Wir Anästhesisten sorgen täglich für Schmerzfreiheit, Amnesie und Erträglichkeit von operativen sowie diagnostischen Eingriffen. Wir überwachen die uns anvertrauten Patienten mit all unseren Sinnen und einem mehr oder minder großen apparativen Aufwand, der uns mit unserem Wissen und Abstraktionsvermögen einen „inneren Blick“ auf den Patienten gestattet.

Vor 11 Jahren erschien in Der Anaesthesist ein Editorial mit dem Titel „Messung der Anästhesietiefe: Traum oder Notwendigkeit?“ [1]. Der Traum ist mittlerweile in vielen Kliniken Realität geworden: Geräte zur Messung der Narkosetiefe haben sich im klinischen Alltag vielerorts etabliert, und wir können Korrelate der Narkosetiefe über prozessierte Messungen des Elektroenzephalogramms zur Steuerung einer Allgemeinanästhesie einsetzen. Die mit der Erfüllung des Traums verbundene Hoffnung allerdings, wir könnten durch solche Messungen verstehen, wie pharmakologisch induzierter Bewusstseinsverlust und die rasche Wiederkehr zu höheren kognitiven Leistungen funktionieren und damit gar Rückschlüsse auf die Essenz des Bewusstseins auf der Ebene des Netzwerks Gehirn ziehen, blieb bisher unerfüllt. Auch die Frage der schlichten Notwendigkeit einer Narkosetiefemessung durch ein indirektes Surrogat – die Ableitung einiger weniger hirnelektrischer Ströme nämlich – wird kontrovers diskutiert. So zeigten Avidan et al. [2, 3], dass die Steuerung der Narkosetiefe anhand endtidaler Konzentrationen von volatilen Anästhetika der Steuerung durch prozessiertes Elektroenzephalogramm nicht unterlegen ist.

Drexler u. Grasshoff greifen in ihrem Leitthemenbeitrag in dieser Ausgabe von Der Anaesthesist eine sehr aktuelle, wissenschaftliche Frage nach dem Zusammenhang zwischen tiefer Narkose und erhöhter Sterblichkeit auf. Diese Frage wollen und müssen wir uns gefallen lassen. Sie ist schließlich das Spiegelbild einer Entwicklung in vielen Bereichen der klinischen Medizin, in der nachgefragt wird, ob mit etablierten Therapieformen nicht nur Gutes, sondern potenziell auch Schaden angerichtet werden kann. Nun ist solch ein Nachweis im vorliegenden Fall alles andere als trivial, insbesondere wenn es sich um tiefe Narkose oder präziser, um die Dauer in tiefer Narkose und einen harten Endpunkt wie Zwei- oder Dreijahreüberleben handelt.

Allgemeinanästhesie ist unabdingbar, um operativ therapieren oder invasiv diagnostizieren zu können. Bei einer hohen und stetig zunehmenden Zahl unserer Patienten liegt allerdings nicht nur die Grunderkrankung dem perioperativen Risiko zugrunde, sondern es addieren sich vielfältige Komorbiditäten zu einem nicht immer in allen Facetten bekannten Gesamtbild. Der chirurgische Eingriff selbst ist als erheblicher Einschnitt in die Integrität des Organismus der Auslöser einer Vielzahl an Reaktionen, mit entsprechenden Kompensationsmechanismen in der Folge. Die Dynamik dieser Regelvorgänge können die aus Grunderkrankung und Komorbiditäten resultierenden pathophysiologischen Effekte weiter aggravieren. Zur Verdeutlichung sollen hier beispielsweise Gewebetrauma, Blutverlust, Transfusion, Inflammation, Infektion oder Sepsis genannt werden. Schließlich hat auch die zugrunde liegende Erkrankung, ob Neoplasie oder koronare Herzerkrankung, für jedes Individuum einen eigenen Verlauf, der schwer prognostizierbar ist.

Grenzen der Statistik

Drexler u. Grasshoff beleuchten die 5 wesentlichen Studien, in denen ein möglicher Zusammenhang zwischen Anästhesietiefe und erhöhter postoperativer Letalität dargestellt wird. Nur 5 relevante Studien sind also bisher publiziert, um eine zentrale Fragestellung zur perioperativen Patientensicherheit zu beantworten. Unter diesen Studien findet sich wiederum nur eine einzige Arbeit, die sich dieser Frage prospektiv nähert [4]; die 4 weiteren Untersuchungen sind retrospektive Auswertungen von im Rahmen anderer Fragestellung gewonnener Daten [5, 6, 7, 8]. Zusammengefasst ergibt sich ein heterogenes Bild, je nach Patientenkollektiv (herzchirurgisch, gemischt, nichtherzchirurgisch), Nachbeobachtungszeiträumen zwischen einem und 4 Jahren, Bispektralindex(BIS)-Werten <45 oder <40 sowie Einbeziehung von klinisch relevanten Kovariablen (z. B. vorbestehende maligne Grunderkrankung). In 4 der 5 Studien lässt sich eine schwache Korrelation zwischen Dauer in tiefer Anästhesie und Sterblichkeit darstellen. Hier zeigen die Autoren des Leitthemenbeitrags deutlich die Grenzen der publizierten Studien auf, diskutieren aber auch die bisher angedeuteten möglichen Ursachen. Insbesondere gelingt in dem Beitrag die Herausarbeitung, dass aufgrund der bisher durchgeführten Studien keine Kausalität gezeigt werden konnte und es sich hier um ein Epiphänomen handeln könnte.

Ergänzend soll angemerkt werden, dass die Frage nach Neurotoxizität und Outcome ein hochaktuelles Thema für alle darstellt, für unsere ganz jungen und ganz alten Patienten jedoch von besonderer Bedeutung ist [9]. Diese Aktualität wird durch die Tatsache unterstrichen, dass sich nahezu die Hälfte der Publikationen in der Rubrik „pediatric anesthesia“ der Zeitschrift Anesthesiology im Jahr 2011 mit der Neurotoxizität von Anästhetika bei Früh- und Neugeborenen beschäftigt [10].

Die Frage ist gestellt …

… die Antwort jedoch ist unsicher, und mögliche Konsequenzen sind unklar. In den Studien, die im Leitthemenbeitrag besprochen werden, wurden BIS-Werte <40 bzw. <45 als „Cut-off“-Wert für die statistische Analyse verwendet. In diesem Bereich befindet sich die empfohlene chirurgische Narkosetiefe nach BIS-Monitoring, demnach kann nicht generell von einer Überdosierung ausgegangen werden. In den jeweiligen Studien fehlt auch die Differenzierung, wie lange die Patienten vermeintlich „unnötig“ in tiefer Narkose verweilten.

Die Arbeit von Drexler u. Grasshoff leistet daher einen höchst wertvollen Beitrag in mehrerlei Hinsicht. Sie sensibilisiert uns für die Frage, inwieweit Anästhesie die Sterblichkeit erhöhen kann, ermöglicht uns einen kritischen Blick auf die Ergebnisse der jüngsten Publikationen zu diesem Thema und motiviert uns, dieser Frage in wissenschaftlichen Studien zu begegnen, bis die Hypothese bestätigt oder widerlegt ist.

Bis wir – wenn überhaupt – definitive Antworten auf diese Fragestellung erhalten, können uns die Autoren schlussendlich doch beruhigen, dass wir uns mit unserer jahrzehntelang ausgeübten anästhesiologischen Praxis nicht in völliger Schieflage befinden, und ermuntern uns daher, bis auf Weiteres fortzufahren wie bisher. Aufgrund der momentanen Datenlage könnte das Fazit nicht prägnanter ausfallen.

B. Scheller