In der vorliegenden Ausgabe von Der Anaesthesist ist das Leitthema den Erkrankungen des neuromuskulären Formenkreises gewidmet. Charakteristisch für neuromuskuläre Erkrankungen (NME) ist die pathophysiologische Heterogenität der Störungen der neuromuskulären Einheit mit einer Vielfalt von Krankheitsbildern. Selbst das diesen Erkrankungen gemeinsame „Leitsymptom Muskelschwäche“ kann klinisch sowohl innerhalb eines Krankheitsbildes als auch bei den Erkrankungen verschiedenen Ursprungs sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Dies stellt den behandelnden Anästhesisten, zumal diese Krankheitsbilder aufgrund ihrer oft sehr geringen Prävalenz nicht zum „Tagesgeschäft“ gehören, vor besondere Herausforderungen. Die genaue Kenntnis dieser Krankheitsbilder und das daraus resultierende perioperative anästhesiologische Management sind daher in höchstem Maße bedeutsam für die Patientensicherheit und das Behandlungsergebnis.

Die Autoren des vorliegenden Leitthemenbeitrages beschreiben in einer gelungenen systematischen Übersicht die Behandlung von Patienten mit NME [1]. Sie wählen in ihrer Systematik den für die anästhesiologische Praxis wichtigen Ansatz der Darstellung eines Behandlungspfades, beginnend mit der präoperativen Evaluation über die Auswahl des Anästhesieverfahrens und schließlich die nicht minder wichtige postoperative Nachsorge. Dabei ist/sind nicht nur die Kenntnis des Krankheitsbildes an sich essenziell, sondern auch die typischen Komorbiditäten, welche das anästhesiologische Management (z. B. einen zu erwartenden schwierigen Atemweg, Herzinsuffizienz, pulmonale Einschränkungen) entscheidend beeinflussen, unabhängig von den Indikationen und Kontraindikationen für bestimmte Pharmaka wie Muskelrelaxanzien oder volatile Anästhetika. Empfehlungen für die Anästhesie in „besonderen Situationen“, u. a. bei Schwangeren, runden die Übersichtsarbeit ab.

Das Erkennen der wesentlichen Problemfelder und ein fundiertes Wissen auch über seltene NME steigern die Patientensicherheit.

Situationen im klinischen Alltag, in denen bei Risikopatienten Komplikationen auftreten, erweisen sich meist als sehr „prägend“ für die weitere persönliche berufliche Entwicklung. Im Nachhinein stellt sich vielleicht die Frage, ob man eine solche Situation mit besseren Vorkenntnissen hätte verhindern können. Hierzu leistet die vorliegende Übersicht einen sehr guten Beitrag.

Die Autoren behandeln in ihrer Übersicht auch die oft bestehende Unsicherheit bezüglich einer Veranlagung zur malignen Hyperthermie (MH) bei Patienten mit NME und stellen in einem Exkurs heraus, dass es nur wenige NME mit klaren Assoziationen zur MH gibt, aber die wichtige Unterscheidung zu einer anästhetikainduzierten Rhabdomyolyse (AIS) in der Klinik initial nicht immer eindeutig gelingt. Sie favorisieren in einer unklaren differenzialdiagnostischen Situation als pragmatischen Ansatz im Sinne einer Risikoabwägung den frühzeitigen Einsatz von Dantrolen, welches bei der AIS nicht kausal wirksam sein kann, aber im Falle einer MH die Prognose des Patienten erwiesenermaßen signifikant verbessert.

Über die Inzidenz fulminanter MH-Krisen existieren in der Literatur unterschiedliche Angaben [2, 3]. Der Verfasser dieses Editorials kann in 34 Jahren beruflicher Tätigkeit im Fachgebiet Anästhesiologie über die persönliche Erfahrung an insgesamt 3 Patienten mit fulminanter MH-Krise berichten. Dies ist numerisch wirklich überschaubar, wobei viele Anästhesisten aber wahrscheinlich noch keine MH-Krise bei einem Patienten selbst miterlebt haben, verhilft aber subjektiv dennoch zu einer verbesserten „Sensibilität“ für diese Problematik in der klinischen Praxis.

Wie die Autoren des vorliegenden Leitthemenartikels und auch Verfasser vergleichbarer Publikationen zum Thema Anästhesie und NME sinngemäß feststellen [4, 5], wird es auch in Zukunft wenige Empfehlungen oder gar Leitlinien mit hohem Evidenzniveau, vergleichbar einer S3-Leitlinie, geben. Prospektive randomisierte (ggf. verblindete) Studien wären selbst bei einem multizentrischen Ansatz in einem akzeptablen Zeitraum kaum realisierbar und ethisch nicht unproblematisch. Wichtig zur Verbesserung des Wissenstands zum Thema NME ist daher zurzeit die Darstellung der bestmöglichen theoretischen Kenntnisse und klinischen Expertise mit gut begründeten Handlungsempfehlungen, aber auch das Wissen um leicht zugängliche valide Informationsquellen, wenn man in einer Notfallsituation zu nächtlicher Stunde Patienten mit NME versorgen muss. Wissen ist u. a. auch, wenn man weiß, woher man Informationen bekommt! Und wie das seit einigen Jahren im Bereich der DGAI äußerst erfolgreiche Projekt „Orphan Anesthesia“ (www.orphananesthesia.eu) eindrucksvoll zeigt, verfügen wir hier über sehr gute, stetig wachsende Informationen. Die von den Autoren in der vorliegenden Übersichtsarbeit dargestellten Informationen in „Steckbriefform“ wichtiger NME orientieren sich an diesem Format.

Auch wenn sich das vorliegende Leitthema mit dem perioperativen anästhesiologischen Management von Patienten mit NME beschäftigt, so kann dieses Wissen bei der Intensivtherapie dieser Patientengruppe von höchstem Nutzen sein, obwohl auf Intensivstationen der Anteil von Patienten mit NME auch in Zukunft – trotz der Verbesserung der Lebenserwartung – weiterhin eher gering sein dürfte [6]. Als Anästhesisten arbeiten wir mittlerweile nicht mehr ausschließlich auf operativen Intensivstationen, sondern müssen uns den Herausforderungen der Patientenversorgung in größeren Intensiveinheiten mit einem „gemischten“ Patientengut stellen. So haben beispielsweise das Thema der Anwendung von Inhalationsanästhetika zur Sedierung und damit die Gefahr des Auftretens einer MH bei Intensivpatienten höchste Relevanz erlangt, weshalb die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) an der Entwicklung der aktualisierten S1-Leitlinie „Maligne Hyperthermie“ im Jahre 2018 mitbeteiligt war [2, 3]. Weitere Aspekte der Intensivtherapie von Patienten mit NME betreffen u. a. die Entwöhnung von der Beatmung, die uns als Intensivmediziner bereits heute schon bei Patienten mit erworbenen neuromuskulären Störungen während der Intensivbehandlung („ICU aquired weakness“) vor Herausforderungen stellen kann.

Die Autoren des vorliegenden Leitthemenartikels, wie auch andere mit entsprechender Expertise, können sicherlich dahingehend ermutigt werden, in nicht allzu ferner Zukunft das Thema NME auch für die Intensivtherapie zu bearbeiten, denn dieses sollte auch unsere höchste Aufmerksamkeit einfordern.