Brauchen wir eine Erweiterung des „Versorgungsmodells Akutschmerztherapie“? Wird das Problem chronischer Schmerzen in der perioperativen Phase schmerztherapeutisch vernachlässigt? Glaubt man den Autoren der im vorliegenden Heft von Der Anaesthesist publizierten Arbeit „Vorbestehender Schmerz als Komorbidität im postoperativen Akutschmerzdienst“, wäre eine weitreichende Ausweitung des Akutschmerzdienstes (ASD) notwendig. Die Autoren analysieren und bewerten Prävalenz, Betreuungsaufwand und Ergebnisqualität der Behandlung postoperativer Schmerzen bei Patienten mit vorbestehenden chronischen Schmerzen. Wir fragen uns: Sind die Schlussfolgerungen der Autoren wissenschaftlich fundiert oder handelt es sich hier um eine engagiert präsentierte Hypothese?

Lokalisiert-chronisch oder multilokulär?

Bei Patienten mit vorbestehender Schmerzchronifizierung können Verhaltensauffälligkeiten die Behandlung akuter postoperativer Schmerzen erschweren. So wird es in den S3-Leitlinien „Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie (DIVS, [1]) beschrieben. Dabei sollte zwischen lokalisierten chronischen Schmerzen und multilokulären Beschwerden unterschieden werden. Patienten mit lokalisierten chronischen Schmerzen, z. B. Leistenschmerz bei Koxarthrose, müssen keine problematische perioperative Schmerzentwicklung haben. Dagegen können Patienten mit eher diffusen chronischen Schmerzen unter psychischen Störungen, z. B. somatoforme Schmerzstörung oder Depression, leiden, die die patienteneigene Schmerzkontrolle in der perioperativen Phase beeinträchtigen und die Schmerzbehandlung erschweren können [1].

Der Einfluss vorbestehender (nichtchronischer) Schmerzen auf die Intensität akuter postoperativer Schmerzen und deren Behandlung wurde in einer Metaanalyse von Ip et al. untersucht [2]: Präoperative Schmerzerfahrungen wurden in mehreren Studien mit erhöhten Angaben zur postoperativen Schmerzintensität assoziiert. Aktuelle Schmerzen vor der Operation führten in 2 Studien zu einem erhöhten Analgetikaverbrauch nach Operationen. Drei Studien mit nichtausreichender statistischer „power“ fanden dagegen, dass präoperativer Schmerz kein relevanter Prädiktor für akute postoperative Schmerzen ist [3, 4, 5]. Die meisten Daten liegen jedoch für den Zusammenhang zwischen Angst und postoperativer Schmerzintensität vor. Eine lesenswerte Untersuchung zeigte, dass die (angstbesetzte) Vermeidung von Aufmerksamkeit (für Schmerz) erhöhte postoperative Schmerzintensität und einen gesteigerten Analgetikaverbrauch vorhersagen kann [6].

Können chronische Schmerzen, anders als akut vorbestehende Schmerzen, einen Einfluss auf die Intensität postoperativer Schmerzen haben?

Diese neue Frage ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. In einer Post-hoc-Analyse der Protokolle eines ASD wurden die Häufigkeit chronischer Schmerzen vor der Operation sowie Aufwand und Erfolg der Akutschmerztherapie untersucht. Patienten mit chronischen Schmerzen in der Anamnese wurden in die Studie nur dann aufgenommen, wenn der ASD sie postoperativ betreute. Die Diagnose chronischer Schmerzen basierte auf Angaben zu dem Projekt „Qualitätsverbesserung in der postoperativen Schmerztherapie (QUIPS)“. Dieses wurde aber bisher überhaupt nicht in Bezug auf chronische Schmerzen validiert. Wohl deshalb wurde die Diagnose chronischer Schmerzen in dieser Untersuchung durch eine nichtnäher beschriebene klinische Einschätzung ergänzt. Diese Umstände verhindern leider die Reproduzierbarkeit durch andere Untersucher. Methodisch liegt eine nichtrepräsentative Studie mit zu unpräzise beschriebenen Instrumenten vor. Das ist ein Wermutstropfen, aber aus solchen „explorativen“ Studien können auch wegweisende neue Ideen entwickelt werden. Im Ergebnis beschreiben die Autoren eine Prävalenz von 50% chronischer Schmerzen unter den von ihnen betreuten Patienten.

