„Primum nil nocere“! Dieser Leitsatz in der Medizin gilt nach wie vor uneingeschränkt, dennoch wird er leider gelegentlich für eine Defensivmedizin als Argument missbraucht. Möglicherweise gibt es immer noch anästhesiologische Kollegen, die aus Angst vor forensischen Auseinandersetzungen bei Patienten mit neurologischen Vorerkrankungen die Regionalanästhesie vermeiden, da befürchtet wird, dass im Fall einer (u. U. auch nur „gefühlten“) neurologischen Verschlechterung eine klare Differenzierung der Ursachen nicht eindeutig herausgearbeitet werden kann und dann dem Verfahren angelastet wird. Dieses Vorgehen wird den Patienten mit neurologischen Erkrankungen nicht gerecht. Die diabetische Polyneuropathie ist hierfür ein gutes Beispiel. Periphere Durchblutungsstörungen und erhöhte Infektanfälligkeit geben Anlass zu häufigen Operationen. Gerade diese Patienten erhalten oft gerinnungsbeeinflussende Medikamente und weisen ein erhöhtes Risiko einer Aspiration, einer perioperativen Hypotension bzw. Blutdruckinstabilität mit daraus resultierenden kardialen Komplikationen im Rahmen einer Allgemein- oder Spinalanästhesie auf. Auf der anderen Seite muss vermutet werden, dass der neuropathisch veränderte periphere Nerv anfälliger für mechanische und toxische Effekte ist, die von außen an ihn herangetragen werden. Wegen der potenziellen Gefahr einer weiteren Schädigung durch die Blockade bei einem bereits vorgeschädigten Nerv („Double-crush“-Phänomen) soll dieser bei Verwendung eines Nervenstimulators mit einer größeren Impulsbreite (1,0 ms) und einer höheren Stromstärke (1,2–1,5 mA) als sonst empfohlen aufgesucht werden.

Geht man mit einer derart „halbherzigen“ Annäherung an den Nerv das Risiko ein, einen „Versager“ zu generieren? Dieses wäre die schlechteste Variante für den Patienten, da unnötiger Stress entsteht und möglicherweise eine nichtgeplante Intubation unter ungünstigen Bedingungen stattfinden muss. Es gibt keine Datenbasis, die bei dieser Frage weiterhelfen könnte. Tierexperimentelle Daten zeigen eine höhere Empfindlichkeit diabetischer Ratten gegenüber den neurotoxischen Effekten von Lokalanästhetika [2]. Bei diabetischen Hunden lagen bei gleichen Schwellenwerten für die Nervenstimulation alle Injektionen intraneural (mit der potenziell größeren Gefahr, den Nerv zu schädigen), während bei nichtdiabetischen Tieren keine intraneurale Injektion nachgewiesen wurde [4].

Insgesamt zeichnet sich aufgrund neuerer tierexperimenteller Studien ab, dass selbst die bisher bei der Lokalisation gesunder Nerven angestrebten und zur Auslösung einer Muskelkontraktion ausreichenden minimalen Reizstärken (0,5 mA, 0,1 ms) offensichtlich nicht erforderlich sind, um einen ausreichenden Blockadeerfolg zu gewährleisten [6, 7]. In der klinischen Praxis reicht vermutlich auch eine minimale Reizstärke von 0,7–1,0 mA (Impulsbreite 0,1 ms) völlig aus, um einen guten Blockadeerfolg sicherzustellen. Diese Befunde lassen vermuten, dass das Einhalten höherer Schwellenwerte bei vorgeschädigten Nerven eine gewisse Sicherheit für den Nerv darstellen kann, ohne die Erfolgsquote dadurch zu beeinträchtigen. Klinische Daten, die diese Vermutung belegen, stehen allerdings aus.

Zunehmend werden periphere regionale Blockaden ultraschallgesteuert durchgeführt. Es konnte allerdings bisher nicht nachgewiesen werden, dass es hierdurch gelingt, Nervenschäden zu vermeiden [3]. Nervenschäden sind nach peripheren Blockaden extrem selten, sodass es schwierig bis unmöglich sein wird, valide Daten zu diesem Thema zu generieren. Erschwerend für eine statistische Auswertung der Frage, ob Patienten mit vorher bestehendem neurologischen Defizit eine Verschlechterung der Symptomatik durch die Regionalanästhesie erleiden, kommt hinzu, dass häufig andere Ursachen für einen Nervenschaden verantwortlich sein können. So konnte ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Dauer der Blutsperre und einem daraus resultierenden Nervenschaden nachgewiesen werden [1]. Als weitere Ursachen kommen die Lagerung und die Operation selbst infrage. Auch gegenüber diesen „Noxen“ wird der vorgeschädigte Nerv empfindlicher reagieren als der gesunde Nerv. Möglicherweise wird das Netzwerk Regionalanästhesie zukünftig hierzu aufschlussreiche Zahlen liefern können [8].

