Notwendigkeit einer Intensivtherapie, Organversagen und Letalität unterschieden [1].

So neigten Patienten mit einem δ‑Phänotyp häufiger zu hepatischer und kardiovaskulärer Dysfunktion, während β‑Phänotypen wahrscheinlicher ein Nierenversagen hatten. Variiert man den Anteil der Phänotypen in den untersuchten Studienpopulationen (aus der PROWESS-[2], ACCESS-[3] und ProCESS-Studie [4]), können die Studien unterschiedliche Ergebnisse zeigen. So ist die Wahrscheinlichkeit eines Vorteils der „Early-goal-directed“-Therapie (EGDT) bei 35 %, wenn mehrheitlich Patienten mit α‑Phänotyp in der ProCESS-Studienpopulation sind. Finden sich dagegen in der gleichen Studienpopulation wenigstens 50 % Patienten mit einem δ‑Phänotyp, besteht eine 60 %ige Chance, einen Nachteil durch EGDT zu belegen. In diesen Simulationen waren die Schlussfolgerungen über den Nutzen oder Schaden einer Therapie abhängig von der Verteilung der Sepsisphänotypen. Da die Phänotypen anhand von klinisch routinemäßig verfügbaren Daten unterschieden werden, könnten also eine Abschätzung der Prognose und auch eine Individualisierung der Therapie ab dem Aufnahmezeitpunkt möglich sein [1]. Obwohl diese retrospektive Untersuchung Limitationen hat, zeigt sie doch, dass eine sinnvolle Standardtherapie wie EGDT unterschiedlich effektiv bei individuellen Patienten sein kann. Dass die Standardtherapiestrategien wie Volumengabe und Vasopressortherapie in der Sepsis individualisiert zu einem besseren Ergebnis führen können, zeigte auch eine Untersuchung zur Unterstützung bei Therapieentscheidungen durch künstliche Intelligenz („artificial intelligence“ AI) [5]. In dieser Simulation führte die AI-gestützte Sepsistherapie in optimierter Dosierung zu einem besseren Überleben. Ein Überschreiten der empfohlenen Volumentherapie und ein Abweichen bei der empfohlenen Vasopressordosierung resultierte in höherer Letalität [5].

Fazit für die Praxis

Die Standardtherapie der Sepsis beschreibt die grundlegenden Ansätze, die bei den Erkrankten angewendet werden sollen. Dass diese Standardtherapie in Dosis, Zeitpunkt und evtl. auch der Dauer individuell an den Patienten angepasst sein muss, belegen die Studien von Seymour et al. [1] und Komorowski et al. [5]. Standardisierung und Individualisierung sind also kein Widerspruch, sondern ergänzen sich in der an den Patienten angepassten Optimierung der Sepsistherapie.