Beeinflussen die Tumorpatienten das Ergebnis?

Die Ergebnisse der Akutschmerztherapie sind ermutigend: Trotz chronischer Schmerzen in der Anamnese waren im Vergleich zu den anderen Patienten kein erhöhter Aufwand, keine gesteigerten Bedarfsmedikationen und auch keine schlechtere Ergebnisqualität zu verzeichnen. Offenbar ist es dem Team gelungen, mit gleichem Aufwand bei Patienten mit und ohne chronische Schmerzen in der Anamnese eine gleich gute Akutschmerztherapie zu erzielen. Ein Grund für dieses Ergebnis kann in der hohen Prävalenz von Tumorschmerzen liegen. Tumorchirurgische Eingriffe werden in der Regel bei Patienten mit Schmerzen in der betroffenen Region durchgeführt. Mit der erfolgreichen Resektion fällt die Ursache der Schmerzen weg. Durch die Beschränkung auf Patienten des ASD war zugleich auch die Wahrscheinlichkeit der optimierten Behandlung unter Einschluss von Regionalanalgesien oder patientengesteuerter Analgesie gegeben. War diese Behandlung überhaupt noch zu verbessern?

Nicht untersucht wurden Patienten mit chronischen Schmerzen in der Anamnese, die dem ASD gar nicht vorgestellt wurden. Dabei wäre es extrem spannend gewesen zu erfahren, ob unter den Patienten, die jetzt noch nicht durch einen ASD versorgt werden, möglicherweise eine Untergruppe, z. B. Patienten mit vorbestehenden chronischen Schmerzen, von dieser spezialisierten Schmerztherapie hätten profitieren können. Die Frage nach möglichen psychosomatischen Prädispositionen für eine erschwerte perioperative Schmerzbehandlung, wie in der Leitlinie Akutschmerz der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) angesprochen, war nicht Gegenstand der Untersuchung.

In zahlreichen Publikationen wurde ein Zusammenhang zwischen chronischen und akuten postoperativen Schmerzen diskutiert. Dabei stand jedoch die Frage im Vordergrund, ob anhaltende und intensive akute postoperative Schmerzen chronische Schmerzen verursachen können [7, 8]. Ein Zusammenhang zwischen vorbestehenden chronischen Schmerzen und der Intensität akuter postoperativer Schmerzen wurde dagegen in den zitierten Publikationen der vorliegenden Arbeit nicht untersucht [7, 8, 9, 10]. Liegt hier eine Verwechslung zwischen dem Einfluss akuter Schmerzen auf das Risiko einer Schmerzchronifizierung und der Bedeutung von bereits bestehenden chronischen Schmerzen für die Intensität und Dauer akuter Schmerzen vor? Gerbershagen beschreibt jedenfalls den Einfluss akuter Schmerzen auf das Risiko einer Chronifizierung und nicht umgekehrt [7, 11].

Trotz aller methodischen Bedenken könnte die Studie aber auch als Hinweis darauf gewertet werden, dass (zumindest in dem beschriebenen Setting) Patienten mit chronischen Schmerzen keinen erhöhten Betreuungsaufwand durch den ASD benötigen. Dagegen kommen die Autoren zu einer gänzlich anderen Bewertung ihrer Daten und der vorhandenen Literatur. Folgt man dieser Interpretation, ergibt sich eine wesentliche Aufgabenerweiterung für den ASD. Wie das möglich ist, erfahren Sie in der Publikation. Die Wahrheit ergibt sich, wie immer, aus der zutreffenden Bewertung der Studienergebnisse sowie der kritischen Überprüfung der zitierten Publikationen und deren Aussagekraft. Viel Vergnügen bei einem wissenschaftlichen Lesekrimi!

M. Gehling

M. Tryba