Viele Fragen, wenig Antworten. Sollen wir deshalb Patienten, die an einer Polyneuropathie leiden, eine Regionalanästhesie vorenthalten? Insbesondere die peripheren Blockaden stellen speziell für diese Patientengruppe, soweit es sich um Eingriffe an den Extremitäten handelt, vermutlich das ideale Anästhesieverfahren dar. Sie ermöglichen im Vergleich zu rückenmarknahen Verfahren und auch zur Allgemeinanästhesie eine hervorragende Kreislaufstabilität. Das Risiko einer Aspiration ist weitestgehend ausgeschlossen. Die Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern stellt keine Kontraindikation für die Durchführung peripherer Nervenblockaden dar und kann dementsprechend bei Bedarf perioperativ beibehalten werden. Welches konkrete Vorgehen kann empfohlen werden? Dieses beantwortet der in diesem Heft erschienene Leitartikel aufgrund der aktuell zur Verfügung stehenden Literatur, die sich im Wesentlichen auf Fallberichte oder kleine Kollektive von Patienten beschränkt, in hervorragender Weise [5]. Ergänzend zu den Ausführungen in dem vorliegenden Heft seien die „Empfehlungen zur Diagnostik, Prophylaxe und Therapie von neurologischen Komplikationen im Zusammenhang mit der Regionalanästhesie“ der American Society of Regional Anesthesia (ASRA) zur Lektüre empfohlen werden, die einen etwas anderen Blickwinkel auf die Problematik haben [3].

Die Entscheidung, welches Anästhesieverfahren im Fall des Vorliegens einer neurologischen Grunderkrankung gewählt wird, wird immer eine Individualentscheidung zwischen Patient und Arzt sein. Der Arzt muss hierbei aber sehr gut über das Für und Wider der Verfahren informiert sein. Es ist zunehmend davon auszugehen, dass sich Patienten mit schwerwiegenden neurologischen Diagnosen wie z. B der multiplen Sklerose oder der amyotrophen Lateralsklerose vor einem operativen Eingriff bereits sehr genau über die Problematik der verschiedenen Anästhesieverfahren informiert haben. Es ist gut, wenn der Arzt nicht erst vom Patienten hören muss, dass die Periduralanästhesie der Spinalanästhesie aufgrund der niedrigeren Lokalanästhetikakonzentration im Liquor nach periduraler Gabe vorzuziehen ist. Empfiehlt der Arzt dennoch eine Spinalanästhesie (wofür es durchaus Argumente geben mag), so muss dieses eine bewusste Entscheidung sein, die nicht aus Unwissenheit getroffen worden ist. Dass Patienten mit einem Querschnittsyndrom häufig eine suffiziente Anästhesie benötigen, obwohl sie in dem zu operierenden Bereich nichts spüren, sollte Grundlagenwissen sein, ist aber leider gelegentlich nicht bekannt. Insbesondere im Rahmen urologischer Eingriffe, die bei diesen Patienten häufig durchgeführt werden müssen, ist die Spinalanästhesie das Verfahren der Wahl. Es geht darum, die „autonome Hyperreflexie“ zu vermeiden. Kein Anästhesieverfahren ermöglicht dieses so effizient wie die Spinalanästhesie. Auch zu der Frage der Schwangerschaft und der damit verbundenen Problematik im Rahmen der Geburtshilfe bei Querschnittpatienten nimmt der Beitrag dankenswerter Weise ausführlich Stellung, da die Regionalanästhesie in Form der Periduralanästhesie auch in diesem Fall sehr segensreich bis unverzichtbar sein kann.

Für viele Patienten mit neurologischen Erkrankungen ist die Regionalanästhesie ein äußerst sinnvolles Verfahren, das eher hilft, Komplikationen zu vermeiden als zusätzliche Komplikationen zu erzeugen. Es ist wichtig, Vor- und Nachteile mit dem Patienten ausführlich zu erläutern, bei elektiven Eingriffen einen guten präoperativen neurologischen Status erheben zu lassen und ein schonendes Vorgehen zu wählen. Hierzu zählt u. a. die Wahl des Zugangsorts, der Punktionskanüle und des am wenigsten toxischen Lokalanästhetikums in einer möglichst geringen, aber doch ausreichenden Dosierung. Auch der Einsatz von Nervenstimulator und/oder Ultraschall kann in der Hand des Geübten, selbst wenn es hierfür bis heute keine evidenzbasierten Daten gibt, den Einsatz der (peripheren) Regionalanästhesie möglicherweise sicherer und effektiver machen. „Primum nil nocere“ heißt also nicht unbedingt, Patienten mit neurologischen Erkrankungen ein Regionalanästhesieverfahren vorzuenthalten. Es kann durchaus auch bedeuten, sich gerade bei diesen Patienten für die Regionalanästhesie zu entscheiden!

J. Büttner