Deutschland legt zu: Nach Angaben der Deutschen Adipositas-Gesellschaft [2] hat die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas in den vergangenen Jahren in Deutschland (und weltweit) kontinuierlich zugenommen. Knapp 60 % der deutschen Bevölkerung sind übergewichtig (Body-Mass-Index [BMI] ≥25 kg/m2: Anteil = 37 %) oder adipös (BMI ≥30 kg/m2: Anteil = 21 %).

Entsprechend steigt die Anzahl kritisch kranker Patienten mit Adipositas auf Intensivstationen. Sie werden dort zumeist mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt [7] und stellen eine spezielle Herausforderung sowohl bezüglich des praktischen Managements (geeignete Betten-, Lagerungs- oder Mobilisierungssysteme) als auch bezüglich der diagnostischen (Computertomographie, Ultraschall) und medizinischen Herangehensweise (Beatmung, Ernährung, Medikamentendosierung) dar.

Das „obesity paradoxon“

Obwohl schwer adipöse Intensivpatienten generell von mehr und schwerwiegenderen Komplikationen bedroht sind (Infektionen, Thrombosen, hämodynamische Instabilität, Nierenfunktionsstörung), wurde durch große Kohortenstudien aufgezeigt, dass adipöse Patienten eine niedrigere vergleichbare Letalität aufweisen als normal- oder untergewichtige kritisch Kranke. Bei ca. 10.000 Patienten operativer Intensivstationen [3] und bei 1909 Patienten nach koronarer Bypassoperation [4] wurde ein Überlebensvorteil für übergewichtige oder adipöse Patienten gefunden. Die Bedeutung dieser auf den ersten Blick überraschenden Befunde („obesity paradoxon“) ist bisher nicht klar. Es wird zum einen vermutet, dass adipöse Patienten wegen ihrer Körperkonfiguration eine besonders achtsame Zuwendung von Ärzten und Pflegenden erfahren und einen Therapievorteil besitzen [1]. Zum anderen wird postuliert, dass Adipozyten eine moderate antiinflammatorische Funktion ausüben und bei kritischer Erkrankung „protektiv“ wirken [5]. Beide Hypothesen sind bisher nicht durch ausreichende klinische Daten gestützt.

Fett ist nicht gleich Fett

Eine dritte Hypothese – und diese wird durch die Übersicht von Weig et al. in dieser Ausgabe von Der Anaesthesist [9] unterstrichen – sieht den bisher für alle wissenschaftlichen Arbeiten herangezogenen Body-Mass-Index als unspezifisches und nicht ausreichend valides Instrument zur Beschreibung der Adipositas an. Weig et al. hatten in einer retrospektiven Kohorte von ARDS-Patienten die Beobachtung gemacht, dass einige adipöse Patienten, die wegen eines schweren ARDS mit prolongierter Bauchlagerung behandelt wurden, eine assoziierte Verschlechterung der Funktion intestinaler Organe aufwiesen [8]. Die nähere Analyse zeigte, dass diese gravierenden Funktionseinschränkungen (Nierenversagen in 83 %, hypoxämische Hepatitis in 22 %) überwiegend Patienten mit abdomineller Adipositas zuzuordnen waren, während adipöse Patienten mit vergleichbar erhöhtem BMI, die aber ein subkutanes Fettverteilungsmuster aufwiesen, eine signifikant geringere Inzidenz der bauchlagerungsassoziierten Komplikationen (Nierenversagen 35 %, Hepatitis 2 %) hatten. Diese pathophysiologisch und klinisch bedeutsamen Befunde lehren: BMI ist nicht gleich BMI und Adipositas ist nicht gleich Adipositas. Offensichtlich ist das Verteilungsmuster der Adipositas – subkutan vs. abdominell – von großer Bedeutung für die Risikoeinschätzung kritisch kranker Patienten. In ähnlicher Weise wird schon seit Langem auf das hohe Letalitätsrisiko bei Vorliegen eines metabolischen Syndroms hingewiesen [6]: Abdominelle Adipositas, Hypertonus, Diabetes mellitus und erhöhtes Cholesterin gelten als „tödliches Quartett“.

Die vorliegende Übersicht von Weig et al. beschreibt die für Anästhesie und Intensivmedizin bedeutsamen Methoden, die klinischen Aspekte und mögliche Fallstricke der Einschätzung der Adipositas. Sie legt besonderen Wert auf die Notwendigkeit der differenzierten Einschätzung des Adipositastyps und der daraus resultierenden Konsequenzen für die Therapiestrategie. Die hierfür notwendigen diagnostischen Instrumente (Schublehre zur Erfassung des sagittalen abdominellen Diameters, Computertomogramm) dürften den meisten Intensivstationen ohne großen zusätzlichen Aufwand zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang zeigen die Autoren auch eine attraktive Methode zur generellen Einschätzung der Muskelmasse am Beispiel des M. psoas auf. Auch dieser Aspekt ist sowohl im Zusammenhang mit Adipositas als auch für sich gesehen („ICU-acquired weakness“) ein wichtiger Parameter zur Erfassung des funktionellen Outcomes nach Intensivbehandlung.

Die Übersicht von Weig et al. ist somit ein Baustein zur „individualisierten“ medizinischen Behandlung, die auch in der Intensivtherapie zunehmend gefordert wird: Der Weg führt weg von globalen Diagnosen (Adipositas, ARDS, Sepsis, Organversagen, Trauma, akutes Abdomen) zu einer mittels sorgfältiger Anamnese, klinischer und bildgebender Untersuchung und durch gezielt und kenntnisreich erhobene pathophysiologische Daten abgestützten Wahrnehmung der – oft komplexen – individuellen Erkrankung des Patienten mit daraus resultierender „maßgeschneiderter“ Therapie.

Der Anfang zur differenzierten Einschätzung der Adipositas ist getan – der wissenschaftliche Weg zur Untersuchung weiterer Aspekte der dunklen Seite der Adipositas liegt noch vor uns!

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