Am Freitag, den 25.10.2013, veröffentlichte die Europäische Arzneimittelbehörde (European Medicines Agency, EMA) ihre neue Empfehlung zur Verwendung von Hydoxyäthylstärke(HES)-haltigen Infusionslösungen ([1], englischer Volltext s. Anhang). Diese Empfehlung (EMA/640658/2013) beruht auf einer kurz zuvor abgeschlossenen Bewertung des „Pharmacovigilance Risk Assessment Committee“ (PRAC) der EMA und löst eine Stellungnahme des PRAC aus dem Juni dieses Jahres ab.

Hydoxyäthylstärke darf demnach auch weiterhin bei Patienten mit Sepsis oder Verbrennungen und anderweitig kritisch kranken Patienten nicht mehr angewendet werden („must no longer be used“). Dagegen ist eine Anwendung (wieder) möglich bei Patienten mit einer durch einen akuten Blutverlust hervorgerufenen Hypovolämie, die durch die Gabe von kristalloiden Infusionslösungen allein nicht suffizient behandelt werden kann. Der Gebrauch sollte auf 24 h beschränkt und die Nierenfunktion der Patienten im Anschluss überwacht werden. Zu Art und Zeitraum der Überwachung der Nierenfunktion erfolgten in der Stellungnahme der EMA keine näheren Angaben. Zudem werden die Arzneimittelhersteller aufgefordert, die Fachinformationen entsprechend zu ändern und den Gebrauch von HES im Rahmen elektiver chirurgischer Eingriffe sowie bei Traumapatienten durch Studien weiterzuevaluieren.

Diese Empfehlung der EMA wird nun an die Europäische Kommission weitergeleitet mit dem Ziel, eine EU-weit geltende und rechtlich verbindliche Entscheidung herbeizuführen. Da wenig Zweifel daran bestehen, dass die Europäische Kommission die Empfehlung der EMA in der vorliegenden Form übernehmen wird, scheint die Diskussion zum Thema HES durch das aktuelle Votum der Europäischen Aufsichtsbehörde zumindest bis auf Weiteres zum Abschluss gekommen zu sein.

Dies ist aus Sicht des klinisch tätigen Arztes aus 2 Gründen zu begrüßen: Zum einen beendet die Entscheidung der EMA eine mehrere Monate anhaltende Zeit der Therapie-, aber auch Rechtsunsicherheit. So war völlig unklar, ob und wenn ja, welche rechtlichen Konsequenzen derjenige zu befürchten hatte, der HES im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit, aber eben gegen die initiale, von einer weiteren Verwendung von HES grundsätzlich abratenden Empfehlung der EMA bei Patienten einsetzt. Zum anderen war unklar, ob verfügbare Alternativen zu HES die Therapiesicherheit tatsächlich verbessern würden [2].

Auch wenn die neue Empfehlung der EMA diese beiden Fragen letztlich nicht beantwortet, ist die Ausgangslage nun deutlich klarer und trägt – daher ist die Entscheidung ebenfalls hilfreich – v. a. der Tatsache Rechnung, dass die Risiko-Nutzen-Abwägung für den Einsatz von Medikamenten selten eindimensional (schwarz-weiß) ist, sondern wesentlich von der Konstellation der Anwendung abhängt: hier der Patient auf der Intensivstation, der in der Regel eng überwacht ist, über ausreichende venöse Zugänge verfügt und meist durch Flüssigkeitsverluste (Fieber) oder eine relative Hypovolämie infolge eingeschränkter vaskulärer Barrierefunktion oder Vasoplegie bedroht ist. Dort der Patient mit Polytrauma oder während eines komplexen chirurgischen Eingriffs, bei dem es innerhalb kürzester Zeit aufgrund von Blutverlusten zur absoluten Hypovolämie sowie zum Kreislaufschock kommt und bei dem eine rasche Kreislaufstabilisierung in akzeptabler Zeit durch Kristalloide allein rein physikalisch (limitierte Infusionsmenge pro Zeit, eingeschränkte Volumenwirksamkeit) scheitert. Wirkungen und Nebenwirkungen relativieren sich unter diesen Bedingungen und müssen zu einer individuellen Risiko-Nutzen-Abwägung führen.

Die teilweise emotionale und vielfach kontroverse Diskussion der letzten Monate hatte –- bei aller damit verbundenen Unsicherheit – jedoch auch etwas Gutes. Sie schärfte die Sinne im Hinblick auf ein Medikament, das in der Vergangenheit sicherlich nicht selten zu unreflektiert, in der falschen Dosierung, beim falschen Patienten und unter Vernachlässigung der Kontraindikationen eingesetzt worden war. Die Indikationen sind nun ebenso klar wie die Kontraindikationen, und die empfohlene zeitliche Begrenzung der Anwendung auf 24 h trägt der verbliebenen Indikation – dem akuten schweren Blutverlust – Rechnung. Am wenigsten hilfreich für die Praxis erscheint der Hinweis der EMA auf eine Überwachung der Nierenfunktion nach Gabe von HES, da wirklich befriedigende und praxistaugliche Messparameter für die Integrität der Nieren bis heute nicht verfügbar sind und unklar ist, wer die Überwachung wann durchführen soll. Dies war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass die EMA in diesem Zusammenhang von einer zwingenden Vorgabe zugunsten einer unverbindlicheren „Sollte“-Empfehlung („kidney function should be monitored …“) abgesehen hat.

Der anwendende Arzt ist nun gehalten, die durch die EMA vorgegebenen Anwendungsbeschränkungen zu beherzigen und den indikationsgemäßen Gebrauch von HES sicherzustellen. Fast noch wichtiger jedoch: Die forschende pharmazeutische Industrie ist eindeutig aufgefordert, die dringend benötigten Studien auf den Weg zu bringen, die es uns ermöglichen, die nach wie vor bestehenden beträchtlichen Wissenslücken im Bereich der Infusionstherapie zu schließen.

Bernhard Zwißler

Rolf Rossaint